Wolfgang Huste Polit- Blog

Ansonsten alles okay. Baden-Württembergs Innenminister will keinen NSU-Untersuchungsausschuß. Dafür hat er eine Himbeersahnetorte bekommen. Von Wolf Wetzel

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Obwohl sich Pannen, Falschaussagen, Unterschlagung von Beweismitteln, Anweisung zur Manipulation von Beweismitteln wie im Fall Günther Stengel vom Verfassungsschutz, Sabotage der Aufklärungsarbeit, willkürliche Zeugenbewertungen, vorgetäuschte Ahnungslosigkeit im Kontext der Terror- und Mordserie des NSU auch in Baden-Württemberg meterhoch auftürmen, wehrt sich die aktuelle rot-grüne Regierung mit Händen und Füßen gegen die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Warum hat ausgerechnet eine rot-grüne Landesregierung so viel Angst vor ein wenig Demokratie? Warum deckt eine rot-grüne Landesregierung das »Versagen« der Vorgängerregierung?

Zu einer Veranstaltung an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg am 7. Februar 2014 wurde auch der jetzige SPD-Innenminister Reinhold Gall als Podiumsteilnehmer eingeladen. Thema der Veranstaltung: »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer) von Buchenwald bis zu den NSU-Morden – oder: wie gehen wir mit Diskriminierung, Haß und Mord um?« Als Gall seine ersten Sätze zum Thema Erinnerungskultur formulierte, platzte ein Teilnehmer der Veranstaltung mit einer sehr gegenwartsbezogenen Frage dazwischen: »Wie wäre es mit einem NSU-Untersuchungsausschuß?« Der Innenminister kam nicht mehr dazu, die Antwort zu wiederholen, die er bereits mehrmals gegeben hatte: man brauche zur Aufklärung keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuß. Ein junger Mann bewarf Gall mit einer Himbeertorte. Der Getroffene blieb unverletzt. Vorläufig. Denn die Stuttgarter Zeitung weiß mehr – auch wenn offenbleibt, ob das Folgende im medizinischen oder im übertragenden Sinne gemeint ist: »Galls Gehörgang mußte gereinigt werden.« Und weiter: »Gall, der von mehreren Personenschützern begleitet wurde, ließ sich kurz nach dem Vorfall, ohne das Eintreffen der Polizei abzuwarten, in ein Krankenhaus zu einer medizinischen Untersuchung bringen. Er wurde bei dem Vorfall von der Torte an Ohr und Oberkörper getroffen. Nach Auskunft des Ludwigsburger Polizeisprechers Peter Widenhorn wurde Galls Gehörgang durch den Tortenwurf geschädigt und mußte in der Klinik gereinigt werden. Nach dem kurzen Klinikaufenthalt nahm er seine Arbeit im Ministerium wieder auf. Die Beeinträchtigung des Gehörs ist laut einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Heilbronn bereits im Verlauf des Freitags wieder abgeklungen.«

Auch wenn sich viele über diese sachfremde Verwendung einer Himbeersahnetorte freuen, muß man die Frage stellen: War das nötig? Kann man sich nicht anders Gehör verschaffen?

Die Antwort lautet: a) Ja und b) Nein.

Der Unterschied zwischen einer totalitären Ordnung und einer parlamentarisch verfaßten Demokratie wird gerne mit dem Recht auf (parlamentarische) Opposition beschrieben. Zu der schärfsten Waffe der Abgeordneten zählt die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Das ist – wie gesagt – das Recht einer jeden Opposition, um die Regierungsarbeit zu überprüfen. Dazu kann sie Zeugen laden, die bislang ungehört blieben und Akten heranziehen, die bis dato »unter Verschluß« blieben.

Daß CDU und FDP einen Untersuchungsausschuß verhindern wollen, ist naheliegend. Schließlich fällt die Nichtaufklärung des Mordanschlages auf zwei Polizisten in Heilbronn 2007 in ihre Regierungszeit, in ihre Verantwortung. Aber warum nutzt die seit 2011 regierende Landesregierung aus Grünen und SPD nicht die Chance, sich zu profilieren? Warum herrscht in Sachen Mordanschlag eine informelle Große Koalition? Warum deckt Rot-Grün ihre Vorgängerregierung – sogar mit Straftaten wie z.B. Falschaussagen?

Sich der Beantwortung dieser Fragen zu nähern, lohnt sich. Die bisherigen Recherchen belegen, daß die offizielle Version im Fall »Heilbronn 2007« die unwahrscheinlichste ist. Wenn anhand der vorliegenden Belege und Zeugenaussagen andere Täter infrage kommen, dann stellt sich die Frage, warum diese gedeckt werden? Würde es sich »nur« um andere Neonazis handeln, darf man wohlwollend davon ausgehen, daß man sie »fallen lassen« würde. Wenn diese noch lebenden Täter hingegen bezeugen würden, daß staatliche Behörden in den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn involviert waren, ob in Form der Unterlassung oder in Gestalt von anwesenden V-Leuten, dann versteht man, daß niemand an dieser Ermittlungsrichtung ein Interesse hat – weder die letzte, noch die aktuelle Landesregierung. Daß die rot-grüne Landesregierung dieser parlamentarischen Pflicht nicht nachkommt, kann nur einen nachvollziehbaren Grund haben: Sie befürchtet, daß sich die daraus ergebenden Konsequenzen nicht parteipolitisch begrenzen lassen. Sie würden und könnten den gemeinsamen institutionellen Kern treffen, auf den Regierung und (regierungswillige) Opposition parteiübergreifend zurückgreifen.

Man kann über die schärfste Waffe des Parlaments, die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses, verschiedener Meinung sein. Aber selbst diese bescheidene Möglichkeit nicht wahrzunehmen, ist Beihilfe zur Nicht-Aufklärung.

Es fehlt an der Bereitschaft, aus der Ohnmacht herauszutreten, an dem gemeinsamen Willen, die politisch Verantwortlichen nicht in Ruhe zu lassen, damit sie nicht länger twittern können, wie der Innenminister Gall: »Kaum zu glauben, daß eine einzige Torte das Ohr füllt, das Auge verklebt, die Haare verschmiert und den Anzug versaut. Ansonsten alles ok.«

»Wir wollen keine seichten Reden und keine Beschönigungen mehr«

Das Internetportal linksunten hat zur Himbeertortenattacke auf den baden-württembergischen Innenminister Reinhold Gall eine Stellungnahme der »Heilbronner Konditorei für konsequente Aufklärung« veröffentlicht:

Im Rahmen einer Anhörung des »Instituts für Antidiskriminierung und Diversityfragen« der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg wollte sich am 7. Februar 2014 auch der baden-württembergische Innenminister Reinhold Gall an einer Podiumsdiskussion zum Thema »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer) von Buchenwald bis zu den NSU-Morden – oder: wie gehen wir mit Diskriminierung, Haß und Mord um?« beteiligen. Als Herr Gall zu sprechen begann, haben wir dies verhindert, indem wir eine Torte im Gesicht des SPD-Politikers platzierten. Das Podiumsgespräch wurde dann ohne den Innenminister fortgesetzt.

Reinhold Gall hat sich im Zusammenhang mit den Morden des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) dadurch hervor getan, daß er die Aufklärung über das weitreichende Unterstützer-Netzwerk der Nazis be- und verhindert, wo es nur geht. Er ist mit dafür verantwortlich, daß dem Bundestagsuntersuchungsausschuß zum NSU Akten der Landesbehörden Baden-Württembergs nur verspätet und unvollständig geliefert wurden. Er hat auch zu verantworten, daß ein Untersuchungsausschuß in Baden-Württemberg durch die grün-rote Landesregierung blockiert wird, obwohl eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Gruppen und Akteure diesen seit Monaten fordern.

Die Mitgliedschaft von Polizisten im rassistischen Geheimbund »Ku-Klux-Klan« (KKK) hat Reinhold Gall als »Einzelfälle« verharmlost, und statt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema »Rassismus im Polizeiapparat« plant er eine Gesinnungsüberprüfung für angehende Lehrer und Polizisten, die ein Engagement in linken Organisationen mit der Mitgliedschaft in Naziparteien gleichsetzt.

Eine große Anzahl von Spuren führen vom NSU und seinem Umfeld direkt nach Baden-Württemberg. Wir sprechen hier nicht nur vom weiterhin ungeklärten Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im Jahr 2007 in Heilbronn, deren BFE-Kollegen (Beweis- und Festnahmeeinheit, jW) Mitglieder des »Ku-Klux-Klan« waren. Wir sprechen auch vom Gründer dieses KKK-Ablegers in Schwäbisch Hall, der V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden Württemberg war und der auf einer Liste von NSU-Unterstützern des sächsischen Verfassungsschutzes steht. Wir sprechen von einer Nazi-Clique in Ludwigsburg, bei der sich Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und weitere Personen aus deren Umfeld immer wieder aufgehalten haben und von deren Waffenarsenal das »Trio« in Briefen schwärmte.

Wir meinen auch die verschiedenen Unterlagen, die im Brandschutt der NSU-Mitglieder in Zwickau gefunden wurden, darunter Stadtpläne von Stuttgart, Ludwigsburg und Heilbronn. Wir sprechen auch von mehreren Führungspersonen des militanten Nazinetzwerks »Blood & Honour« wie z.B. Jan Werner und Andreas Graupner, die sich im Umfeld des »Trios« bewegten und die seit einigen Jahren in Baden-Württemberg leben. Und wir denken an den Tod von Florian Heilig, der als Aussteiger der rechten Szene zum Thema NSU beim LKA aussagen sollte und im September 2013 in seinem Auto in Stuttgart verbrannte. (…)

Auch wenn die Aktion gegen Reinhold Gall in Ludwigsburg heute nur ein kleiner und symbolischer Teil des notwendigen Widerstandes und Protestes sein kann, hoffen wir, ein deutliches Zeichen gesetzt zu haben: Wir wollen keine seichten Reden, keine Beschönigungen und keine diffusen Diskussionsbeiträge mehr! Wir fordern die schonungslose Aufklärung des NSU-Netzwerks in Baden-Württemberg! Wir fordern einen NSU-Untersuchungsausschuß in Baden-Württemberg! (…)

https://linksunten.indymedia.org/de/node/105603

Quelle: www.jungewelt.de vom 12.02.14
Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 12. Februar 2014 um 17:31 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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