Wolfgang Huste Polit- Blog

Kein Ende der Repression- Vor 120 Jahren, am 30. September 1890, endete das »Sozialistengesetz«. Von Alexander Bahar

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Dem »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« vom 21. Oktober 1878, einem Ausnahmegesetz zur Unterdrückung der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung, war eine geschickt inszenierte Kampagne des deutschen Reichskanzlers Fürst Otto von Bismarck vorausgegangen. Erklärtes Ziel des Gesetzes war die Zerschlagung der Parteiorganisation und der Gewerkschaften – verbunden mit dem Versuch, die Sozialdemokraten von der politischen Macht fernzuhalten.

Alarmiert durch den wachsenden Zulauf von Arbeitern zum reform­orientierten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV, Lassalleaner) und der marxistisch orientierten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), insbesondere infolge der Wirtschaftskrise von 1873, sann man in der Reichsführung seit längerem über eine Möglichkeit, die sozialistische Arbeiterbewegung in Deutschland zu zerschlagen. Als sich die beiden Organisationen 1875 auf einem gemeinsamen Parteitag in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) vereinigten und bei den Reichstagswahlen 1874 und 1877 deutlich wachsende Wahlerfolge erzielten, war für Bismarck das Faß übergelaufen.

Bismarcks politische Haltung war schon früh durch eine latente Revolu­tionsfurcht bestimmt, die seit den 1860er Jahren immer stärker wurde. Von der Sozialdemokratie befürchtete er eine unmittelbare revolutionäre Bedrohung der monarchisch-konservativen Ordnung Europas. Die ersten Versuche des Reichskanzlers zur Bekämpfung der Sozialdemokratie scheiterten noch am Widerstand des Reichstags.
Geächtete »Reichsfeinde«
Zwei fehlgeschlagene Attentate auf Kaiser Wilhelm I. lieferten dem deutschen Reichskanzler schließlich den gewünschten Anlaß, um die in der Arbeiterschaft zunehmend einflußreicher werdenden Sozialdemokraten mit einem rigiden Sondergesetz ganz offiziell als Reichsfeinde zu ächten. Wahrheitswidrig ließ Bismarck verbreiten, die SAPD stünde hinter den Attentaten.

Bereits acht Tage nach dem Attentat Max Hödels vom 11. Mai 1878 legte Bismarck ein Verbotsgesetz gegen die Sozialdemokratie vor, das vom Reichstag jedoch mit 251 gegen 57 Stimmen der Liberalen und des Zentrums abgelehnt wurde. Das Attentat des geistig verwirrten Dr. Karl Eduard Nobiling hingegen, bei dem WilhelmI. am 2. Juni 1878 schwer verwundet wurde, löste in Deutschland eine ungeheure Erregung aus. Von den konservativen und den offiziösen Zeitungen noch geschürt, verbreitete sich in den Mittel- und Oberklassen nun im ganzen Land die Sozialistenfurcht. Bismarck nutzte die Gunst der Stunde und löste kurzerhand den widerspenstigen Reichstag auf, um sich in Neuwahlen eine gefügige Parlamentsmehrheit zu verschaffen. Diese bescherten den Konservativen (Deutschkonservative und Reichspartei) einen deutlichen Stimmenzuwachs auf Kosten der Liberalen (Nationalliberale und Fortschritt).

Der neue Reichstag nahm am 18. Oktober 1878 mit den Stimmen der Konservativen, der Nationalliberalen und einiger Unabhängiger (insgesamt 221) gegen die Stimmen des Zentrums, des Fortschritts, der Sozialdemokratie und der Polen (insgesamt 149) das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« an. Als Konzession an die Nationalliberalen war die Gültigkeit des Gesetzes auf zweieinhalb Jahre beschränkt; bis 1890 ist es dann im Jahresturnus immer wieder verlängert worden.

Schon vor der Verabschiedung des Sozialistengesetzes war es zu Polizeimaßnahmen gegen die Sozialdemokraten gekommen. So waren die Parteiführer August Bebel und Wilhelm Liebknecht wegen ihrer Opposition gegen den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und ihrer Solidarität mit der revolutionären Pariser Kommune 1871 bereits 1872 beim Leipziger Hochverratsprozeß zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt worden.

Mit dem Sozialistengesetz wurde nicht die Partei als solche verboten, sondern ihre Unter- und Nebenorganisationen, alle »sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen« Vereinigungen, Versammlungen und Gewerkschaften. Verboten wurde weiterhin die gesamte Parteipresse. Sozialdemokratisch oder sozialistisch orientierte Politiker konnten lediglich als Einzelkandidaten in den Reichstag und in die Landtage gewählt werden. Mit Zustimmung des Bundesrats konnten die einzelnen Bundesstaaten in »gefährdeten« Bezirken zudem den »kleinen Belagerungszustand« verhängen: Hunderte Mitglieder der Arbeiterorganisationen und andere Verdächtige wurden auf dieser Grundlage verhaftet, verurteilt und in die Gefängnisse geworfen bzw. des Ortes verwiesen.

Gewissermaßen begleitend zur »Peitsche« des Sozialistengesetzes versuchte Bismarck, der sozialistischen Arbeiterbewegung mittels des »Zuckerbrots« der seinerzeit als fortschrittlich geltenden Sozialgesetzgebung den Boden zu entziehen, die Arbeiterschaft an den Staat zu binden und der Sozialdemokratie damit das Wasser abzugraben. Seinen beabsichtigten Zweck verfehlte das Sozialistengesetz dennoch völlig. Die Solidarität der Arbeiter und die Empörung über die Unterdrückung ihrer Organisationen führte vielmehr zum Anwachsen von Partei und Bewegung. Die verbotenen Parteiorganisationen wurden durch Arbeitersport-, Arbeitergesangs-, Schrebergarten- und Bildungsvereine sowie durch Freiwillige Hilfskassen zumindest teilweise ersetzt. Im Inland verbotene Druckschriften wurden im Ausland gedruckt, ins Deutsche Reich eingeschleust und durch die »Rote Feldpost« verteilt.
Aufschwung der SPD
Nach einem kleinen Rückgang bei den Reichstagswahlen 1881 auf 311961 Stimmen konnten die Sozialdemokraten ihre Wählerzahl unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes 1884 auf 549990, 1887 auf 763128 und 1890 auf 1,427 Millionen steigern. Noch vor ihrer Umbenennung in SPD wurde die Partei mit letzterem Ergebnis erstmals die wählerstärkste Partei im Reich.

Wegen ständiger Unruhen und angesichts des gewachsenen Einflusses der Sozialdemokratie sah sich der Reichstag schließlich gezwungen, das Sozialistengesetz aufzuheben. Am 25. Januar 1890 lehnte er die weitere Verlängerung des Gesetzes ab. Die Weigerung des Reichstags, die Sozialistengesetze ein weiteres Mal zu erneuern, sowie die Erfolge der SAP bei den Reichstagswahlen spielten eine entscheidende Rolle bei der Entlassung Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II., der 1888 den Thron bestiegen hatte. Schon damals war Bismarck mit einer Gesetzesvorlage gescheitert, welche die förmliche Ausbürgerung von Sozialdemokraten ermöglicht hätte. Das Ende des Sozialistengesetzes dämpfte freilich den Verfolgungseifer der Behörden nicht. Mit stetig wachsender Schärfe ging die Polizei in den Folgejahren auch an der nichtpreußischen Peripherie gegen die Arbeiterschaft und ihre Organisationen vor, bespitzelte, als Arbeiter verkleidet, Männergespräche in Arbeiterkneipen, fertigte Unmengen von »Vigilanzberichten« an und ging auch schon mal brutal und blutig gegen Streikende vor wie Mitte Januar 1906, als sie bei Demonstrationen gegen eine geplante Verschlechterung des Wahlrechts im Hamburger Hafenviertel »ein wahrhaftiges Säbelregiment« (so der Historiker Volker Berghahn) errichtete. Wiederholt dachten konservative Kräfte an eine erneute Verabschiedung antisozialistischer Spezialgesetze, scheiterten damit aber regelmäßig im Parlament (»Umsturzvorlage« 1894; »Zucht­hausvorlage 1898).

Doch die bestehenden Gesetze gaben der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten immer noch viele Möglichkeiten in die Hand, vor allem bei einer »schöpferischen« Auslegung nicht nur der einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuchs (StGB), sondern auch des Vereins- und Presserechts sowie der Gewerbe- und der Straßenverkehrsordnung. Schließlich gab es noch das Mittel der Schikane durch Verwaltungsvorschriften. Gleichzeitig kamen »von oben« immer nachdrücklichere Anweisungen, die Polizei möge von ihren Befugnissen und gar von ihren Waffen rücksichtslos Gebrauch machen – »… hinter dem schnell gezogenen Säbel oder der einäugigen Justitia stand als ultima ratio regum immer die Armee. Sie war nicht nur das Machtinstrument gegen die äußeren Feinde des Reiches auf dem Kontinent, sondern auch die entscheidende Waffe in einem Bürgerkrieg gegen die Arbeiterschaft und ihre Organisationen, den viele Offiziere kommen sahen.« (Berghahn) Noch vor 1914 erhielt die Generalität während mehrerer Streiks die Gelegenheit zum Truppeneinsatz. Beim Streik der Ruhrbergarbeiter im Frühjahr 1912 erfolgte nicht nur ein massiver Polizeieinsatz mit zusätzlich aus Berlin, Frankfurt/Main, Wiesbaden, Hannover, Kassel und Köln herangezogenen Einheiten, sondern auch die Entsendung von 5000 Soldaten einschließlich zweier Maschinengewehrabteilungen.

Dem Anwachsen der sozialistischen Arbeiterbewegung taten diese antidemokratischen Repressalien keinen Abbruch. War die Sozialdemokratie noch 1891 nicht viel über die Mitgliederzahl der Jahre vor ihrem Verbot von 1878 hinausgewachsen, gab es kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs schon über eine Million eingeschriebene Mitglieder. Noch rasanter verlief das Wachstum der sozialistischen freien Gewerkschaften von 50000 (1890) über 278000 (1891), 680000 (1900) auf 2,5 Millionen Mitglieder im Jahr 1913. Schon 1890 hatten sie sich zur Dachorganisation »Generalkommission der Freien Gewerkschaften Deutschlands« zusammengeschlossen. Unter der Führung Carl Legiens wurde die Generalkommission zur stärksten Gewerkschaftsorganisation in Europa vor 1914.

Quelle: www.jungewelt.de vom 25./26. 09.10

Dieser Beitrag wurde am Samstag, 25. September 2010 um 02:04 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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