Wolfgang Huste Polit- Blog

Es ist an der Zeit, dass die Linken auf die Straße gehen. Interview mit Sevim Dagdelen, erschienen in der bulgarischen Zeitung „Duma“ am 28.10.2010. Von Lilija Tomowa

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Sevim Dagdelen ist 1975 in Duisburg (Bundesland Nordrhein-Westfalen) in einer Familie türkischer Gastarbeiter geboren, die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Deutschland übergesiedelt sind. Bereits mit 15 Jahren hat sie zu arbeiten begonnen. Schon damals habe sie gesehen, dass die Reichtümer ungerecht verteilt werden und die Arbeiter nicht einmal ein Zehntel dessen erhalten, was ihnen für ihre Arbeit zustehe, sagt die junge Frau heute. Sie hat Jura studiert, und in die deutsche Linke haben sie ihr kämpferischer Geist und der Antiimperialismus sowie ihr Wunsch geführt, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. So hat ihre politische Laufbahn begonnen. Sie ist Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE.

Sevim, herzlich willkommen in Bulgarien und auf unserer von der Busludsha- und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Konferenz zum Thema „Die Linke heute“. Die erste Frage lautet, was bedeutet es heutzutage, links zu sein?

Links zu sein, heißt heute, und eigentlich war das auch gestern schon so und wird morgen so sein, über das Eigentum, über die Entscheidungen der Herrschenden und über das Verhältnis zu reden, das wir, also die Menschen, jeder Obrigkeit gegenüber haben. Wir müssen sowohl uns selbst als auch den Menschen ständig die Frage stellen, ob der Kapitalismus das Ende der Geschichte ist. Zumal viele Menschen in Europa und in der ganzen Welt bereits davon überzeugt sind, dass der Kapitalismus als Gesellschaftsordnung ausgedient hat. Eine Studie von BBC vom Ende des vergangenen Jahres, die den Lesern der Zeitung „Duma“ sicher bekannt ist, verweist ebenfalls darauf, dass die kapitalistische Ordnung gescheitert ist. Wir brauchen eine neue Gesellschaft, eine neue Ordnung, und die Aufgabe der Linken ist es, selbst auf die Straße zu gehen und eine Diskussion über die Ideologien zu organisieren. Und wir müssen unbedingt vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts reden. Denn 88 % der Menschen haben, wie eine andere Umfrage in Deutschland ergeben hat, das Scheitern des Kapitalismus erkannt. Und sie müssen wir für den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung gewinnen, die nicht die „Logik des Gewinnstrebens“ in sich trägt, sondern sich den Aufbau einer Wirtschaft zum Ziel setzt, die den Interessen und Bedürfnissen der Mehrheit zugewandt ist. Ich spreche von einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, in der es allen Menschen sozial gut geht. Eine Ordnung, die die Voraussetzungen schaffen muss, damit überall auf der Welt Frieden herrscht.

Es wird behauptet, der Sozialismus sei kompromittiert. Ist das Ihrer Ansicht nach so?

Nein, er ist keinesfalls kompromittiert. Sie wissen, wer solche Dinge behauptet, und warum. Vor einer Woche ist in Deutschland, einem der größten kapitalistischen Länder, eine Untersuchung einer den Sozialdemokraten nahe stehenden Stiftung bekannt geworden. Dort haben über 46 % der Menschen gesagt: „Der Sozialismus ist eine gute Idee, die bisher jedoch falsch umgesetzt worden ist“. Das heißt, die große Frage ist, wie sie gut umgesetzt werden kann. Einige Länder in Lateinamerika beispielsweise haben diesen Weg bereits eingeschlagen. Von ihnen können wir lernen.

Ihre Partei glaubt, wenn ich Sie richtig verstehe, an die sozialistische Zukunft.

Die ganze deutsche LINKE möchte, dass der Kapitalismus besiegt und überwunden und eine sozialistische Gesellschaft errichtet wird. Das ist unser Endziel, das sich auch in unserem Parteiprogramm wiederfindet. Und ich glaube daran, dass es so kommen wird. Es geht einfach nicht anders, denn die derzeitige aktuelle [sic] wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung stellt bereits unter Beweis, dass sie nicht für die Menschen da ist. Das sieht man auch im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise. Und nicht nur die deutsche LINKE spricht von der Zukunft des Sozialismus. Millionen Menschen weltweit, wie ich bereits gesagt habe, 27 % der im Rahmen der in 27 Ländern durchgeführten BBC-Umfrage Befragten, erkennen an, dass der Kapitalismus gescheitert ist. Voll und ganz. Und wir brauchen keine Alternative zum Kapitalismus, die zum Faschismus führen könnte, und eben deshalb kämpfe ich für den Sozialismus. Und ich glaube fest an diese künftige Ordnung.

Es kommt nicht oft vor, dass wir derart deutliche Worte hören und einen so starken Glauben an die sozialistische Zukunft antreffen. Im Grunde genommen ist die deutsche Linke eine sehr starke antiimperialistische Partei. Aber sowohl Ihr Land als auch das meine gehören einem gemeinsamen Militärbündnis an, der NATO. Bedeuten Ihre Worte demnach, dass eure Linken auch gegen die NATO sind?

Selbstverständlich sind wir gegen die NATO. Wir wollen die Auflösung dieses Paktes, das ist die Position der Linkspartei in Deutschland. Und wir überlegen sogar, ob es nicht richtig wäre, aus dem Militärbündnis auszutreten, um seinen Zerfall zu erreichen. Die Franzosen haben das ja bereits einmal getan. Und wenn Deutschland heute aus der NATO austritt, würde der Pakt deutlich geschwächt.

Eine schwere Aufgabe, die sie da in Erwägung ziehen, Sevim. Da müssen aber mehr Menschen dahinterstehen.

So ist es. Aber genau das ist die dringende und wichtige Aufgabe, die vor der Linken steht. Es gibt doch wohl viele Dinge im Leben, die schwierig sind. Das heißt aber durchaus nicht, dass sie unmöglich sind.

Was sagen Sie denjenigen, die skeptisch sind, wenn es um die Herstellung sozialer Gerechtigkeit geht?

In der Gesellschaft gibt es einen gewaltigen Reichtum in den Händen weniger Menschen. Und viel Armut für das übrige Volk. Der Reichtum ist ungerecht verteilt, er entstammt der Ausplünderung der einfachen Werktätigen. Wenn man die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft sieht, zwischen denjenigen, die arbeiten, und den Anderen, die immer reicher werden, erkennt man auch die Notwendigkeit, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Und nur durch sie ist Demokratie möglich. Wer gegen soziale Gerechtigkeit ist, der kann auch kein Demokrat sein.

Und wie oft gibt es in Deutschland Diskussionen über den Sozialismus und das Linkssein?

Sehr oft. Aber das Problem in Deutschland ist, wie auch in vielen anderen Ländern, dass sich die Medien überwiegend in der Hand des Kapitals befinden.

Das ist überall auf der Welt so.

Deswegen bringen die Medien unsere Worte und Taten, die Diskussionen, die wir organisieren, und die Maßnahmen, die wir durchführen, auch nicht so an die Öffentlichkeit. Jede Diskussion gegen den Kapitalismus und jedes prosozialistische Material werden im Keim erstickt.

Gibt es ein Entrinnen aus dieser Falle?

Ja, die Diskussionen müssen von unten beginnen, mit den arbeitenden Menschen, mit den Arbeitslosen und mit den Diskriminierten. Zugleich könnten wir eine Gegenöffentlichkeit durch alternative Medien schaffen. Aus Lateinamerika haben wir beispielsweise die Erfahrungen mit den genossenschaftlichen Rundfunksendern und einem eigenen Fernsehsender übernommen. Die deutsche Linke hat bereits ein solches Projekt. Wir verfügen über ein Online-Fernsehprogramm, das gegen die neoliberale Front der übrigen Medien vorgeht. Unser Ziel ist es, so viele Menschen wie möglich für unsere Sache zu gewinnen, denn das Kapital der Linken sind die Millionen von der Arbeit ausgemergelten Bürger. Unter uns gibt es keine Millionäre.

Wir wissen, dass Sie die bei uns ablaufenden Prozesse verfolgen. Haben Sie die Hoffnung, dass die gemeinsame bulgarische Linke kommt?

Wichtig ist, dass man sich klar darüber wird, was eigentlich „linke Inhalte“ sind. Das ist aber kein spezifisch bulgarisches Problem, denn nahezu überall verwenden die Rechten linkes Vokabular. Das lässt sich aber überwinden. Die soziale Problematik erobert bereits den gesellschaftlichen Raum, und gerade sie dürfen wir nicht den Rechten überlassen. Die Sozialdemokratie hat in vielen europäischen Ländern riesige Verluste für die linke Bewegung verursacht, denn die Sozialdemokraten haben sich einfach von den sozialen Fragen abgewendet. Das hat in vielen Ländern zu einer „rechten Antwort“ geführt, denn dort sind nun unter anderen die Rechtspopulisten an der Macht. Das gilt beispielsweise für Italien, die Niederlande, Schweden, Großbritannien und auch für viele osteuropäische Länder. Deshalb müssen die Linken eingreifen, denn nur im linken Raum muss und kann von sozialer Problematik und Gerechtigkeit die Rede sein. Wir müssen nachdrücklicher eine Erhöhung des Mindestlohnes der Werktätigen fordern. Eine Orientierung könnte hier die Forderung des Europäischen Rates sein, dass der Mindestlohn wenigstens 60 % des Durchschnittslohnes im entsprechenden Land betragen müsse. Für alle Menschen muss es Sozialleistungen geben, die ihnen ein würdiges Leben garantieren.

Welches ist die politische Alternative, für die Ihre Partei kämpft?

Wenn es uns gelingt, eine klare Alternative zur heutigen neoliberalen Wirtschaftspolitik der Machthaber zu bieten, dann werden wir auch eine politische Alternative zu Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung, d. h. zu den Alltagsproblemen vieler, vieler Menschen aufzeigen können. Gerade die linken Politiker müssen den Menschen deutlich machen, dass die kapitalistische Wirtschaft die Ursache für die Arbeitslosigkeit und die Ausbeutung ist. Und die Gewerkschaften müssen ein zentraler Partner der linken Formationen sein. Dort müssen wir die linke Politik verstärken und für einen Wandel der Gewerkschaften eintreten, damit sie zu wahren Kampforganisationen zum Schutz der arbeitenden Menschen werden können.

Was erscheint Ihnen in der Welt, in der wir leben, am ungerechtesten?

Die Beschneidung der sozialen Rechte der Arbeitnehmer, Rentner und sozial Schwachen geht weiter. Gleichzeitig werden die Gewinn- und die Kapitalsteuer gesenkt. Laut einer Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf gibt es auf der Welt mindestens eine Milliarde Arbeitslose. Das sind 20 % der Weltbevölkerung und ein Drittel aller arbeitsfähigen und -willigen Menschen. Über 1,2 Milliarden leben in absoluter Armut und verfügen über weniger als einen Dollar pro Tag zum Überleben. Es gibt weltweit mehr als eine Milliarde Hungernde. Allein im vergangenen Jahr ist ihre Zahl um weitere 75 Millionen gestiegen. Und die Gewinne, die die großen Konzerne dank der seit den 70er Jahren betriebenen neoliberalen Wirtschaftspolitik erzielen, steigen massiv an. Durch die Deregulierung der Arbeitsmärkte und die politische Schwächung der Gewerkschaften wird die Entlohnung der Arbeit ständig geringer. Laut Eurostat gibt es in diesem Jahr in der EU über 23 Millionen registrierte Arbeitslose, davon allein 15 Millionen in der Eurozone. Real liegt die Zahl der Arbeitslosen jedoch bei über 40 Millionen, da Menschen, die keine Arbeit finden, zum Beispiel formal ohne großen Erfolg Ein-Mann-Unternehmen gründen oder sich enttäuscht von der aktiven Arbeitssuche zurückziehen.
Das linke Gesellschaftsprojekt muss für alle linken Parteien gleich sein, und ihm muss das Recht eines jeden Menschen auf Arbeit zu Grunde liegen, ein durch staatliche Politik durchgesetztes Recht.

Originalinterview: http://www.duma.bg/duma/node/6442

Dieser Beitrag wurde am Montag, 22. November 2010 um 17:48 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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