In den nächsten Tagen und Wochen stehen bedeutsame Großereignisse an. In Dresden wird sich am 19. Februar ein partei- und bewegungsübergreifendes Bündnis den Neonazis entgegenstellen. Massenhafter ziviler Ungehorsam wird das wichtigste Protestmittel sein, um erneut und gewaltfrei die Rechtsextremen in die Schranken zu weisen. Die Einigkeit im Widerstand ist bisher der Garant dafür, daß aus rechtsextremen Aktivitäten nicht ernsthaft attraktive Parteiformationen erwachsen können.
In Stuttgart wird ein Erfolg vermutlich ungleich schwerer zu erringen sein. Es spricht inzwischen einiges dafür, daß nach der Landtagswahl am 27. März entweder Schwarz-Gelb weiterregieren kann oder daß Schwarz-Grün nach langen Koalitionsverhandlungen ein »Stuttgart 21 plus«, also ein Weiter-so beim Bau des Tiefbahnhofs nach Art des Geißlerschen Schlichterspruchs, beschließt. Das heißt: Nach einer Beruhigungsphase werden die Arbeiten fortgesetzt. Und dann kommt die eigentliche Nagelprobe für den faszinierend breiten Stuttgarter Widerstand. Dabei sollte auf den massenhaften Lernprozessen der sozialen Bewegungen aufgebaut werden. Da sind zum ersten die zahllosen Akte zivilen Ungehorsams in Dresden und Gorleben. Daß 4000 oder 5000 vorwiegend jüngere Leute »schottern« und drohenden Strafanzeigen trotzen – von solchen Protestformen ist bei Bankenbesetzungen, Bildungsstreiks und Sozialprotesten bislang wenig bis nichts zu sehen. Die zunehmende Selbstverständlichkeit solcher Widerstandsformen zeigt aber einen Lernprozeß, der mit den Protesten gegen das Treffen der G-8-Staaten in Heiligendamm im Juni 2007 begonnen hat. Ziviler Ungehorsam ist nicht mehr nur Radikalität flotter Sprüche, sondern das Salz in der reichlich öden Suppe der Demokratie. Deshalb auch der massenhafte Puderzucker der Herrschenden für den Protest, die mappuszerknirschten, guttenbergischedlen und leyenhaften Rettungsversuche der repräsentativen Demokratie.
Ein zweiter wichtiger Lernprozeß ist vor allem in Gorleben zu beobachten: das Wachsen von Toleranz und Respekt vor sehr unterschiedlicher Radikalität. In den Großzelten der Aktivisten im Wendland wurden Ende 2010 die einzelnen am nächsten Tag geplanten Aktionen vorgestellt. Das »Schottern«, die Blockaden der Straßenkreuzungen, die Behinderungen des Castorzuges, die geheimnisvollen »Sonderaktionen« von Greenpeace – alles das wurde jeweils als ermutigend aufgenommen und akzeptiert. Von der bei früheren Protesten oft zu beobachtenden Konkurrenz um die »richtige« Strategie war nichts zu spüren. Diese noch nicht bei allen sozialen Bewegungen angekommene Toleranz hat das Zeug zu einer neuen Qualität.
In Stuttgart wird es bald eine Bewährungsprobe für diese neue Solidarität geben. Die Mappus-Strategie wird nach einer gewonnenen Wahl darauf hinauslaufen, die Protestbewegung zu spalten. Deshalb ist in Stuttgart eine ernsthafte Debatte über die notwendige Toleranz gegenüber radikalen Protestformen fällig. Die Fixierung auf die Landtagswahl und ein mögliches Ende der CDU-Herrschaft ist blauäugig. Zum erfolgreichen »Schwabenstreich« müßte vielmehr eine selbstbewußte Bürgerabstimmung über S21 und K21 kommen – und symbolisch ein »Stuttgart-Schwur«: eine gemeinsame Festlegung auf Gewaltlosigkeit und zivilen Ungehorsam gleichermaßen. Dann könnte sich der Widerstand in bester Verfassung zeigen, und selbst ein Ministerpräsident Stefan Mappus müßte einsehen: Stuttgart21 ist zwar machbar, aber nicht durchsetzbar. Er wäre dann ein würdiger Nachfolger Lothar Späths, der das AKW Whyl wollte, aber nicht durchsetzen konnte.
Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin und Mitinitiator des Demokratie-Kongresses am 27. Februar in Stuttgart
www.demokratie-kongress21.de
Quelle: www.jungewelt.de vom 16.01.11
« Anti – Sarrazin – Buch erschienen. Von Wolfgang Huste – Hartz IV – Farce. Ein Trauerspiel der Sozialabbauerparteien! Von Wolfgang Huste »
No comments yet.
Sorry, the comment form is closed at this time.