Die Arbeit eines hessischen Verfassungsschützers für zwei verschiedene Ressort soll der Grund gewesen sein, warum 2006 nach dem Mord an dem 21jährigen Halit Yozgat in Kassel ein Informant aus der Neonaziszene nicht von der Polizei vernommen werden konnte. Dies berichtete am Dienstag die Frankfurter Rundschau unter Berufung auf das Innenministerium in Wiesbaden.
Der frühere hauptamtliche Verfassungsschützer Andreas Temme soll außer dem Neonazi in der rechten noch vier V-Leute in der Islamistenszene geführt haben. Um die letzteren Ermittlungen nicht zu gefährden, habe der frühere hessische Innenressortchef und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) 2006 gleich für alle fünf Quellen einen »Sperrvermerk« veranlaßt. Die damalige Anfrage habe sich ebenfalls auf alle V-Leute des kurzfristig unter Mordverdacht festgenommenen Beamten bezogen. Die Ermittlungen gegen Temme wurden auch nach der erneuten Prüfung durch die Bundesanwaltschaft im Jahr 2012 nicht wieder aufgenommen.
Temme war zur Tatzeit in Yozgats Internetcafé gewesen, wo auch der Mord geschah. Er hatte sich aber danach nicht als Zeuge bei der Polizei gemeldet. Angeblich wollte er am Tatort nur erotische Chatkontakte pflegen, von denen seine Frau nichts wissen durfte – er habe weder einen Schuß gehört noch die Leiche bemerkt, als er ging, behauptet er bis heute. Die Vernehmung des Informanten aus der Neonaziszene, mit dem Temme am selben Tag telefoniert hatte, war erst nach über fünf Jahren möglich, als sich der Schwerpunkt der Ermittlungen verlagert hatte. Die bundesweite Mordserie an neun Männern mit Migrationshintergrund, deren Schlußpunkt Yozgats Tod markierte, konnte inzwischen der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) zugeordnet werden. Außerdem soll die fragliche Quelle schon seit geraumer Zeit nicht mehr aktiv sein.
Kurz nachdem die mutmaßliche Kernzelle des NSU im November 2011 durch den Tod von zwei Mitgliedern aufflog, geriet Andreas Temme mit dem Spitznamen »Klein Adolf« in die Schlagzeilen. Den soll er sich durch eine zumindest früher stramm rechte Gesinnung eingehandelt haben.
Bild berichtete Ende vergangenen Jahres zudem, er habe als Geheimdienstler V-Leute auch bei den türkischen »Grauen Wölfen« geführt. Der hessische Verfassungsschutz wollte dies auf Nachfrage weder bestätigen noch dementieren. Von Bedeutung ist es vor dem Hintergrund, daß vor der Enttarnung der Neonaziterrorzelle türkischstämmige Informanten – auch aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« – versucht hatten, mit angeblichem Insiderwissen über die Mordserie zu dealen. Laut Spiegel erhofften sie sich Geld und Straferleichterungen; die Polizei wurde dadurch in einem falschen Ermittlungsansatz bestärkt. Nun stellt sich die Frage, ob dies Hochstapelei aus Eigeninitiative war – oder Teil einer Vertuschungsaktion, bei der hauptamtliche Verfassungsschützer die Finger im Spiel hatten. Die nötigen Kontakte könnten zumindest auch einzelne oder eine überschaubare Clique innerhalb des Geheimdienstes gehabt haben.
Rechtsextremismus und »Ausländerextremismus« sind in den Verfassungsschutzämtern getrennte Ressorts – rechtsgerichtete Organisationen, die im Ausland gegründet wurden, wie etwa die »Grauen Wölfe« oder islamische Fundamentalisten, fallen beim Inlandsgeheimdienst in die Kategorie »Ausländerextremismus«. So jedenfalls geht es aus den Verfassungsschutzberichten hervor. In der Praxis scheint es aber zumindest in Hessen üblich zu sein, daß V-Mann-Führer für beide Ressorts tätig sind. Nicht einmal diese allgemeine Information wollte das Landesamt für Verfassungsschutz Ende letzten Jahres auf Anfrage von junge Welt preisgeben.
Andreas Temme soll nach Medienberichten am 11. September vom Untersuchungsausschuß im Bundestag vernommen werden, Volker Bouffier am 28. September. Wie weit sie gewillt und befugt sind, zur Aufklärung beizutragen, bleibt abzuwarten.
Quelle: www.jungeelt.de vom 11.07.12
« Wer warnte den V-Mann? Spitzel Tino Brandt konnte sich Strafverfolgung entziehen – Erfurter Untersuchungsausschuß fördert Unglaubliches beim Landesverfassungsschutz zutage. Von Sebastian Carlens – Pressemitteilung 16/2012 der GRÜNEN JUGEND Rheinland-Pfalz »
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