Mehmet Tanridverdi ist Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (BAGIV), Mitglied des kürzlich gegründeten Bundesbeirats für Integration und bislang Gießener SPD-Stadtverordneter. Jetzt tritt er aus der SPD aus.
Sie geben Ihr Parteibuch zurück, weil die SPD das Ausschlußverfahren gegen den Exbundesbankvorstand Thilo Sarrazin eingestellt hat. Wie steht die Partei nun in Ihren Augen da?
Ich bin nicht nur empört, sondern auch entsetzt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände hat die Entwicklung der SPD seit September 2010 kritisch begleitet, nachdem Herr Sarrazin sein Buch »Deutschland schafft sich ab« veröffentlicht hat. Wir hatten der Partei Empfehlungen ausgesprochen und waren erfreut, daß bis in die Parteiführung hinein eine einheitliche Meinung herrschte. Der Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte: »So einen Menschen können wir hier nicht dulden« und hat als erster dessen Ausschluß gefordert.
Jetzt sind alle eingeknickt. Die Begründung von Generalsekretärin Andrea Nahles, das Ausschlußverfahren einzustellen, ist nichtssagend. Festzuhalten ist: Herr Sarrazin hat nur gesagt, es tue ihm leid, falls er sozialdemokratische Grundsätze verletzt und Migranten diskriminiert habe – aber er hat weder seine rassistischen Thesen zurückgenommen, noch sich entschuldigt. Den Schaden, den er mit seinem Buch angerichtet hat, hat er nicht wiedergutgemacht. Seine Vorurteile über Araber und Moslems hat er biologisch begründet, die Gesellschaft gespalten und Millionen Bürger tief verletzt.
Haben womöglich wahltaktische Erwägungen in der SPD eine Rolle gespielt?
Ein Ausschluß Sarrazins hätte vielleicht bei der nächsten Wahl ein oder zwei Prozent gekostet; doch langfristig wäre die SPD gestärkt aus diesem Skandal herausgekommen. So aber schadet sie dem Integrationsprozeß. Zwar fordern Sozialdemokraten aus verschiedenen Bundesländern, wie auch aus Hessen, die SPD-Spitze auf, ihre Entscheidung zu revidieren – andererseits muß ich aber Äußerungen des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck hören, der die Diskussion einfach beenden will. Das alles wird der SPD nicht guttun.
Auch Sergey Lagodinsky, Gründer des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten, ist wegen Sarrazin aus der SPD ausgetreten. Ist sie so weit nach rechts gerutscht?
Ich kann nur sagen: Die SPD bietet mir keine Perspektive mehr. Zwar gibt es demokratische Kräfte, die aufzeigen, daß es falsch ist, sich von seinen Grundsätzen aus diffuser Angst, unpopulär zu sein, zu verabschieden. Ein beachtlicher Teil unserer Gesellschaft ist migrantenfeindlich – es ist doch ungeheuerlich, sich diesem Spektrum anzubiedern! Die Frage, was zu der Kehrtwende geführt hat, alle vier Ausschlußanträge zurückzuziehen, ist nicht beantwortet: Erhofft man sich, so die Wahl im September in Berlin zu gewinnen? Oder: Hat die SPD von Sarrazin verlangt, die mit rassistischen Thesen verdienten Millionen für soziale Zwecke auszugeben?
Haben die Jusos in Hessen recht damit, den Rücktritt von Andrea Nahles zu fordern?
Nein, die SPD hat ein Problem mit Herrn Sarrazin, nicht mit Frau Nahles. Es hätte der SPD gut angestanden, sich an der CDU ein Beispiel zu nehmen, die ihren ehemaligen Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann aus Fulda wegen seiner antisemitischen Äußerung vor acht Jahren, in der er die Juden als »Tätervolk« bezeichnete, zügig ausgeschlossen hatte. In puncto Integration hinkt die SPD seit Jahren hinterher. Man denke an die von Exkanzler Gerhard Schröder angestoßene Green-Card-Regelung: Damals wollte man die Zuwanderung von qualifizierten Menschen steuern, hat aber nur eine Regelung für reiche Unternehmer getroffen.
Ein Teil der SPD kritisiert Hartz IV und findet die neoliberale Orientierung falsch – ein anderer vertritt exakt das Gegenteil. Ist das auf Dauer vereinbar?
Wenn ich an die verschiedenen Strömungen denke, glaube ich das kaum. Ich bin gespannt, was sich jetzt entwickelt, wenn Stimmen parteiinterner Kritiker, den Konflikt im Umgang mit Migranten betreffend, lauter werden. Ob die Führung umschwenkt? Auch die Gründung der linken Partei hat mit diesen Schwächen der SPD zu tun.
Wäre denn Die Linke für Sie eine Alternative?
Ich habe in dieser Partei Freunde, werde aber erst einmal unabhängig bleiben.
Quelle: www.jungewelt.de vom 28.04.11
« Gemeinsame Aktionen. Antifaschisten rufen zu »Revolutionären 1.-Mai-Demonstrationen« und zur Verhinderung von Naziaufmärschen auf. Medien und Politik schüren Krawallstimmung. Von Markus Bernhardt – Pläne für die Invasion. Von Knut Mellenthin »
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