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Unter Militärkontrolle. Tunesien: Alleinherrscher Zine El Abidine Ali verläßt mitsamt Familienclan fluchtartig das Land. Über seinen Nachfolger gibt es nur Spekulationen. Von Karin Leukefeld

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Das Blatt hat sich gewendet in Tunesien. Nach vier Wochen Massenprotesten gegen Jugendarbeitslosigkeit und steigende Lebenshaltungskosten hat der langjährige Alleinherrscher, Präsident Zine El Abidine Ben Ali, am Freitag das Land verlassen und setzte sich mit seiner Familie nach Saudi-Arabien ab.

In einem letzten Versuch, seine Macht zu retten, hatte Ben Ali noch am Tag vor seiner überstürzten Abreise den Demonstranten weitreichende Zusagen gemacht. Dem Militär hatte er befohlen, keine scharfe Munition mehr einzusetzen, die Gefangenen sollten freigelassen werden. Er kündigte an, sich 2014 aus der Politik zurückzuziehen und Parlamentswahlen in sechs Monaten in Aussicht gestellt. Medien, Gewerkschaften und Parteien sollten zukünftig frei arbeiten können. »Ich habe euch verstanden«, sagte Ben Ali in seiner letzten Fernsehansprache, Tunesien solle umfassend demokratisiert werden. Er senkte die Preise für Milch, Brot und Zucker und kündigte 300000 neue Arbeitsplätze an. Unternehmen, die zehn Prozent ihrer Arbeitsplätze an junge Leute geben würden, so Ben Ali, sollten steuerlich begünstigt werden.
Geheimdienstler
Während die oppositionellen Parteien und Menschenrechtsorganisationen zunächst positiv reagierten, ließen die Massen sich nicht mehr beruhigen. Tausende marschierten zum Innenministerium und forderten mit Sprechchören den sofortigen Rücktritt Ben Alis. »Ben Ali, vielen Dank, aber es reicht!« war eine der Parolen. Die aufmarschierten Polizisten und Soldaten reagierten sehr unterschiedlich. Während einige Tränengas in die Menge schossen, Leute verprügelten und festnahmen, waren auch Verbrüderungsszenen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften zu beobachten. Ben Ali, offenbar unsicher, ob Polizei und Militär noch hinter ihm stehen, entließ die gesamte Regierung, löste das Parlament auf und verhängte den Ausnahmezustand. Dann ließ er sich mit seinem Familienclan zum Flughafen bringen und verschwand. Das Militär übernahm die Kontrolle des Flughafens und sperrte den Luftraum.

Zine El Abidine Ben Ali wurden 1936 geboren, als Tunesien noch unter französischem Protektorat stand. Er wurde in Militärschulen in Frankreich und den USA ausgebildet und machte Karriere im militärischen Geheimdienst seiner Heimat. 1985 wurde er Minister für nationale Sicherheit, 1986 Innenminister und 1987 Ministerpräsident. Im gleichen Jahr putschte er Präsident Habib Bourguiba, der Tunesien 1956 in die Unabhängigkeit geführt hatte, aus dem Amt und wurde selber Präsident. Ben Ali versprach Demokratie und schrieb 1999 die ersten offenen Präsidentschaftswahlen aus, die er mit 99,44 Prozent für sich entschied. Statt Reformen wurden Meinungsfreiheit und freie politische Arbeit weiter eingeschränkt, die Gefängnisse füllten sich mit politischen Häftlingen. Europäern, besonders Deutschen, gilt das Land als eines der beliebtesten Ferienparadiese. 2001 vollzog Ben Ali einen Schulterschluß mit der Bush-Administration im »Kampf gegen den Terror« und ging blutig gegen die islamische Opposition vor.
Neuformierung
Wie es politisch in Tunesien weitergehen wird, ist derzeit völlig unklar. Ministerpräsident Mohammed Al-Ghannouchi übernahm noch am Freitag das Präsidentenamt übergangsweise und versprach, alle angekündigten Reformen umzusetzen. Am Samstag traf er sich mit Vertretern der Opposition, um eine provisorische Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Der bisherige Parlamentssprecher Fouad Mbazaa wurde zum Interimspräsidenten ernannt. Er soll nun für eine Reform des Wahlrechts und für Neuwahlen in sechs Monaten sorgen.

Die USA, Deutschland, Frankreich und die Europäische Union sicherten Tunesien Hilfe beim politischen Neuformierungsprozeß zu. Der dürfte nicht einfach sein, zumal Ben Ali mit »eiserner Faust« 23 Jahre lang die politische Opposition unterdrückte oder aus dem Land trieb. Viele junge Leute kennen nicht mehr die tunesischen Exilpolitiker, die jetzt ins Land zurückkehren und Mühe haben werden, sich Gehör zu verschaffen. Eine charismatische Figur der islamischen Opposition ist Rachid Al-Ghannouchi, der Führer der verbotenen islamischen Nahda, einer islamischen Erneuerungsbewegung. Ghannouchi, der seit 1993 in Londoner Exil lebt, gilt als scharfer Gegner der US-Politik in der arabisch-islamischen Welt und tritt ansonsten für einen reformierten Islam ein, der Demokratie und Menschenrechte achtet. Am Sonntag erklärte Al-Ghannouchi, nach Tunesien zurückzukehren und für Regierungsaufgaben zur Verfügung zu stehen.

Arabische Medien spekulieren, daß der Jurist Kamel Morjane oder Najib Chebbi, Gründer der Progressiven Demokratischen Partei, Nachfolger Ben Alis werden könnten. Morjane, der der Regierungspartei RCD angehört und unter Ben Ali Verteidigungs- und Außenminister war, hatte zuvor Tunesien bei den Vereinten Nationen in New York vertreten. Chebbi ist einer der wenigen Oppositionspolitiker, der Tunesien trotz massiven Drucks nicht verlassen hatte. Dem bisherigen Ministerpräsidenten und Ökonom Mohammed Al-Ghannouchi werden hingegen wenig politische Ambitionen nachgesagt. Medien berichteten schon im vergangenen Jahr, daß er in den Finanzsektor wechseln wolle.

Quelle: www.jungewelt.de vom 17.01.11

Dieser Beitrag wurde am Montag, 17. Januar 2011 um 10:33 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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Ein Kommentar

  1. Tunis im Belagerungszustand
    Nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali haben die größten Parteien des Landes mit Verhandlungen über eine »Regierung der nationalen Einheit« begonnen. Allerdings blieben davon zwei wichtige, verbotene Organisationen ausgeschlossen: Die islamische Ennahdha und die Kommunistische Partei. Trotzdem versprach der neue Übergangspräsident Foued Mebazaa einen »demokratischen Machtwechsel«. Unterdessen glich Tunis einer Hauptstadt im Belagerungszustand: Polizisten und Soldaten säumten die Straßen, Panzerwagen und Sperren prägten das Bild. Etwa 50 Menschen wurden festgenommen, weil sie Polizeiangaben zufolge an Schießereien beteiligt gewesen sein sollen. Die Lage im Land blieb angespannt.

    Im zentraltunesischen Regueb protestierten am Sonntag nach Gewerkschaftsangaben etwa 1500 Menschen gegen die Regierungsverhandlungen. »Wir sind nicht für die Bildung einer Regierung mit einer gefälschten Opposition aufgestanden«, riefen die Protestierenden. »Begrenzte Verhandlungen sind eine falsche Demokratie.« Gegen Ben Alis früheren Sicherheitschef und einige seiner Mitarbeiter wurde Haftbefehl erlassen. General Ali Sériati werde vorgeworfen, für die Gewalt gegenüber Demonstranten verantwortlich zu sein, zitierte das Fernsehen einen Regierungsvertreter. Inzwischen öffneten in Tunis wieder vereinzelt Geschäfte, dort bildeten sich aber lange Schlangen, es herrschte Nahrungsmittelknappheit.

    Libyens Staatschef Muammar Al-Gaddafi bedauerte den Sturz Ben Alis. Dieser sei »nach wie vor rechtmäßiger Präsident« Tunesiens, sagte er in einer Rede. Abgesehen davon hielten sich die arabischen Staaten mit Reaktionen zurück. Saudi-Arabien bestätigte lediglich Ben Alis Aufnahme, Ägyptens Präsident Husni Mubarak erklärte, er respektiere »die Wahl des tunesischen Volkes«. Allerdings gingen in Jemens Hauptstadt Sanaa etwa 1500 Studenten auf die Straße und riefen zum Sturz der Regierung nach dem Vorbild von Tunesien auf. (dapd/AFP/jW)

    Quelle: http://www.jungewelt.de vom 17.01.11

    Comment: Wolfgang Huste – 17. Januar 2011 @ 10:51

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