„Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden. Wir sollten unsere Intelligenz und Phantasie nicht länger mit der Frage verschwenden, wie wir ihn wieder jung, gesund und produktiv machen können.“
Vorwort
Wer möchte eigentlich noch im Kapitalismus leben? Wenn wir aktuellen Umfragen glauben, allenfalls noch eine Minderheit. So gaben bei einer repräsentativen Erhebung des Meinungsforschungsinstituts emnid vom August 2010 88 Prozent der Bundesbürger an, dass sie sich eine »neue Wirtschaftsordnung« wünschen, da der Kapitalismus weder für »sozialen Ausgleich in der Gesellschaft« noch für den »Schutz der Umwelt« oder einen »sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen« sorge. In die gleiche Richtung weist eine Umfrage der Uni Jena vom Herbst 2010, nach der 45 Prozent aller Befragten und 52 Prozent aller unter Dreißigjährigen die Aussage unterstützen: »Der Kapitalismus richtet die Welt zugrunde.«
Tatsächlich gibt es für viele Menschen heute immer weniger Grund, das bestehende Wirtschaftsmodell für attraktiv oder auch nur für annehmbar zu halten. Kein Arbeitsplatz ist mehr sicher, nicht einmal im Wirtschaftsboom, seit es als normal angesehen wird, dass Firmen auch bei bester Gewinnlage tausende Stellen streichen und die Dividenden im Gleichschritt mit der Zahl der Leiharbeiter steigen. Der Unterschied zwischen Aufschwung und Krise reduziert sich heute für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung auf den Wechsel zwischen Hartz-IV-Aufstockerleistungen und Hartz IV pur. Noch nie gab es in Deutschland so viele Millionäre und noch nie so viele Tafeln und Suppenküchen, vor denen sich in immer größerer Zahl die Ausgestoßenen und Fallengelassenen drängen. Darunter viele Kinder, denen diese Gesellschaft keine Chance geben wird. Noch nie war der Reichtum weniger so groß, aber auch noch nie die Zukunftsangst und Unsicherheit vieler.
Der heutige Kapitalismus lässt nicht allein Oben und Unten in einer Weise auseinander klaffen, die jeden Menschen mit normal entwickeltem Sozialgefühl entsetzen muss. Er zerstört – systematisch, hartnäckig und brutal – auch die Mitte der Gesellschaft. Das reguläre Normalarbeitsverhältnis, das Planungssicherheit und Perspektive gibt, existiert für junge Leute, die heute ins Arbeitsleben einsteigen, fast nicht mehr. Über die Hälfte aller neuen Jobs sind befristet, immer mehr werden so jämmerlich bezahlt, dass man von ihnen nicht leben kann. Wer ein kleines Unternehmen gründet oder führt, wird immer öfter vom Kreditgeiz der Banken in die Pleite getrieben. Egal, ob die Geschäftsidee ihn hätte tragen können oder nicht.
Vergessen sind die Ansprüche, mit denen die bundesdeutsche Gesellschaft einst – nach den schlimmen Erfahrungen von Weltwirtschaftskrise, Nazidiktatur und Krieg – in die Nachkriegszeit gestartet ist. »Wohlstand für alle« war das große Versprechen Ludwig Erhards und der sozialen Marktwirtschaft. Jeder Mensch sollte sein Leben mit annähernd gleichen Chancen beginnen und bei Krankheit und im Alter sozial abgesichert sein. Das privatwirtschaftliche Eigentum sollte, durch Markt und Wettbewerb gelenkt und durch den Sozialstaat gezähmt, Wachstum und steigende Produktivität garantieren sowie eine anpassungsfähige, am realen Bedarf ausgerichtete Wirtschaft. Nie wieder sollte Wirtschaftsmacht so groß werden, dass sie Märkte beherrschen und die Fundamente der Demokratie untergraben kann.
Nichts davon ist übrig. Die Sozialsysteme wurden unter dem Druck mächtiger Wirtschaftslobbys politisch zerschlagen. Gute Versorgung bei Krankheit muss man sich in der Zwei-Klassen-Medizin leisten können. Und auch ein sorgenfreier Lebensabend ist nur noch für den gesichert, der reich genug ist, privat Vermögen anzusparen. Aber der Kapitalismus versagt nicht nur sozial. Er versagt vor allem vor seinen eigenen Ansprüchen. Im realen Wirtschaftsleben sind alle positiven Ideen der Marktwirtschaft tot. Wo gibt es denn noch wirklich offene Märkte und echten Wettbewerb? Stattdessen haben mächtige Global Player sich Märkte und die Politik unterworfen, diktieren ihren Lieferanten die Konditionen und scheren sich kaum noch um die Zufriedenheit ihrer Kunden.
Keine Branche ist in den vergangenen Jahrzehnten weltweit so stark gewachsen wie der Finanzsektor. Aber statt sich um die Kreditversorgung der Wirtschaft zu kümmern, spielen die Zockerbanken mit dem Wohlstand von Millionen Menschen russisches Roulette. Sie tun das ganz unbekümmert, weil sie wissen, dass sie weich fallen werden, wenn es einmal wieder schiefgeht, so wie sie im letzten Crash weich gefallen sind. Die Rechnung dafür wird noch auf Jahre der Normalbürger zahlen, während die Bankster längst die nächste Partie im globalen Casino eröffnet haben. Krude Finanzpapiere, Staatsanleihen, Öl und Mais – alles taugt als Spielgeld für ihre Risikowetten. Die großen Versprechen der Politik zu Beginn der Finanzkrise: vergessen und verdrängt! Alle neuen Regeln: weichgespült von der Finanzlobby bis zur Wirkungslosigkeit. Unverdrossen wird weitergezockt, weitergewettet, weitergetanzt auf dem verdächtig grollenden Finanzvulkan, von dem jeder weiß, dass er irgendwann wieder ausbrechen und das wirtschaftliche Leben mit seiner giftigen Lava ersticken wird.
Aber nicht nur die großen Banken sind ein mahnendes Beispiel wirtschaftlicher Agonie. Auch viele große Konzerne folgen heute einer investitions- und kundenfeindlichen Firmenphilosophie. Anstelle überlegener Qualität werden Größe und Marktmacht angestrebt, statt zu investieren Unternehmensmonopoly gespielt. Die Rendite steigt, indem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kleingespart wird. Mit sicheren Arbeitsplätzen verschwinden auch Fachwissen, Professionalität und Service. Gelder, die das Unternehmen für Forschung und Entwicklung bräuchte, werden im Shareholder-Value-Wahn ausgeschüttet und verbraten. Warum auch Gewinne ansparen, wenn man sich Subventionen vom Staat holen kann: für Forschung und Investitionen oder auch für Kurzarbeit, wenn das wirtschaftliche Umfeld einmal trüber wird.
Der Kapitalismus ist unter diesen Bedingungen keine Wirtschaftsordnung mehr, die Produktivität, Kreativität, Innovation und technologischen Fortschritt befördert. Heute verlangsamt er Innovation, behindert Investitionen und blockiert den ökologisch dringend notwendigen Wandel. Er verschleudert wirtschaftliche Ressourcen und lenkt menschliche Kreativität und Erfindungsgabe auf die unsinnigsten Betätigungen im Finanzbereich, die gleichwohl am höchsten bezahlt werden.
Persönliche Haftung, das Grundprinzip einer funktionierenden Wirtschaft, ist weiträumig außer Kraft gesetzt. Eine reiche Minderheit hat den Nutzen, den Schaden tragen die anderen. Wenn private Vermögen in einem Krisenjahr wie 2009 schneller wachsen als je, während Millionen Beschäftigte Lohneinbußen hinnehmen und Kommunen unter der Schuldenlast verzweifeln, ist nicht nur etwas, sondern sehr viel faul im Staate.
Der Klimawandel drängt, aber außer pompösen Konferenzen mit vagen Versprechungen passiert wenig. Statt die Umstellung auf erneuerbare Energien voranzutreiben, steuert die deutsche Regierung beherzt in die Atomsackgasse zurück. Ebenso unverdrossen werden neue Autos mit altem Antrieb produziert und in alle Welt verkauft. Steuern zu zahlen ist inzwischen zu einem »Privileg« von Normal- und Geringverdienern geworden. Die Vermögenden und die Konzerne haben sich aus der Finanzierung der Gemeinwesen verabschiedet. Entsprechend unfähig wurde die öffentliche Hand, ihre elementaren Aufgaben zu erfüllen. Das Bildungssystem, das die Basis unseres künftigen Wohlstands sein sollte, ist krank und chronisch unterfinanziert. Die Zahl derer, die die Schule verlassen, ohne je richtig lesen und schreiben gelernt zu haben, und die bei Goethes »Faust« eher an die geballte Rechte eines Boxers denken, wächst. Dazu passt, dass Theater, Bibliotheken und Schulen zu den ersten Sparopfern finanziell ausgepowerter Gemeinden gehören.
Der Privatisierungs- und Liberalisierungsirrsinn hat die Grundversorgung deutlich verschlechtert und teilweise außer Kraft gesetzt. Private-Equity-Haie kaufen Wohnungen und lassen anschließend die Häuser verrotten. Die auf Rendite getrimmte Bahn wartet Gleise und Züge so schlampig, dass bei den geringsten Witterungsunbilden ein Verkehrschaos droht. Bei der zum Bahnkonzern gehörenden S-Bahn der deutschen Hauptstadt ist Chaos seit zwei Jahren der Normalzustand, und daran wird sich so bald auch nichts ändern. Der Weg zum nächsten Postamt ist lang geworden, seit es kein Amt mehr ist. Überlastete und mies bezahlte Zusteller haben keine Zeit mehr, größere Pakete auch in die dritte Etage zu tragen.
Die weltwirtschaftliche Krise schleppt sich hin. Unbewältigt. Ungelöst. Die Regierungen haben kein Konzept außer dem, mit sehr viel Geld Zeit zu kaufen. Zeit wurde gekauft, als die Staaten den Banken für Billionen Euro und Dollar Giftpapiere und faule Kredite abgenommen haben, deren finanzielle Lasten ihnen heute wie Mühlsteine am Hals hängen. Zeit wurde gekauft, als die Wirtschaft mit kreditfinanzierten Antikrisen-Programmen gefüttert, aber an dem wichtigsten den Binnenmarkt strangulierenden Problem – der Einkommenskonzentration bei den Reichen – nicht gerüttelt wurde. Zeit wird gekauft, wenn in der Eurozone die wirtschaftlich stärkeren Staaten für die Schulden der schwächeren bürgen.
Aber die Zahl der Staaten, die die Politik der letzten Jahre an den Rand des Staatsbankrotts bringt, wächst. Auch die USA oder Deutschland sind heute so hoch verschuldet, dass ihre Zahlungsfähigkeit allein auf der Möglichkeit beruht, immer neue Schulden aufzunehmen. Würde der Kreditstrom versiegen, gingen auch hier die Lichter aus. Die aktuellen Sparprogramme bringen keine Besserung, sondern verschlimmern die Situation, indem sie die wirtschaftliche Erholung im Keim ersticken.
Die Regierenden haben keine Ideen mehr, ebenso wenig wie die Ex-Regierenden, die heute mühsam Opposition spielen, obwohl sie sich mit der Regierung in allen wesentlichen Fragen einig sind. Wie oft in niedergehenden Systemen besteht der letzte Ausweg überforderter Politiker in clownesker Realitätsverweigerung. So wird in Deutschland die Vernichtung von Millionen regulären Arbeitsplätzen und ihre Ersetzung durch immer mehr Billigjobs perfide als »Jobwunder« gefeiert. Wenn die deutsche Wirtschaft im Jahr 2010 die Wirtschaftsleistung des Jahres 2007 knapp wieder erreicht, wird das zu einem der »größten Wirtschaftsaufschwünge in der Geschichte der Bundesrepublik« hochgelobt.
Soll es so wirklich immer weitergehen? Wo jede Lebensregung sich rechnen muss, bleiben Freiheit und Menschenwürde auf der Strecke. Demokratie stirbt, wenn Banken und Wirtschaftskonzerne ganze Staaten erpressen und sich die Politik kaufen können, die ihnen nützt. Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden. Wir sollten unsere Intelligenz und Phantasie nicht länger mit der Frage verschwenden, wie wir ihn wieder jung, gesund und produktiv machen können. Viel dringender ist eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir eine Zukunft jenseits des Kapitalismus gestalten können. Das klingt provokativ, ist auch so gemeint, ist aber zugleich eine Einladung zum Dialog zwischen echten, nämlich auch geistig liberalen Marktwirtschaftlern auf der einen und ebensolchen Sozialisten und Marxisten auf der anderen Seite. Nach meinem Buch zur Finanzkrise (»Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft«, Berlin 2008) habe ich etliche positive Erfahrungen in der Diskussion mit solchen offenen und fairen Marktwirtschaftlern gemacht, mit einigen prominenten Professoren und Journalisten. Mit diesem Buch nun will ich die Diskussionsbasis verbreitern.
Ich weiß, für viele Pseudokonservative und Pseudoliberale bin ich der Gottseibeiuns, die finstere Kommunistin, die zurück will in die alte DDR. Ich habe auch deshalb zunehmend gespürt: Es wird Zeit, einen positiven Gegenentwurf zu schreiben, zumindest diesen Entwurf zu beginnen. Es wird Zeit, den typischen FDPlern, die von Ökonomie nicht mehr verstehen als die auswendig gelernten Sprüche aus ihren eigenen Wahlwerbungsprospekten, entgegenzuhalten, wie Marktwirtschaft tatsächlich funktioniert. Und es wird Zeit zu zeigen, wie man, wenn man die originären marktwirtschaftlichen Ideen zu Ende denkt, direkt in den Sozialismus gelangt, einen Sozialismus, der nicht Zentralismus, sondern Leistung und Wettbewerb hochhält.
»Wir müssen es schaffen, die philosophischen Grundlagen einer freien Gesellschaft erneut zu einer spannenden intellektuellen Angelegenheit zu machen, und wir müssen ihre Verwirklichung als Aufgabe benennen, von der sich die fähigsten und kreativsten Köpfe herausgefordert fühlen. Wenn wir diesen Glauben an die Macht der Ideen zurückgewinnen, der die Stärke des Liberalismus in seinen besten Zeiten war, dann ist der Kampf nicht verloren.« Diese Aufgabe, die der liberale österreichische Ökonom Friedrich von Hayek 1949 seinen Anhängern ins Stammbuch schrieb, hat nichts an Aktualität verloren. Allerdings kommt ihre Lösung heute nicht mehr dem falschen Liberalismus, sondern einem kreativen Sozialismus zu.
Sahra Wagenknecht, März 2011
Quelle: Wochenzeitung „Der Freitag“ vom 07.06.11
« Diskriminierung weiter möglich. Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Euratom abschalten. Deutschland muß sein Engagement bei der Europäischen Atomgemeinschaft beenden. Das wäre ein Signal, daß der AKW-Ausstieg unumkehrbar und international wirksam wird. Von Alexander Ulrich »
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