Jahre voller Frustration schlagen in Zorn um: Spaniens Jugendliche protestieren gegen Arbeitslosigkeit, eine Zukunft ohne Perspektiven und das Desinteresse der Politik. Tausende strömen auf die Straßen. Kurz vor den wichtigen Regionalwahlen wirkt die Politik überrascht – und ratlos.
Buenos Aires/Madrid – Toreros und Touristen tummeln sich an einem normalen Sommertag an der Puerta del Sol im Zentrum Madrids. Die Schausteller posieren für Fotos, mexikanische Sänger verbreiten südliches Flair. Doch jetzt ist alles anders. Eine Welle von Demonstrationen hat den Alltag verdrängt, es herrschen jetzt Wut und Kampfgeist.
Seit Tagen harren verärgerte Spanier auf dem Platz aus, einige bleiben gleich über Nacht hier. Sie schlafen unter Zeltplanen, eingehüllt in Decken oder Schlafsäcke. „Yes, we camp“, lautet ihr Motto. Und immer wieder gibt es Kundgebungen. Auch am Mittwochabend, als ihre Demonstration in Madrid untersagt wurde, und am Donnerstag strömten Tausende in die Innenstadt und riefen Parolen wie „Spanien, hör hin, dies ist unser Kampf“ und „No pasarán“ (Sie werden nicht durchkommen).
Sie begehren auf gegen die politische Klasse, gegen die soziale und wirtschaftliche Misere, gegen die fehlenden Perspektiven. Der Zorn bringt viele Menschen zusammen, darunter Jugendliche, Studenten, Rentner, Arbeitslose, Einwanderer, Linke, Konservative. Sie nennen sich „indignados“, Empörte.
Viele haben das Gefühl, dass endlich der Moment gekommen ist, etwas zu tun. „Jetzt und hier“, hat jemand in roter Schrift auf ein Plakat an der Puerta del Sol geschrieben. An einem Denkmal hängt ein Plakat mit der Aufschrift: „So beginnt der Wandel“.
Als faule Muttersöhnchen verschrien
Die Jugendlichen haben den Protest losgetreten, nachdem sie lange Zeit zugesehen haben, wie ihre Zukunftschancen mit der Krise immer schlechter wurden. Die Schlangen vor den Arbeitsämtern sind länger geworden, die Erwerbslosigkeit bei den Unter-25-Jährigen ist inzwischen auf horrende 45 Prozent gestiegen. Wer Arbeit findet, muss sich oft mit „Müllverträgen“ zufriedengeben – hier ein Job für zwei Monate, dann wieder für drei Wochen. Ein Studienabschluss ändert daran nichts.
Doch lange blieb es ruhig in Spanien. Die Generation, die leidenschaftlich gegen den Irak-Krieg protestiert hatte, verhielt sich merkwürdig still. Dabei haben sie auch auf Freiheiten verzichtet: Viele sind von ihren Eltern finanziell abhängig, ziehen nicht aus.
So ist ein verheerendes Bild im Land entstanden: Die Jungen werden beschimpft als Faulpelze, die sich im elterlichen Heim aushalten lassen. Sie werden als „Generation Weder-Noch“ verschrien, „weder arbeiten sie, noch studieren sie“.
Aufruf zur „Spanish Revolution“
Doch plötzlich ist alles anders. Der Frust hat sich in Furor verwandelt. So wie bei Juan Cobo, der am Mittwochabend an der Puerta del Sol protestiert. Er ist 26 Jahre alt und studiert Fotografie. „Erst beleidigten sie uns, weil wir stillgehalten haben. Jetzt beleidigen sie uns, weil wir aufwachen“, empört er sich und meint damit die Politiker im Land.
Er gehört zur Facebook-Gruppe „Spanish Revolution“, die die Proteste unterstützt. Anfangs haben sich die Aktivisten vor allem über soziale Netzwerke wie Facebook und den Kurznachrichtendienst Twitter organisiert. Initiiert wurde dies von der Gruppe „Democracia Real Ya!“ (Echte Demokratie jetzt). Schon vor zwei Monaten rief sie für den 15. Mai zu Demonstrationen im ganzen Land auf; auch per E-Mail und SMS sollten weitere Unterstützer gewonnen werden („Das sind doch nur geringe Kosten, wenn du es als Investition in deine Zukunft betrachtest.“).
So begann mit den Demonstrationen in rund 50 Städten am 15. Mai eine Welle von Protesten. Auch am Mittwochabend sammelten sich die Menschen nicht nur in Madrid, sondern auch in anderen spanischen Städten wie Sevilla, Valencia und Barcelona. „Movimiento 15-M“ tauften spanische spanische Zeitungen den Aufruhr, Bewegung des 15. Mai.
Die Forderungen sind so vielseitig wie die Bewegung selbst: Arbeitsplätze, bezahlbare Wohnungen, Kampf gegen die Korruption, das Ende des Kapitalismus oder eine „echte Demokratie“. „Das ist keine politische Kampagne“, sagt Aktivist Cobo, „das ist einfach logisch.“ Eine Partei wolle man auf keinen Fall gründen – denn bei Parteien fühlen sich die Demonstranten längst nicht mehr aufgehoben. „Sie sind für uns keine Ansprechpartner“, meint Cobo.
Heftige Attacken, peinlicher Fauxpas
Besonders die zwei großen Parteien frustrieren viele: Die regierende sozialistische Partei PSOE hat in der Krise immer mehr Sparprogramme und soziale Einschnitte beschlossen. Die konservative Volkspartei PP blockiert wichtige politische Vorhaben der Minderheitsregierung – meist scheint es dabei unwichtig zu sein, worum es inhaltlich überhaupt geht. Zudem sind viele Politiker in Korruptionsskandale verstrickt.
PSOE und PP sind von den heftigen Demonstrationen überrascht worden, und das kurz vor den Regional- und Kommunalwahlen am Sonntag. Hektisch versucht jede politische Strömung jetzt, die Stimmung für sich zu nutzen.
Sowohl Konservative als auch Sozialisten betonen, sie hätten Verständnis für die Anliegen der Demonstranten. Doch gerade die PP-Politiker machen deutlich, dass sie nicht wirklich hingehört haben. Parteichef Mariano Rajoy hob gleich zur nächsten Attacke gegen Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero an. Dieser habe seine Sache in den vergangenen Jahren „nicht gut gemacht“, die „Interessen der Spanier“ seien missachtet worden. Seine Parteikollegin und Regionalpräsidentin von Madrid, Esperanza Aguirre, fürchtete gar, „viele Organisationen der extremen Linken“ versuchten, die Bewegung 15-M „zu manipulieren“ und gegen die PP aufzuhetzen.
Doch auch die Sozialisten gaben zuletzt kein gutes Bild ab. Als die PSOE das Manifest von „Democracia Real Ya!“ auf ihrer Web-Seite veröffentlichte, musste die Partei dies nach wütenden Protesten wenig später wieder entfernen – die Aktivisten wollten sich nicht vereinnahmen lassen. Zerknirscht hieß es danach, das Papier mit den Forderungen der Bewegung sei versehentlich auf die Seite gehoben worden.
Auch auf die Versuche zahlreicher Regionalpolitiker, die mit ihrem Lob auf die Proteste kurz vor den Wahlen noch Stimmen gewinnen wollten, reagierten Demonstranten mit einer einfachen Botschaft: „Zu spät“.
Die Unterstützung einer anderen prominenten Spanierin dürfte willkommen sein. Die Schauspielerin Penélope Cruz solidarisierte sich am Mittwoch bei einer Pressekonferenz für ihren neuen Film mit den spanischen Jugendlichen. Die Situation müsse sich ändern, sagte sie. „Es bricht mir das Herz.“
http://www.spiegel.de/politik/ausland /0,1518,763489,00.html
« Im Übermaß – Merkel fördert antieuropäische Stimmung »
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