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Schande für Deutschland. Zentrale Gedenkveranstaltung für die Opfer rechten Terrors in Berlin. Merkel kündigt Aufklärung der Morde an und bittet Angehörige um Verzeihung. Von Sebastian Carlens

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In einer Rede auf der zentralen Gedenkveranstaltung für die zehn Opfer der rechten Mordserie in Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag rückhaltlose Aufklärung der Taten des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) versprochen: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären, die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen«, sagte sie im Berliner Konzerthaus. Die zahlreichen Ermittlungspannen der Behörden im Umgang mit den rassistisch motivierten Verbrechen begründete Merkel mit dem Fehlen typischer Verhaltensmuster von Terroristen. »Einige Angehörige standen jahrelang selbst zu Unrecht unter Verdacht. (…) Dafür bitte ich sie um Verzeihung«, sagte Merkel. Anläßlich des Gedenkens hatten die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und Deutscher Gewerkschaftsbund für 12.00 Uhr zu einer Schweigeminute für die Opfer aufgerufen. An den Bundesbehörden in Berlin und Bonn wurde Trauerbeflaggung angeordnet. Auch in den Ländern fanden Gedenkveranstaltungen statt.

Die Bundeskanzlerin hielt ihre Rede in Vertretung des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Mehr als 1200 Gäste, darunter auch Angehörige der Opfer, waren eingeladen; nicht alle Familien der Ermordeten nahmen allerdings an der Veranstaltung teil. Die Ombudsfrau Barbara John, die im Auftrag der Bundesregierung die Hinterbliebenen der Opfer betreut, sagte gegenüber jW, daß zu Angehörigen aller neun getöteten Migranten Kontakt aufgenommen werden konnte. Lediglich zu den Eltern des in Rostock ermordeten Yunus Turgut, die in der Türkei lebten, habe sie keine Verbindung. Einzelne Angehörige hätten jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht dem Staatsakt beiwohnen wollen.

Neben Merkel sprachen Ismail Yozgat sowie Semiya imek und Gamze Kubak, Töchter zweier Ermordeter (die Rede von Semiya imek dokumentiert jW unten). Ismail Yozgat lehnte eine Abfindung seiner Familie seitens des Staates ab. »Wir möchten keine finan­zielle Entschädigung, wir möchten seelischen Beistand«, sagte Yozgat während seiner Rede im Berliner Konzerthaus. Sein Sohn Halit war am 6. April 2006 im Alter von 21 Jahren in Kassel erschossen worden.

In persönlichen Worten drückte die Kanzlerin, die die Taten als »Schande für uns Land« bezeichnete, ihre Beklemmung über das Weltbild der NSU-Täter aus: »Etwas Menschenverachtenderes, Perfideres, Infameres – sofern es solche Steigerungsformen überhaupt gibt – habe ich in meiner Arbeit noch nicht gesehen«, sagte Merkel zum Bekennervideo der Terroristen. Zu den Gründen, die junge Menschen in die Arme von Neofaschisten treiben, äußerte sie: »Wir müssen uns eingestehen, daß manchmal gerade dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Abwanderung stark ist, oft auch die vertrauten Strukturen der Jugendarbeit verlorengehen, das Freizeitangebot schwindet – die Feinde unserer Demokratie das zu nutzen wissen.« Gleichzeitig lobte Merkel das Engagement vieler Bürger gegen rechts, die beispielsweise bei der Verhinderung des Neonaziaufmarsches in Dresden gezeigt hätten, daß Zivilcourage funktioniere.

Dies könnte man als harsche Kritik der Kanzlerin an der Politik ihrer eigenen Bundesregierung verstehen: Die strukturelle Verödung ganzer Landstriche, das Kaputtsparen einer funktionierenden Jugendbetreuung, die sozialen Verwerfungen, denen sich gerade die Menschen im Osten Deutschlands ausgesetzt sehen – sie sind das Ergebnis politischer Entscheidungen. Solange antifaschistisches Engagement für die Menschen, die sich den Neonazis – nicht zuletzt jedes Jahr aufs neue in Dresden – mutig entgegenstellen, häufig mit Kriminalisierung endet, solange Handydaten von Zehntausenden Demonstranten gegen rechts ausgespäht werden, solange Anklagen und Prozesse gegen »Rädelsführer« antifaschistischer Proteste erhoben werden, wird staatsbürgerliches Engagement gegen Neonazis kaum zu stärken sein. Die Bitte der Kanzlerin um Entschuldigung kann glaubhaft werden, wenn den Worten nun auch Taten folgen: Wenn der Verfassungsschutz, der ursächlich mit seinen V-Männern und Geldpaketen zum Erstarken der Neonaziszene beigetragen hat, aus der sich die Terrorgruppe NSU entwickelte, aufgelöst wird. Wenn sich die Bundesregierung von der geschichtsvergessenen Extremismusdoktrin verabschieden würde, die rechte Gewalt und linken Protest dagegen auf eine Stufe stellt. Und wenn, endlich, auch die Voraussetzungen für Gleichberechtigung aller hier lebenden Migranten geschaffen würden. Daran wird die Bundesregierung zu messen sein.

Quelle: www.jungewelt.de vom 24.02.12

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 24. Februar 2012 um 10:30 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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Ein Kommentar

  1. Die Erkenntnisse die mittlerweile zu Tage gefördert wurden, in ihrer Gesamtheit, lassen einem schon Übelkeit hochkommen. Dass sich die Lage für deutsche staatliche Strukturen (welche anscheinend Mitglieder die NSU angeleitet haben und seeeehr lange über die NSU Bescheid wussten) zuspitzt, ist unübersehbar.

    Außerdem wird man sicherlich die Frage stellen müssen, wenn Teile der deutschen Behörden eingeweiht waren und das über scheinbar sogar längere Zeit, wieso diese es nicht verhindert haben, dass Menschen getötet wurden, Menschen verletzt wurden, Bomben gezündet wurden, Raubüberfälle begangen wurden usw. – Die rechtliche Konsequenz aus diesem „Wegschauen“ dürfte jetzt schon feststehen, ich denke mal dass der Gesamtfall jetzt erst richtig ins Rollen kommt – und ob die drei Clowns der NSU die einzigen sind, ist noch eine ganz andere Frage.

    Tut mir leid, aber dies erinnert mich stark an Gladio-Netzwerke – dachte eigentlich diese Zeiten des staatlichen Terrors unter falscher Flagge (Strategie der Spannung) wären vorbei, es scheint leider nicht so zu sein.

    Comment: Sven P. – 15. September 2012 @ 04:04

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