Deutsche Kernkraftwerke gehen aus taktischen Gründen vom Netz: Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hat nach SZ-Informationen vor der Spitze der deutschen Industrie gesagt, dass die anstehenden Landtagswahlen der Grund für den plötzlichen Sinneswandel der Regierung in der Atompolitik sind.
Entscheidungen seien da „nicht immer ganz rational“.
Wasserstoffexplosion in Block drei von Fukushima. Ausgefallene Kühlsysteme in Block zwei und drei. Und dann, um 12:57 Uhr, Hinweise auf eine Kernschmelze im
dritten der sechs Reaktoren. Es ist der Montag nach dem Beben in Japan, eine Katastrophenmeldung jagt die nächste. Es ist jener Montag, an dem die
Bundesregierung eine politische Wende vollzieht, wie es sie in der jüngeren Geschichte in so kurzer Zeit nie gegeben hat. Vormittags beraten Parteipräsidien fieberhaft über die Konsequenzen aus Fukushima. Bis zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind es keine zwei Wochen mehr, und die Bilder aus Japan sind schrecklich. Etwas muss geschehen mit der Atomkraft, und zwar schnell.
Zur gleichen Zeit tagt im Haus der deutschen Wirtschaft, gut zwei Kilometer vom Kanzleramt entfernt, ein anderer Führungszirkel: die Spitze der deutschen Industrie. Präsidium und Vorstand des Lobbyverbandes BDI sitzen im Saal Amerongen-Schleyer zusammen, knapp 40 Bosse der mächtigsten Unternehmen des Landes. Gegen 13 Uhr, die Nachricht von der Kernschmelze läuft gerade über die
Ticker, tritt Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle auf. Der FDP-Mann soll über Industriepolitik sprechen.
Er hat noch nicht angefangen, da platzen neue Nachrichten herein. Die Kanzlerin, so heißt es, wolle die verlängerten Atomlaufzeiten per Moratorium aussetzen. Die Runde wird unruhig. RWE-Chef Jürgen Großmann rennt zum Telefonieren raus, Eon-Chef Johannes Teyssen blickt finster. „Die wirkten wirklich überrascht“, sagt ein Teilnehmer. Die Industrie verlangt Klarheit.
Was es denn mit den Meldungen von dem Moratorium auf sich habe, will BDI-Präsident Hans-Peter Keitel wissen. Ausweislich des Protokolls der Sitzung gibt Brüderle darauf eine folgenschwere Antwort: „Der Minister bestätigte dies“, steht darin, „und wies erläuternd darauf hin, dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht
immer rational seien.“ Im Übrigen sei er, Brüderle, ein Befürworter der Kernenergie, auch mit Rücksicht auf Branchen, die besonders viel Energie verbrauchen. „Es könne daher keinen Weg geben, der sie in ihrer Existenz
gefährde“, befindet Brüderle laut Protokoll.
Atompolitik und Landtagswahlen Überfordert vom Tempo der Kehrtwende
Nicht rationale Entscheidungen? Nur wegen der Wahlen? Genau diesen Eindruck wollte die Koalition vermeiden: „Selbst wenn es die Wahlen nicht gegeben hätte, hätten wir so handeln müssen“, heißt es in Regierungskreisen. Brüderle, so sein Ministerium, habe vor allem mit dem Tempo der Kehrtwende Probleme gehabt.
Dagegen hatten Kanzlerin Angela Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle wiederholt von einer „Zäsur“ gesprochen, die rasche Konsequenzen erfordere. „Das Moratorium ist keine Vertagung, das Moratorium ändert die Dinge“, sagte Westerwelle an jenem Montag, nur zwei Stunden nach Brüderles Auftritt beim BDI. Wie genau sich
die Dinge ändern, welche Reaktoren vom Netz müssen, wusste da noch niemand. Nicht mal der irtschaftsminister.
Jetzt aber ist das Protokoll in der Welt, es dürfte vor allem den Wahlkämpfern in Union und FDP wenig Freude bereiten. Zum Beispiel Stefan Mappus, der für die
CDU am Sonntag in Baden-Württemberg das Amt des Ministerpräsidenten verteidigen soll, gleichzeitig aber den Ruf des Atomfreundes abschütteln will. Auch in
Rheinland-Pfalz wird dann gewählt: FDP-Chef dort ist Rainer Brüderle.
Quelle: DIE LINKE. Rheinland – Pfalz
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