Wolfgang Huste Polit- Blog

Wie geduldig darf Papier sein? Ein vergessener Bundestagsbeschluss gegen Rechtsextremismus

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Das Erschrecken war groß, als sich vor nunmehr sechs Wochen bestätigte: Rechtsextremisten schrecken nicht vor planvollem Mord und Totschlag zurück. Auch Politiker bekannten, sie hätten sich nie vorstellen können, welche Ausmaße rechtsextremistische Gewalt ausgerechnet in Deutschland erreicht hat. Könnten sie das wirklich nicht? Oder übte man sich nur im Verdrängen? Ende 2000, als Rechtsextremisten schon einmal das Land in tiefes Erschrecken getrieben hatten, gab es angeblich einen »Aufstand der Anständigen«. Paul Spiegel, damals Präsidenten des Zentralrats der Juden, sagte: »Wir dürfen bei der Bekämpfung von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht inne halten. Denn es geht nicht allein um uns Juden, um Türken, um Schwarze, um Obdachlose, um Schwule. Es geht um dieses Land, es geht um die Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem Land.« Danach beschloss der Bundestag detaillierte Maßnahmen »gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt«. René Heilig las im Protokoll. Der Vergleich mit der Realität dokumentiert vor allem Untätigkeit.
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Am 9. November 2000 probten die »Anständigen« den »Aufstand«. 200 000 Menschen versammelten sich in Berlin zu einer der größten Kundgebungen im vereinigten Deutschland und zeigten dem Rechtsradikalismus die rote Karte. Doch das Platzverbot wurde nicht konsequent durchgesetzt.
Foto: dpa/Stephanie Pillick

Freitag der 30. März 2001. Um 9 Uhr eröffnet Bundestagsvizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (FDP) die 162. Sitzung. Vorgelegt sind ein Antrag der Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und PDS. Er richtet sich »gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus«. Die CDU/CSU hielt unter dem Titel »Nachhaltige Bekämpfung von Extremismus und Gewalt« ein eigenes Papier dagegen. Nach knapper Aussprache wurde der erste Antrag beschlossen.

Man kann den Grund für die wahrlich ungewöhnlich parteiübergreifende Initiative im Antrag nachlesen: »Rechtsextremismus hat sich in Deutschland im Jahr 2000 erschreckend ausgebreitet. Nach amtlichen Erkenntnissen wurden allein von Januar bis September 2000 rund 10 000 rechtsextremistisch motivierte Straftaten registriert – so viele wie im gesamten Jahr 1999. In der Zeit von 1990 bis 2000 kamen nach Medienberichten 93 Menschen durch rechtsextremistische Gewalttaten ums Leben.«

2001 – 93 Tote. Gemordet durch Rechtsextremisten. Inzwischen ist die vorsichtig geführte Statistik bei 147 angelangt. Die Bundesregierung erkennt davon nur 48 an. Eine Neonazi-Terrorzelle tötete kaltblütig mindestens zehn Menschen, ohne dass die Sicherheitsbehörden ihr Einhalt geboten. Und noch immer drücken sich die Verantwortlichen um die Frage herum, wie das geschehen konnte.

Um diesen Weg ins Verhängnis zu blockieren, gab es in der Regierungszeit von Rot-Grün den Antrag mit der Registriernummer 14/5456, datiert mit dem 6. März 2001. Er ist acht eng beschriebene Seiten lang. Versprochen wird: Der Deutsche Bundestag wird alles daran setzen, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt wirksam zu bekämpfen. Der Beschluss berührt Migrationsfragen, das Asylrecht und Minderheitenschutz, er fordert mehr Engagement gegen Jugendarbeitslosigkeit, bestärkt freie Träger ebenso wie Sicherheitsbehörden beim Schutz von Demokratie und menschlicher Toleranz, richtet den Blick auf die NPD und verlangt eine bessere Bildung insbesondere zu Fragen der deutschen Geschichte.

Man wolle »Zivilcourage stärken und appelliert vor allem an die Städte und Gemeinden, sich für Gemeinsinn, ein solidarisches Zusammenleben aller Menschen und für Demokratie und Toleranz zu engagieren. Vorurteilen oder Ausschreitungen von Personen oder Personengruppen kann gerade vor Ort durch ein couragiertes Auftreten aller Bürgerinnen und Bürger besonders wirksam begegnet werden. Solches Handeln verdient öffentliche Unterstützung, auch seitens der staatlichen Ebenen.«

Das klingt nicht danach, als hätte das Parlament das Familienministerium – heute geleitet von Kristina Schröder (CDU) – beauftragt, engagierten antifaschistischen Organisationen Knüppel in den Weg zu leben. Der Bundestag, so heißt es weiter, stehe auf der Seite der Opfer von Straf- und Gewalttaten. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt kommt deshalb dem Opferschutz ein besonderer Stellenwert zu.«

Man liest im 2001er Protokoll auch, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, »in Zusammenarbeit mit den Ländern und Trägern der Jugendsozialarbeit zum Beispiel durch Modellprojekte dafür zu sorgen, dass insbesondere in Gebieten, in denen Rechtsextremisten so genannte >national befreite< oder >ausländerfreie< Zonen schaffen wollen und bei denen die Gefahr besteht, dass diese Bestrebungen erfolgreich sind, in der Jugendarbeit geschützte Räume geschaffen werden können, in denen sich demokratisch orientierte Jugendliche aufhalten können, ohne der Gefahr einer Bedrohung von Rechtsextremen ausgesetzt zu sein.« Ziel müsse sein, »in diesen Gebieten die volle Bewegungsfreiheit auch für Minderheiten oder Gegner der Rechtsextremen wieder herzustellen«. Geschehen ist nicht nur im Osten Deutschlands das Gegenteil. Kameradschaften nach Art des Thüringer Heimatschutzes sowie sogenannte Freie Kräfte erstarkten und rekrutierten - assistiert von Verfassungsschützern - junge Nachläufer. Aus denen dann - siehe Zwickauer Zelle - sogar terroristische Banden wurden. Die Bundesregierung wurde vom Parlament beauftragt, »den organisierten Rechtsextremismus und die so genannte >Neue Rechte< mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates zu bekämpfen«. Sie sollte auch prüfen, »ob und gegebenenfalls wie analog zur Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zur frühzeitigen Erkennung von Problemlagen und der Sensibilisierung der Öffentlichkeit die Einrichtung einer entsprechenden Beobachtungsstelle in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt werden kann«. Diese Einrichtung existiert noch immer nur als Forderung der PDS-Nachfolgepartei DIE LINKE. Zu lesen ist, dass »die Bekämpfung von Gewaltstraftaten ein Schwerpunkt der Strafverfolgung wird«. Der Bundestag bittet die insoweit zuständigen Länder, »dieses Anliegen zu unterstützen und hierzu Konzepte zu entwickeln, die im Rahmen des geltenden Rechts vermehrt Schwerpunktermittlungen und auch präventive Bestreifungen von bekannten Treffpunkten rechtsextremer Gewalttäter ermöglichen. Bei Gewaltstraftaten sollte eine möglichst zeitnahe Reaktion auf die Straftaten erfolgen.« Es scheint, als sei der Bundestagsbeschluss von Verfassungsschützern aus Bund und Ländern mit Vorsatz sabotiert worden. Die Abgeordneten forderten die Regierung auf, »im Deutschen Bundestag Bericht über die aktuellen und geplanten Maßnahmen und Aktivitäten der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt zu erstatten. Er ermuntert die Bundesregierung, ihren diesbezüglichen Einsatz zu verstetigen und wird sie dabei unterstützen.« Wie geduldig darf Papier sein? Die Linksfraktion im Bundesstag legte im November 2011 ein Fünf-Punkte-Programm zur Aufklärung des Versagens von Sicherheitsbehörden und Politik im Kampf gegen Rechts vor: 1. Aufklärung – grundlegend, substanziell, öffentlich, nachvollziehbar; 
2. Gegen weitere Aufrüstung der Sicherheitsdienste – weniger Geheimdienste, mehr Demokratie; 3. Sofortige Abschaltung aller V-Leute in der Naziszene; 4. Einrichtung einer unabhängigen Beobachtungsstelle gegen Rechtsextremismus; 5. Neue Strukturen Quelle: Neues Deutschland vom 24.12.11

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 30. Dezember 2011 um 17:17 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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