Der Kongreß »Marx is Muss« befaßt sich seit Donnerstag bis zum Sonntag in Berlin mit dem Thema: »Die Systemfrage stellen – welches Programm braucht Die Linke?« Auf dem Eröffnungspodium hielt der frühere Parteichef und heutige Vorsitzende der Linksfraktion im saarländischen Landtag, Oskar Lafontaine, eine Grundsatzrede, die wir basierend auf einer Tonaufzeichung auszugsweise dokumentieren.
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
ich bedanke mich herzlich für die Einladung. Ich begrüße natürlich auch unsere Gegner – ich weiß, daß einige hier sind und schon darauf lauern, uns wieder einen ’reinwürgen zu können. Besonders begrüße ich auch die Damen und Herren des Verfassungsschutzes – was wäre eine solche Veranstaltung ohne sie? Sie sind sicher auch gekommen, um zu sehen, ob jemand den Kommunismus wieder einführen will oder ob jemand Antisemitismus vertritt oder den Trotzkismus.
Also, wenn ich diese drei Reizvokabeln, die endlos gegen uns ins Feld geführt werden, schon genannt habe, will ich erst etwas zur Kommunismusdiskussion sagen. Die ist nirgendwo so beschränkt wie in der Bundesrepublik Deutschland. Ich sage das als jemand, der an der französischen Grenze wohnt und weiß, wie man in Frankreich über Kommunismus diskutiert. Dort wird der Kommunismus verbunden mit der Résistance. Das hat eine ganz andere Dimension und daher auch eine andere Diskussion zur Folge. Und ich war oft in Spanien, da wird der Kommunismus verbunden mit dem Bürgerkrieg. Da würde niemand auf die Idee kommen, eine solche Diskussion zu führen, wie wir sie hier führen. Oder in Italien, da ist der Kommunismus verbunden mit den Partisanen.
Und hier in Deutschland geht das Ganze ja nur, weil sofort die Klappe runterfällt – Kommunismus ist also Mauer, Stacheldraht und Stalin/Mao – das war’s dann. Nicht zuletzt auch, weil es ja gelungen ist, hier im Westen der Republik den kommunistischen Widerstand dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Das war ja ganz bewußt so, daß man die Männer und Frauen vergessen hat, die den Widerstand gegen den Faschismus geleistet und die ins KZ gegangen sind. ( …)
Wir haben als Schüler gelernt: Widerstand, das waren die Männer des 20. Juli. Nein, Widerstand, das waren zunächst mal viele Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer, Arbeiter, die also Widerstand geleistet haben gegen den Faschismus. Das ist eine Verfälschung der deutschen Geschichte gewesen, was wir als Jugendliche gelernt haben.
Zum Antisemitismus möchte ich nur feststellen – natürlich gibt es einen latenten Antisemitismus in der Bevölkerung. Jeder weiß das, quer durch alle Schichten der Bevölkerung. Wer etwas anderes glaubt, irrt sich oder nimmt Tatsachen nicht zur Kenntnis. Es gab ihn immer, es gibt ihn auch auf der Linken, und deshalb müssen wir wachsam bleiben. Aber daß in der Linken Antisemitismus nichts verloren hat, das muß nicht erst ausgesprochen werden, wenn man die Geschichte der Linken kennt. Ihr Antisemitismus anzudichten, ist doch das Beschränkteste, was man überhaupt tun kann. Ich möchte darauf hinweisen: Wenn eine Partei, die Globke und Filbinger als Mitglieder hatte, den Antisemitismus zum Vorwurf an die Linke umfunktioniert, dann ist das eine Dreistigkeit ohnegleichen.
Dasselbe gilt für die Partei Jürgen Möllemanns oder Eriche Mendes (beide FDP) oder für welche Partei auch immer. Also wenn irgendjemand Aufarbeitungsbedarf hat, dann sind es die Parteien, die nach dem Kriege so viele Nazis in ihren Reihen hatten, daß jetzt– Gott sei Dank – einzelne Fraktionen dazu übergegangen sind, die Landtage danach zu untersuchen, wieviele NSDAP-Mitglieder in den einzelnen Fraktionen nach dem Kriege waren.
Ist Gabriel ein verkappter Trotzkist?
Nun habt ihr mir ein Problem bereitet, jetzt bin ich nämlich bei den Trotzkisten gelandet, also muß ich mich wieder mit dem Trotzkismus beschäftigen. Das große Problem bei den »Ismen« ist, daß keiner bereit zu sagen, was er denn darunter versteht. Zunächst verbindet man mit dem Trotzkismus den Begriff »Entrismus«– gemeint sind damit Gruppen, die in Parteien eintreten, um dort Einfluß zu nehmen und in irgendeiner Form auf Programmatik und Politik dieser Partei einzuwirken. Ich selbst bin auch in Parteien eingetreten, um Einfluß zu nehmen, bin also ebenfalls, wenn man so will, des Trotzkismus verdächtig. Dann habe ich an den guten SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel gedacht, der hat jetzt die Reformer der Linken zum »Entrismus« in die SPD aufgerufen, der ist gewissermaßen auch ein verkappter Trotzkist. Um das ganze abzurunden: Da der Verfassungschutz sich ja nicht nur in der Mitgliedschaft der NPD herumtreibt, sondern sicherlich auch versucht, bei der Linken Fuß zu fassen, ist er eben auch eine trotzkistische Einheit.
Das nächste, was im Lexikon steht, ist dann die permanente Revolution, das hat mich ebenfalls in Schwierigkeiten gebracht, weil ich jetzt ja weiß, was in den arabischen Ländern los ist. Quer durch die Parteien wird diese Revolution unterstützt, beispielsweise durch Guido Westerwelle, der immer dort hinreist. Der wäre dann auch ein Trotzkist – das hat mich in Verwirrung gestürzt, weil ich nicht weiß, wie ich das alles jetzt behandeln soll.
Und dann kommt noch der »Sozialismus von unten«. Das kann man ja nun wirklich niemanden vorwerfen, denn wenn wir etwas nicht wollen, dann ist es der »Sozialismus von oben«. Das haben unsere Gegner dann richtig erkannt, daß wir tatsächlich keinen verordneten Sozialismus, von wem auch immer, wollen.
Dennoch möchte ich sagen, weil ich jetzt gerade bei Entrismus, Trotzkismus, Kommunismus, Sozialismus bin, daß ich eine Empfehlung geben möchte, damit komme ich dann zum Programm. Ich empfehle, daß wir als Linke lernen, Fremdwörter zu übersetzen. Denn das macht uns angreifbar, wenn immer wieder Fremdwörter in der Debatte sind; wenn man sie nicht übersetzt, dann kann mit diesen Wörtern geschrieben werden, was man will. Und das große Problem der deutschen Debatte ist ja, daß zu viele Fremdwörter benutzt werden, und daß diejenigen, die sie gebrauchen – ob schreibende oder redende Zunft –, zu denkfaul sind, um sie zu definieren.
Ich habe gesagt, die Linke sei eine demokratische Erneuerungsbewegung – ich will das mal als Überschrift nehmen. Wenn man das sagt, muß man auch wissen, was man unter Demokratie versteht. Kennt Ihr irgendein Programm, in dem das steht? Guckt mal die Programme der anderen Parteien an! Ich habe dort noch nichts gefunden, und deswegen möchte ich die klassische Definition vortragen, weil sie unser Programm bündelt. Wir, Die Linke, verstehen unter Demokratie eine Gesellschaftsordnung, in der sich die Interessen der Mehrheiten durchsetzen. Das ist eine ganz einfache Definition, aber sie hat es in sich. Sie definiert nämlich Demokratie vom Ergebnis her, nicht vom Formalen her.
Wir sind in Deutschland leider gewohnt, Demokratie vom Formalen her zu definieren – also, daß wir dann und dann zur Wahl gehen und was weiß ich. Nein, sie muß vom Ergebnis her definiert werden. In einer Gesellschaft, in der die Reallöhne seit Jahren fallen, in der die Renten seit Jahren fallen, in der soziale Leistungen seit Jahren gekürzt werden, dort herrscht keine Demokratie nach unserer Definition, weil sie vom Ergebnis her zu definieren ist und nicht nur vom Formalen.
Noch ein »Ismus« bitte
Es gab denselben Zirkus, als über Terrorismus diskutiert worden ist. Ist ja hochaktuell. Ich habe in Bundestagsdebatten immer gesagt; : »Ach noch ein Ismus, bitte, Frau Bundeskanzlerin, sie bekämpfen den Terrorismus – erklären sie uns bitte mal, was das ist.« Zwei Jahre lang habe ich diese Frage gestellt, keine Antwort – weil die Regierung nicht in der Lage dazu war, bis zum heutigen Tage. Aber ein Beamter hat die Frage beantwortet: Er hat nämlich ins Gesetz geschrieben »Terrorismus ist die rechtswidrige Anwendung von Gewalt, um politische Belange durchzusetzen. So haben Sie es im Bundestag vorgetragen, das haben wir alle beschlossen«, habe ich gesagt. »Also haben wir jetzt beschlossen: Bush und Blair und viele andere sind Terroristen. Ist ja wunderbar, daß Ihr zu dieser Einsicht gekommen seid.« Es ist keiner aufgestanden, weder die CDU noch die FDP – keine Empörung, denn sie konnten gegen die Macht der Worte in diesem Moment gar nichts sagen.
So, und nun kommen wir zu dem linken Programm, das ja antikapitalistisch sein muß, das muß man jetzt noch mal übersetzen: Wir finden uns nicht ab mit einer Wirtschaftsordnung, in der man dadurch reich wird, daß man andere für sich arbeiten läßt. Das ist zunächst mal eine wunderbare Beschreibung des Kapitalismus, und wir sind der Meinung, daß man die Kernfrage jeder Gesellschaft diskutieren muß: Was gehört aus welchen Gründen wem?
Diese Frage findet sich nicht in den Programmen anderer Parteien. Aber man muß sie beantworten, man muß sie zumindest mal stellen. Da kann man anknüpfen bei der liberalen Gesellschaftstheorie, die einmal zu der Erkenntnis kam: Eigentum entsteht durch Arbeit. Dann hat jemand mal vorgeschlagen, das Wort Eigentum zu streichen und abzulösen durch »Selbsterarbeitetes«. Wir wollen also, daß das »Selbsterarbeitete« in der Gesellschaft denen zukommt, die es selbst erarbeitet haben. Mit anderen Worten, wir finden eine Gesellschaft ungerecht, in der diejenigen, die etwas erarbeiten, mit der Tatsache konfrontiert sind, daß man vieles von dem, was sie sich erarbeitet haben, wegnimmt und irgendwelchen Leuten zuweist, die überhaupt keinen Finger krümmen. Eine solche Gesellschaftsordnung finden wir, Die Linke, als ungerecht. Und die wollen wir ändern.
Und deshalb ist nicht nur im Zentrum unseres Programms die Frage zu behandeln: Was ist eigentlich Eigentum? Wenn wir sagen, daß Eigentum durch Arbeit entsteht, dann ist das klassische liberale Tradition. Was aber ist Arbeit? Auch da gibt es ja die unterschiedlichsten Antworten. Und ich glaube, daß wir hier, gerade auf diesem Kongreß, Veranlassung haben, noch einmal an die Anfangsdiskussion innerhalb der Linken, der europäischen Linken zurückzukehren.
Arbeit ist nach Marx Stoffwechsel mit der Natur. In seiner berühmten Kritik des Gothaer Programms hat er darauf hingewiesen, daß es nicht zulässig für die Linke ist zu sagen: Aller Reichtum entsteht aus der Arbeit. Und er hat darauf hingewiesen, daß man sagen muß: Aller Reichtum entsteht auch aus der Natur. Mit anderen Worten: Ein Arbeitsbegriff, der sich verselbständigt und die Tatsache ausklammert, daß Arbeit immer Stoffwechsel mit der Natur ist, führt zu falschen Schlußfolgerungen.
Deshalb würde ich Euch gerne vorschlagen, auf die Kritik des Gothaer Programms von Marx zurückzukommen. Darauf, daß in dem Ursprung der Arbeiterbewegung der Gedanke des Naturschutzes oder der Auseinandersetzung mit der Natur am Anfang stand und daß wir aus unserem Arbeitsbegriff heraus eine andere Herangehensweise an das Thema des Umweltschutzes haben müssen, als beispielsweise die Partei der Grünen, die für mich eine gewaltige Mogelpackung ist. Das sind für mich nämlich in Wirklichkeit keine Umweltschützer. Ich will nur einen Beweis geben: Wer die Umwelt schützen will, der muß zuerst mal lernen, die Menschen zu schützen, das menschliche Leben zu schützen. Und wer Kriege mit uranverseuchten Streubomben befürwortet, kann niemals Umweltschützer sein. (…)
Quelle: marxismuss2011.wordpress.com und www.jungewelt.de vom 04.06.11
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