Atheismus allein ist kein Verdienst, denn man kann Menschen auch ohne Gottesbezug unterdrücken. Das wußte bereits der junge Karl Marx. Die »Kritik der Religion« definierte er deshalb als »Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion« sei. Sie habe die »imaginären Blumen an der Kette« nicht zerpflückt, damit »der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern die Kette abwerfe…«. Heute gibt es nicht nur Freunde religiös geblümter, sondern auch trostloser Ketten. Und doch ist der Festakt, den es am 3. Juni in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main geben soll, ein wenig überraschend: Die Giordano-Bruno-Stiftung wird dem australischen Philosophieprofessor Peter Singer einen mit 10000 Euro dotierten Ethikpreis verleihen. Festredner sind der »Soziobiologe« Volker Sommer und der Tierrechtler und Psychologe Colin Goldner. Während die Stiftung neben Atheismus auch »Aufklärung« und »Humanismus« in ihrem Programm führt, wurde Peter Singer in den 1990er Jahren dadurch bekannt und berüchtigt, daß er die Tötung behinderter Säuglinge in bestimmten Fällen rechtfertigte. Diesen Widerspruch versucht der Stiftungsvorsitzende Michael Schmidt-Salomon aufzulösen, indem er ihn abstreitet. Singer sei, wie er in einer Stellungnahme auf der Homepage der Stiftung schreibt (26.5.2011), Opfer von »Mißverständnissen, Fehlinterpretationen und (…) böswilligen Unterstellungen« sowie einer »skandalösen Rufmordkampagne« geworden. Schmidt-Salomon preist ihn als den »klarsten und zugleich mitfühlendsten Denker unserer Zeit« und empfiehlt die Lektüre seiner Bücher.
Mancherlei Tötungen
Man kann sich dabei zunächst an einen Band halten, den Schmidt-Salomon besonders hervorhebt. 1993 erschien von Singer und Helga Kuhse in deutscher Übersetzung ein Buch mit dem Titel: »Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener« (Harald Fischer Verlag, Erlangen). Gleich zu Beginn schreiben die Autoren unumwunden: »Wir sind der Meinung, daß es unter bestimmten Umständen ethisch gerechtfertigt ist, das Leben mancher schwerstbehinderter Neugeborener zu beenden.« Im englischsprachigen Original heißt es noch deutlicher und weniger einschränkend: »We think that some infants with severe disabilities should be killed.« (»Wir glauben, daß manche Kinder mit schweren Behinderungen getötet werden sollten.«) Es sei gerechtfertigt, aus »Mitleid« zu entscheiden, »ein Leben nicht (…) zu bewahren«. Folglich müsse man »manches Leben« als »nicht lebenswert« beurteilen. Die Autoren bedauern, bei »Lesern Anstoß (zu) erregen, die selbst von Geburt an behindert sind, vielleicht sogar an einer der Behinderungen leiden, von denen hier die Rede ist«. Singer hält das aber für unbegründet; denn, so heißt es im Vorwort, seine Ansichten würden »niemanden bedrohen, der in der Lage ist, sich für ein Weiterleben auszusprechen«.
Um für diese »Ansichten« zu werben, setzen er und Kuhse eine Salamitaktik ein. Zuerst nennen sie seltene Diagnosen wie das Fehlen des Gehirns oder des Darms, die ein Überleben von Säuglingen unmöglich machen und die geeignet scheinen, die kritische Aufmerksamkeit des Publikums einzuschüchtern. Dann erörtern sie ihre Tötungsidee am Beispiel von Kindern mit Spina bifida und dem Down-Syndrom (früher »Mongolismus« genannt). Kinder mit Spina bifida haben am Rücken eine Schwellung, aus der Rückenmarksflüssigkeit austritt. Damit sie überleben, sind chirurgische Eingriffe nötig. Singer und Kuhse referieren Aussagen eines Arztes über die gesundheitlichen Probleme der Kinder, über deren angeblich »unendliche Leiden«: »fehlende Darm- und Blasenkontrolle (…), häufige Niereninfektionen (…), Lähmungen in solchem Ausmaß, daß sie nur mit speziellen Schienen, Krücken (…) laufen können und teilweise auf den Rollstuhl angewiesen sind (…), Hydrozephalus [»Wasserkopf«] mit Ventil« etc. Eine Tötung des Säuglings würde »vielen Spina-bifida-Kindern einen langsamen, schweren Tod ersparen. Ärzte und Eltern hätten nicht die quälende Wahl zwischen (…) Behandlung mit möglicherweise lebenslangem Elend und Nicht-Behandlung mit der Möglichkeit, daß das Kind noch lange und noch elender weiterlebt.« Eltern, die ihrem Kind »ein solches Leben« nicht wünschten, könnten »seinen schnellen und sicheren Tod wählen«.
Diese Frage sei auch »für Down-Syndrom-Kinder mit lebensbedrohenden Defekten« bedeutsam. Ohne direkten Widerspruch werden Eltern zitiert, die meinen, »solche Kinder« hätten »keinerlei Aussicht auch auf nur ein Mindestmaß an Lebensqualität.« Die Autoren schreiben, Kinder mit dieser Behinderung könnten »häufig ganz glücklich leben«, auch wenn es ein »schlichtes Leben« sei. Das hindert sie nicht daran, den Nutzen von lebenserhaltenden Operationen in Frage zu stellen. Das Down-Syndrom bedeute »ein vermindertes Potential für ein Leben mit den einzigartigen Merkmalen, die (…) menschlichem Leben seinen besonderen Wert geben«. Man könne dieses Potential »nicht mit dem eines normalen Kindes gleichsetzen«. Der »Nutzen« einer erfolgreichen Operation sei in diesem Fall geringer als der Eingriff bei einem »normalen Kind«.
Ethik als Nutzenkalkül
Als philosophische Utilitaristen räumen die Autoren der Maximierung des Nutzens und der »Gesamtsumme des Glücks« einen besonderen Stellenwert ein. Das »Interesse« des Neugeborenen, das natürlich nur durch Erwachsene vertreten werden kann, wägen sie ab gegen das der Eltern und der Geschwister. Dabei verwenden sie ein Beispiel, in dem ein behindertes Kind als Störung des »Familienfriedens« dargestellt wird; von den Leiden der Angehörigen malen sie ein äußerst abschreckendes Bild. Und weil das noch nicht zu genügen scheint, berufen sie sich sogar auf die Rechte ungeborener Kinder, auf die die Eltern in Zukunft aufgrund der gegenwärtigen Belastungen verzichten! Zum schlechten Ende dieser Argumentation wird auch noch auf die angeblichen Interessen der Gesellschaft verwiesen und die Kosten vorgerechnet, die etwa durch Frühgeburten entstehen. Man müsse sich »fragen, wie viel an Aufwendungen für (…) Betreuung (…) von einer Gemeinschaft erwartet werden« könne. Mehr »Geld für schwerstgeschädigte Neugeborene« bedeute »weniger Geld für andere Bedürftige«. Gäben Regierungen nicht mehr finanzielle Mittel zugunsten Behinderter aus und seien Steuerzahler nicht zu höheren Abgaben bereit, dann sei es »wenig weise, die begrenzten Ressourcen durch eine wachsende Anzahl schwerstgeschädigter Kinder noch weiter zu strapazieren«. Es gebe »keinen Grund, behinderte Kinder am Leben zu halten, wenn sie, trotz ihres Potentials für ein lohnendes Leben, schließlich in völlig unzureichenden Institutionen elend dahinvegetieren«. Die Einschränkung auf Neugeborene wird hier nicht gemacht, übrigens auch in Singers »Praktischer Ethik« nicht. In diesem Buch schreibt der Autor, er konzentriere sich »der Einfachheit halber« auf Kleinkinder; alles, was er über diese sage, lasse sich auch anwenden auf »ältere Kinder oder Erwachsene (…), die auf der geistigen Reifestufe eines Kleinkindes verharren«.
Diese Variante der utilitaristischen Ethik ist ein einziger inhumaner Irrtum. Wer ethisches Handeln an einen »Nutzen« und an »Glück« bindet, muß notwendigerweise jene mißachten, die er nicht für »nützlich« und »glücklich« hält. Überhaupt ist schon der Anspruch, die zukünftigen »Potentiale« eines Neugeborenen über Jahrzehnte hinweg einschätzen zu wollen, ein schlechter Witz. In den letzten Jahrzehnten konnten durch gesellschaftliche Veränderungen die Lebenserwartung und die Bildungsmöglichkeiten von Menschen mit Down-Syndrom deutlich verbessert werden. Von der breiten Öffentlichkeit wurde 2009 der Kinofilm »Me too – Wer will schon normal sein?« wahrgenommen. Der Hauptdarsteller Pablo Pineda, Jahrgang 1975, ist weltweit der erste Mensch mit Down-Syndrom mit einem Universitätsabschluß. Zur Zeit seiner Geburt hätte dies jeder medizinische Gutachter für unmöglich erklärt. Und es wäre wohl auch tatsächlich nicht dazu gekommen, wenn sich die Meinung durchgesetzt hätte, behinderte Menschen seien nach einem imaginären »Potential« zu beurteilen und im Zweifelsfall zu töten.
Mit solchen Überlegungen halten sich unsere Utilitaristen natürlich nicht auf. Um etwaige Skrupel noch weiter abzubauen, wird postuliert, Neugeborene seien keine Personen. Singer und Kuhse haben diesen Standpunkt, anders als von Michael Schmidt-Salomon im Namen der Stiftung behauptet, keineswegs aufgegeben, sondern vielmehr bekräftigt: Wenn »wir ein Neugeborenes töten, töten wir keine Person (…). Entscheidend für das Recht auf Leben ist der Beginn des Lebens einer Person, nicht eines physischen Organismus.«
Tier-Mensch-Grenze eingeebnet
Die Giordano-Bruno-Stiftung zeichnet Singer »für seine herausragenden Leistungen als Tierrechtler aus«, insbesondere für seinen Einsatz zugunsten einer UNO-Deklaration über die Rechte von Menschenaffen. Schmidt-Salomon fordert in diesem Zusammenhang, Menschen nicht als »Krone der Schöpfung« zu betrachten; vielmehr müßten »positive säkulare Alternativen« entwickelt werden, die uns Menschen zu einem glücklicheren und ethisch verantwortungsvollerem Leben befähigen«. Aber er irrt sich, wenn er nahelegt, Singers Einsatz für Tierrechte stehe mit seinem Votum für Euthanasie in keinem Zusammenhang. Singer will Tiere aufwerten, indem er behinderte Menschen abwertet: So heißt es in seiner »Praktischen Ethik«, die Tötung eines Schimpansen sei »schlimmer (…) als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine Person ist«. Er und Kuhse verleihen ihrer Argumentation zudem einen antireligiösen Akzent, indem sie ihren Kritikern Illusionen über die »Heiligkeit« menschlichen Lebens unterstellen. Die Einebnung der Grenze zwischen Mensch und Tier, die Vertretern der Stiftung so fortschrittlich erscheint, hat ihrer Konzeption nach für bestimmte Menschen tödliche Konsequenzen. Die säkulare Idee, daß die Menschenrechte für alle gelten, fertigen sie nebenbei ab. Menschenrechte seien nötig, um Menschen vor Diskriminierung aus einem »nichtigen Grund« zu schützen; aus ihnen dürfe man jedoch nicht folgern, jedes Leben habe den gleichen Wert. Singer und Kuhse versuchen, ihre Selbstdarstellung als »Aufklärer« außerdem durch den Hinweis zu untermauern, daß christliche Fundamentalisten zu ihren Gegnern gehören. Aber, wie gesagt, Atheismus allein ist kein Verdienst.
Euthanasie und Nazistraßen
Die Autoren meinen, ihre Philosophie habe nichts mit der Euthanasie der Nazis zu tun und nennen dafür drei Gründe. Ihr Vorschlag habe nicht gelautet, daß »der Staat über Leben und Tod entscheiden solle, sondern daß man Eltern die Möglichkeit geben solle (…) zu entscheiden, wann es im Interesse ihres Kindes und ihrer Familie ist, ein schwerstgeschädigtes Kind nicht leben zu lassen«. Was, so könnte man fragen, ist humaner an einer solchen »dezentralen« Euthanasie, für die der Staat Gelegenheitsstrukturen schafft? Das zweite Argument ist eine Abgrenzung gegen die faschistische »Rassenhygiene«: »Den Nazis galt ein Leben dann als lebensunwert, wenn es nicht zur Gesundheit jener mysteriösen rassischen Wesenheit, des Volkes, beitrug (…) Wir haben die Auffassung vom Volk (…) zugunsten einer individualistischen Sichtweise aufgegeben.« Ein »mitfühlendes Interesse am Wohlergehen von Individuen ist das genaue Gegenteil der Nazi-Haltung.« Das ist nun offensichtlich ein Irrtum. Auch die Nazis appellierten an das »Mitgefühl«, nicht nur in der Propaganda – etwa in dem Film »Ich klage an« von 1941 – sondern auch im »Führerbefehl« zur Euthanasie. Darin heißt es, den »nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken« könne »bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod [Herv. M.Z.] gewährt werden.«
Es ist ausgesprochen peinlich, daß sich Singer und Kuhse wiederholt selbst ihre »Anteilnahme am Schicksal der Behinderten« attestieren. Dabei ist ihr »Mitgefühl« gar nicht gefragt, sondern Respekt vor dem Lebensrecht Behinderter. Singers dritte Aussage (aus der »Praktischen Ethik«) über das Verhältnis seiner Philosophie zum Faschismus verzichtet auf eine Abgrenzung: »Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, daß alles, was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebenso wenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen können.« Ein Kommentar hierzu erübrigt sich hoffentlich.
Bitter beklagt sich Singer darüber, daß linke und behindertenpolitische Aktivisten ab 1989 sein Recht auf freie Rede verletzten, indem sie Veranstaltungen sprengten, bei denen er für seine Theorie werben wollte. Ein besonderes Ärgernis sind ihm die Autonomen, »nihilistische Gruppierungen«, von denen sich Behinderte »benutzen« ließen. Er findet, fast alles solle öffentlich gesagt werden können. Interessant ist allerdings eine zugestandene Ausnahme, die er einem Werk des liberalen Ökonomen John Stuart Mill (1806–1873) entnimmt: »Wenn sich in einer Zeit inflationärer Getreidepreise eine aufgewühlte Menge vor dem Haus eines Getreidehändlers versammelt und jemand in einer flammenden Rede behauptet, die Getreidehändler ließen die Armen zugunsten eigener Profite verhungern, müsse man (…) einschreiten.« Öffentliche Rede kann also politische Konsequenzen haben und ist deshalb auch eine Machtfrage (im Beispiel entscheidet sie die Polizei oder das Militär zugunsten des Getreidehändlers). Es wäre allerdings ein Irrtum, zu glauben, dies geschehe nur in bewegten Zeiten; Veränderungen können auch schleichend stattfinden. Beispielsweise legen Mediziner heutzutage Schwangeren einen Abbruch nahe, wenn beim Fötus lediglich ein Verdacht auf das Down-Syndrom besteht; die Zahl der Kinder mit dieser Behinderung ist deutlich zurückgegangen.
Wenn Singer auf sein Recht auf freie Rede pocht, dann ignoriert er das Machtgefälle, das sich darin ausdrückt. Zu Recht darf niemand erörtern, ob Singer ein Recht zu leben hat; aber er selbst will öffentlich für die passive und aktive Tötung behinderter Kinder plädieren dürfen. Der Behindertenaktivist Franz Christoph (1953–1996) brachte es auf den Punkt: »Eine Veranstaltung, die sich mit dem Lebensrecht neugeborener Frauen oder Ausländer beschäftigen wollte, hätte – berechtigterweise – mit einem öffentlichen Proteststurm zu rechnen und würde als Universitätsthema mit der Intervention der zuständigen Minister rechnen müssen. Und die Familienministerin (…) würde sich hüten, eine Schirmherrschaft zu übernehmen, wenn es nicht um geistig Behinderte ginge.«
Verschleierte Motive
Für den Preisträger in spe lehnt sich Michael Schmidt-Salomon weit aus dem Fenster. Aber seine Rechtfertigungsversuche machen alles nur noch schlimmer. Er habe »sämtliche Bücher« des Philosophen gelesen; Singers »Achtung vor dem Leben« gehe so weit, daß er »sich seit Jahrzehnten schon vegan ernährt und einen Großteil seines Einkommens für wohltätige Zwecke spendet.« Man fragt sich, weshalb Veganismus und Wohltätigkeit Forderungen nach Euthanasie entschuldigen sollen. Singer setze sich »für die Schwächsten der Schwachen« ein und unterstütze einen Ausbau der Infrastrukturen für Behinderte. Nun sieht man aber an seiner Argumentation, unter welch weitreichenden ökonomischen und politischen Vorbehalten dies steht. Die Auskunft, daß er jüdischer Herkunft ist und daß Angehörige von ihm Opfer des faschistischen Völkermords wurden, ändert in der Sache nichts, sie macht nur seine Motive unverständlicher. Hinter Schmidt-Salomons rhetorischer Frage, warum Singer »ausgerechnet hier in Deutschland so scharf angegriffen« werde, steckt ein impliziter Antisemitismusvorwurf, der wiederum nichts zu einer inhaltlichen Begründung beiträgt. Er wisse, »wie groß die Belastung« von Familien mit behinderten Kindern sei; die Gesellschaft lasse sie »allzu häufig im Stich«. Mängel der Gesellschaft können nur gesellschaftlich behoben werden und offensichtlich nicht durch die Rechtfertigung von Kindstötungen.
»Kranke und Behinderte sollten mit allen Mitteln gefördert werden«, meint Schmidt-Salomon, »Krankheit und Behinderung jedoch nicht!« Man kann Behinderten ihre Unerwünschtheit kaum deutlicher mitteilen als dadurch, daß man Kinder tötet, die werden könnten wie sie.
Singer ist durchaus kein Außenseiter. In den 1990er Jahren fand er Unterstützung bei Politikern, Bischöfen, Professoren, dem Elternverein »Lebenshilfe« und Journalisten der Zeit, des Spiegel und der Emma. Um diese Zustimmung zu verstehen, muß man auf das achten, was nicht gesagt wird. Unentwegt beteuert Singer die edlen Absichten, die seinem Plädoyer zugrunde liegen sollen. Nirgends kommt zur Sprache, ob er sich, wie viele andere Menschen auch, vor Behinderungen und Behinderten fürchtet, ob die Vorstellung notwendiger medizinischer Behandlungen ihm Unbehagen bereitet und ihn an seine eigenen Lebensrisiken erinnert. Er entwickelt eine Philosophie, welche die Angst vieler Nichtbehinderter ausdrückt und zugleich ihre Motive verschleiert. Dies könnte der Grund dafür sein, warum Singer zu Behinderung nur »Belastung«, »Elend« und »Leiden« einfällt. Dank der Konstruktion, hauptsächlich über Neugeborene zu schreiben, kann er es vermeiden, den Standpunkt behinderter älterer Kinder und Erwachsener ernstzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Zwar will er sich auf seine »Vorstellungskraft« stützen, aber die scheint, was die Vereinbarkeit von Zufriedenheit und Behinderung angeht, sehr begrenzt zu sein. Er weiß offenbar nicht, daß behinderte Menschen ebenso Glück empfinden können wie Nichtbehinderte und daß es wesentlich von gesellschaftlichen Strukturen abhängt, was ihnen möglich ist. Betrachtet man hingegen Behinderung als Unglück, dann erscheint die Tötung von behinderten Kindern als geeignetes Mittel, um die vermeintliche Ursache des Unbehagens zu beseitigen. Zugleich wird die Illusion genährt, es könne menschliches Leben ohne Leiden geben. Als ideologisches Angebot kann diese menschenverachtende Methode einer vermeintlichen Problemlösung massenwirksam werden, wenn Wirtschaftskrise, sinkende Staatseinnahmen und Erwerbslosigkeit den gesellschaftlichen Reichtum zugunsten des davon profitierenden Kapitals verknappen.
Singer mag Atheist sein, ein »Aufklärer« oder »Humanist« ist er nicht. Vertreter der Giordano-Bruno-Stiftung sollten sich fragen, ob seine Philosophie mit ihrer Programmatik vereinbar ist. Bei dieser Gelegenheit könnten sie auch über den Festredner Volker Sommer nachdenken, der Vergewaltigung für eine »Fortpflanzungsstrategie« erfolgloser Männer hält (Der Spiegel, 16/2000) – aber das ist ein anderes Thema. Wenigstens hat der Stiftungsvorstand nach Protesten in einer Stellungnahme vom Montag (30.5.11) bekanntgegeben, er gehe, »selbstverständlich (!) davon aus, daß jeder Mensch von Geburt an ein unbedingtes Lebensrecht besitzt«. Wie das mit der Ehrung von Singer zusammenpaßt, wird nicht erklärt.
Gerade als nichtreligiöser Mensch sollte man in der Lage sein, Religionen als kulturelle Produkte zu betrachten, die neben Schwächen auch Positives enthalten mögen. Hier wäre an erster Stelle das Tötungstabu zu nennen, auch wenn es in vielen religiösen Schriften wohl nicht konsequent durchgehalten wird. Es ist richtig, daß Religionen der Unterdrückung von Menschen gedient haben und heute noch dienen. Zugleich spielten sie in revolutionären Bewegungen auch eine positive Rolle. Ethiken sollten zunächst danach beurteilt werden, welche praktischen Konsequenzen sie für die sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen haben. Erst danach wird es wichtig, ob sie atheistisch sind oder religiös. Kein Gott erlöst uns jedenfalls von einer Ethik, wie sie Singer und Kuhse vertreten. Das können wir nur selber tun, wie es bereits in einem alten Lied heißt.
* Michael Zander ist Psychologe und Aktivist in der Behindertenbewegung. Er lebt in Berlin.
Quelle: www.jungewelt.de vom 01.06.11
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