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Kein Konflikt, aber Kritik. Studie zum Krisenbewußtsein: Hinter dem weitgehenden Ausbleiben von Widerstand verbergen sich tiefgreifende Ohnmachtserfahrungen und Wut. Von Daniel Behruzi

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War da was? Nachdem die tiefste Krise der kapitalistischen Ökonomie überwunden scheint, geht alles wieder seinen gewohnten Gang. »Weiter so« heißt die Devise der Eliten. Von Systemveränderung ist keine Rede mehr, nicht einmal von einer Regulierung der Finanzmärkte. Dennoch hat die Krise »Spuren hinterlassen – vor allem in den Köpfen der Menschen«. Diese Schlußfolgerung leiten Sozialwissenschaftler des Münchner ISF-Instituts aus einer explorativen Untersuchung zum Krisenbewußtsein von Beschäftigten ab, die auf Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und Betriebsräten basiert.
Adressat nicht greifbar
So medial allgegenwärtig die Krise 2008 und 2009 auch war, ihr spezifischer Charakter bleibt für viele Beschäftigte undurchsichtig. Die Welt der Finanzmärkte – wo der dramatischste Wirtschaftseinbruch seit 1929 seinen Ausgang nahm – erscheine den Befragten »als eine virtuelle Welt, in der ›fiktives Geld (…) hin und her geschossen‹ wird, die weit von jener ›Wirtschaft‹ entfernt ist, in der man selbst arbeitet und in der reale ›Werte‹ geschaffen werden«, heißt es in der Studie. Diese Einschätzung ist zwar nachvollziehbar, sie führt aber dazu, daß der Adressat für Widerstand weniger greifbar, die eigenen Handlungsmöglichkeiten unklarer sind. »Finanzmärkte liegen nicht nur außerhalb der Erfahrungswelt unserer Interviewpartner und der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Sie sind auch gleichsam exterritorialer Ort. Jedenfalls keiner, an dem man mit klassischen Widerstandsformen agieren könnte.«

Daß die Krise trotz ihrer Schärfe und Gleichzeitigkeit weitgehend eine »Krise ohne Konflikt« blieb, hat viel mit dieser Wahrnehmung zu tun. »Die Wut (…) hat sich aufgestaut. Aber sie hat meist keinen konkreten Adressaten und wenn, dann erscheinen die Adressaten meist unerreichbar. Für die meisten der Befragten finden sich die ›Schuldigen‹ – die Verursacher der Krise – nicht im Betrieb.« Auch das jeweilige Management wird den Autoren Richard Detje, Wolfgang Menz, Sarah Nies und Dieter Sauer zufolge oftmals als machtlos erlebt. Eine Distanzlosigkeit zur betrieblichen Herrschaft ergebe sich daraus jedoch nicht. Wer mag, kann hier gewisse Parallelen, aber auch Widersprüche zur von der Forschergruppe um den Jenaer Soziologen Klaus Dörre entwickelten These »guter Betrieb – schlechte Gesellschaft« sehen. Die Thüringer Wissenschaftler hatten bei Beschäftigtenbefragungen festgestellt, daß im Bewußtsein vieler der »eigene« Betrieb positiv erscheint, während das Gesellschaftssystem insgesamt heftig kritisiert wird. Auch die Forscher des ISF stellen fest, daß »das Ohnmachtserleben ›adressatenloser Wut‹ (…) vom Betrieb auf ›Gesellschaft‹ und auf ›Staat und Politik‹ verschoben« wird, was zu »ausgeprägten Widerstands- und Protestphantasien« führt – in den wenigsten Fällen aber zu tatsächlicher Gegenwehr. Der betriebliche Krisenkorporatismus, der oftmals Konzessionen der Beschäftigten beinhaltet, sei vor diesem Hintergrund »allenfalls ein Deal auf schiefer Ebene. (…) Er bedeutet nicht dauerhafte Rücknahme an Ansprüchen und die Absenz von Kritik.«

Die Beschäftigten haben für die Krise – aber auch für deren vorläufige Überwindung – einen hohen Preis bezahlt. Die befragten Betriebsräte und Vertrauensleute berichten von der Entlassung von Leiharbeitern, extremen Formen der Arbeitszeitflexibilisierung, einer deutlichen Erhöhung des Leistungsdrucks, von beruflicher Unsicherheit und Statusverlust infolge flexiblen Personaleinsatzes. Das insbesondere in der IG Metall viel diskutierte Thema »Gute Arbeit« hat sich demnach keineswegs erledigt. Im Gegenteil haben die Unternehmen die Krise als »Experimentierfeld für noch weitergehende Intensivierung der Arbeit« genutzt. Mit der Folge, daß die »gesundheitspolitische Zeitbombe« noch schneller tickt. Allerdings sind diese Erfahrungen nicht gänzlich neu, sondern eine Verstärkung dessen, was Arbeiter und Angestellte schon länger erleben. Die Krise erscheint als »permanenter Prozeß«, in dem der Wirtschaftseinbruch selbst nur als Verstärker, als »Brennglas« wirkt.
Systemversprechen gesprengt
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß die Münchner Forscher auf »die Reaktivierung von Sichtweisen eines dichotomen Gesellschaftsbewußtseins des ›wir hier unten und die dort oben‹ gestoßen« sind. Dies allerdings, »ohne daß der Nebelschleier, der über den ökonomischen Verhältnissen liegt, weggezogen wäre«. Anders ausgedrückt: Das Klassenbewußtsein hat sich verstärkt, ein Verständnis der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und die Vorstellung einer Alternative dazu sind damit aber nicht unbedingt verbunden. Dennoch: Das Systemversprechen von Wohlstand und Sicherheit bei hoher Leistungsbereitschaft ist gesprengt. »Wir haben es mit einem hohen Maß an Delegitimierung eines ökonomischen Systems zu tun, das Wohlstandsversprechen nicht einlöst.«

Die »Krise ohne Konflikt« ist also keinesfalls eine »Krise ohne Kritik«. »Hinter dem oberflächlichen Eindruck einer ›Krise ohne Konflikt‹ verbergen sich massive Ohnmachtserfahrungen, die politische Sprengkraft gewinnen werden, sofern sich die vielfach artikulierten Protestphantasien in reale Widerstandsformen und handfeste soziale Auseinandersetzungen umsetzen.« Diese Perspektive erscheint – auch wenn sie aus einer begrenzten Anzahl von Gesprächen mit betrieblichen Gewerkschaftsaktivisten gewonnen wurde – durchaus realistisch.

Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer: Krise ohne Konflikt? – Interessen- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht von Betroffenen. VSA, Hamburg 2011, 150 Seiten, 12,80 Euro * ISBN: 978-3-89965-453-0

Quelle: www.jungewelt.de vom 12.07.11

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, 12. Juli 2011 um 10:39 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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