„Was gesagt werden muß“ – 383 Worte kurz ist die Stellungnahme des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Günter Grass, in der er Israel wegen dessen Haltung im Atomkonflikt mit Iran und die deutschen Waffenexporte in die Krisenregion kritisiert. Sein Text erschien am Mittwoch in der Süddeutschen Zeitung, der New York Times, El Pais und La Repubblica. Das Prosagedicht, inhaltlich deckungsgleich mit Dutzenden Aufrufen der Friedensbewegung zu den bevorstehenden Ostermärschen, schlug ein wie eine Bombe. Binnen Stunden brach sich ein anschwellender Bocksgesang Bahn, der in massive Antisemitismusvorwürfe gipfelte.
Was hat Günter Grass Schlimmes geschrieben: Er warnt – in ausdrücklicher Verbundenheit mit dem Land Israel – vor einem israelischen Erstschlag, »der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte«. Er warnt Deutschland davor, mit der Lieferung eines weiteren U-Bootes nach Israel, »dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist«, »Zulieferer eines Verbrechens« zu werden. Er warnt, »die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden«. Und schließlich fordert Grass »eine ungehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz«.
Linke-Politiker Wolfgang Gehrcke sagte am Mittwoch, was gesagt werden muß: Günter Grass hat recht. Der Schriftsteller habe »den Mut auszusprechen, was weithin verschwiegen wurde«. Günter Grass beschäme »die deutsche Politik«. Diese sei, so Gehrcke, »weithin damit beschäftigt, die diplomatischen Folgen eines israelischen Angriffs auf den Iran zu kalkulieren, statt alles zu tun, um diesen Krieg zu verhindern und damit allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben, und letztlich auch uns zu helfen«. Ebenfalls Unterstützung erhielt Grass vom Präsidenten des deutschen PEN-Zentrums, Johano Strasser. Der warnte vor Waffenexporten an eine israelische Regierung, die den Anschein erwecke, ein Krieg gegen den Iran sei unausweichlich.
Ansonsten gab es für Grass Prügel. Der Publizist Henryk M. Broder beschimpfte den Schriftsteller im Springer-Blatt Die Welt als »Prototyp des gebildeten Antisemiten«. Von einem »unverantwortlichen« und »aggressiven Pamphlet der Agitation« sprach Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der offizielle Vertreter Israels in der BRD, Emmanuel Nahshon, schrieb auf der Homepage der Botschaft, es gehöre zur europäischen Tradition, »die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmords anzuklagen. Früher waren es christliche Kinder, deren Blut die Juden angeblich zur Herstellung der Mazzen verwendeten, heute ist es das iranische Volk, das der jüdische Staat angeblich auslöschen will.« Spiegel online schlagzeilte dazu Fatwa-gleich: »Israel verdammt Grass-Gedicht« und mokierte sich über den »lyrischen Erstschlag«. Die FR sorgte sich um den »Blechtrommler«. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe äußerte, er sei »über die Tonlage, über die Ausrichtung dieses Gedichtes entsetzt«. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles meinte, angesichts der Lage im Nahen Osten empfinde sie das Gedicht als »irritierend und unangemessen«.
Noch nicht eingeschaltet hatten sich bis jW-Redaktionsschluß am Mittwoch abend Bundespräsident Joachim Gauck und der UN-Sicherheitsrat.
Quelle: www.jungewelt.de vom 05.04.12
« Nichts unter Kontrolle. Zweifelhafte Meßmethoden, kaum Daten, extrem hohe Strahlenbelastung: Japans AKW-Ruine in Fukushima erweist sich weiter als tickende Zeitbombe. Von Wolfgang Pomrehn – »Noch nie so viele Kriege«. Berliner Friedensbewegung mobilisiert zum 30. Ostermarsch. Themen sind Waffenexporte und ein drohender Krieg gegen den Iran sowie Solidarität mit Mumia Abu-Jamal. Von Kerem Schamberger »
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Neo-Totalitarismus. Kesseltreiben gegen Günter Grass, Von Werner Pirker
Günter Grass hat das Unglaubliche gewagt. Er hat die israelische Politik gegenüber dem Iran einer scharfen Kritik unterzogen. In Gedichtform machte der Schriftsteller Israel den Vorwurf, »alles vernichtende Sprengköpfe« auf den Iran zu richten. »Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag«, schreibt er, »der das iranische Volks auslöschen könnte«.
Das Imperium der veröffentlichten Meinung schlug umgehend zurück. Als federführend erwies sich einmal mehr Henryk M. Broder, der in einem Beitrag für Die Welt Günter Grass als »Prototyp des intelligenten Antisemiten«, der immer schon »ein Problem« mit Juden gehabt habe, bezeichnete. Die vom Haßprediger der Nation wie selbstverständlich vorgenommene Gleichsetzung von Israel-Kritik und Antisemitismus findet sich auch in einer Stellungnahme auf der Homepage der israelischen Botschaft, in der das Grass-Gedicht in eine Traditionslinie mit christlichen Ritualmordvorwürfen an Juden gestellt wird. Mit der grob tatsachenwidrigen Behauptung seines Vorsitzenden Dieter Graumann, daß Grass die Tatsachen verdrehe, weil nämlich der Iran und nicht Israel den Frieden gefährde, machte der Zentralrat der Juden seinen Ruf, eine Außenstelle des zionistischen Staates in Deutschland zu sein, ein weiteres Mal alle Ehre.
Die Position »antideutscher« Knallköpfe, daß jede Kritik an Israel per se antisemitisch sei, wird mehr und mehr diskursbeherrschend. Daß Grass seine Israel-Kritik von einer proisraelischen Position aus vorträgt – er spricht von Israel als »dem Land, dem ich verbunden bin und bleiben will« – schützt ihn nicht vor dem Vorwurf, ein, wenn auch »intelligenter, Antisemit« zu sein. Da der jüdische Staat alle von ihm ausgehenden Aggressionshandlungen mit seinem Recht auf Selbstverteidigung begründet, wird jede Kritik daran als Infragestellung seines Existenzrechtes bewertet.
Die Heftigkeit der Reaktionen auf das die Gefahr eines Krieges beschwörende Grass-Gedicht zeigt, wie nahe der Krieg bereits herangerückt ist. Das Vorhaben der Wertegemeinschaft, einen Regimewechsel in Teheran zu erzwingen, duldet keinen Defätismus an der Heimatfront. Zum Kriegführen bedarf es auch eines intakten Feindbildes. »Das Land, das uns Sorgen bereitet, ist der Iran. Davon lenkt sein Gedicht ab«, machte CDU-Mann Rupert Polanz klar, daß sich deutsche Dichtkunst der deutschen Staatsräson unterzuordnen habe.
Die Hysterie um den Grass-Text zeigt aber auch, wie schlecht es um die Meinungsfreiheit bereits bestellt ist. Die synonyme Verwendung der Begriffe Antizionismus und Antisemitismus gilt längst als common sense. Günter Grass ist weit davon entfernt, ein Antizionist zu sein. Allein das Aussprechen der simplen Tatsache, daß die Atommacht Israel den Iran bedroht und nicht umgekehrt, gilt aber bereits als nicht mehr hinnehmbare Meinungsäußerung. Die neoliberale Hegemonie nimmt zunehmend totalitäre Züge an.
Quelle: http://www.jungewelt.de vom 05.04.12
Kommentar: Huste – 05. April 2012 @ 14:58
Auch geschlossene Kommentarfunktionen sagen sehr viel aus über die Angst der Meinungsbeamten in Deutschland. Warum auf BILD, wo ja bekanntlich sich „ganz Deutschland ob des irren Gedichtes schämt“ keine Kommentare geschrieben werden dürfen, sollte klar sein. Es würde sich heraus stellen, dass 80% der Leser „Antisemiten“ wären.
Grass Gedicht ist sicher kein Bravourstück der Literatur. Aber es ist ein Werk, dass mehr Lösungsansätze zur Konfliktlösung beinahltet, als die vielen UN Vermittlungsversuche und erst Recht, als deutsche Waffenexporte.
Wenn Kunst und Meinungen nicht mehr frei sein dürfen und eine Staatsdoktrin mehr wiegt, als die Redefreiheit; eine Freundschaft wie so vieles alternativlos ist, dann hat die Demokratie ein Problem! Sie ist dann nämlich keine mehr!
Nur wer den Frieden liebt und an gleichberechtigter Partnerschaft mit Israel interessiert ist, kann so ein Gedicht wie Grass schreiben. Alle anderen bellen oder keifen nur. Sei es die Achse des Bösen oder die Achse des Guten. Eh zwei Seiten der selben Medaille.
Ich sage Danke Günter Grass! Mögen Sie nicht gekennedyt oder gemöllemannt werden! Die Welt im schwarz-weiss Schleier des Henryk M. Broder gehüllt, wäre ein trauriger Ort!
Und noch ein Wort zum „SS-mann“ Grass. Der mann war 17! Höchst selten, dass in einer Spanne zwischen 17 und 83 keine Charakterbildung, kein objektiveres Denken, keine Revision der jugendlichen Einstellungen eintritt. Dazu müssen auch die Umstände bedacht werden. Ich halte das also für ein ganz schwaches Argument gegen Grass. Im Übrigen soll es auch Bundeskanzler, Industriekapitäne und Zeitungsverleger mit schwergewichtiger NS Vergangenheit gegeben haben. Und es soll auch Bundeskanzler geben, die bis zum 25. Lebensjahr ohne Not in der heute verbotenen Jugendorganisation FDJ gedient haben. Das sind meist Leute die „alternativlos“ dem Volk „Staatsdoktrinen“ anhängen…
Kommentar: Goeran – 05. April 2012 @ 16:13
Schön, dass Günter Grass eine Steilvorlage für jede Art von Satire geliefert hat:
Es wäre ja wirklich eine Ironie des Schicksals, wenn es den “Juden” (Israelis) gelänge, die ersten und letzten Arier dieser Welt (Iraner = “Arier”) mit Atombomben auszulöschen (oder umgekehrt: wenn die Iraner Hitler zu Ende führen würden).
Mein Gott, in was für einer primitiven Welt überall (mit Begriffen wie “Juden”, “Deutschen”, “Arier”, “Iraner”, etc.) muss ich denn überhaupt leben?
Schafft endlich alle Nationen und “Rassen” ab (sowie jegliches Denken, das mit Begriffen wie “Juden”, “Arier”, “Deutschen” etc. zu tun hat!).
Ich will endlich einmal in einer Welt leben ohne diesen jüdisch-christlich-muslimisch-kapitalistisch-kommunistischen Blödsinn und Schwachsinn überall!!!
Jede Religion (auch die jüdische als die älteste…) ist nicht Opfer, sondern Täter!!
Nehmt euch mal die Amazonas-Indianer (Pirahas) zum Vorbild: die kennen keine „Geschichte“, keine Mathematik und auch keine Ökonomie — und daher auch keine industriell organisierten Kriege und Genozide (etc.).
Diese Leute sind viel zivilisierter als alles, was ich mir anhören muss auf der (fast) ganzen Welt!
Kommentar: gunter – 06. April 2012 @ 22:24