In Berlin begannen am Mittwoch die Verhandlungen zwischen der SPD und der CDU über eine Koalition zur Bildung einer neuen Landesregierung. In der vergangenen Woche war das von der SPD ursprünglich angestrebte Bündnis mit den Grünen endgültig geplatzt, da der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit auf einem Bekenntnis zum Weiterbau der innerstädtischen Autobahn A100 bestand, was von den Grünen abgelehnt wurde. Zuletzt hatten diese angeboten, rund ein Viertel der geplanten 3,2 Kilometer langen Trasse zu realisieren, was der SPD aber nicht ausreichte. Zudem war Wowereit die knappe Mehrheit von nur einer Stimme, die eine rot-grüne Koalition im Abgeordnetenhaus haben würde, offenbar ein zu großes Risiko für eine Regierungsbildung.
In der CDU hatte nach der Wahl am 18. September wohl kaum jemand damit gerechnet, von der SPD als Juniorpartner auserkoren zu werden. Im Zuge des Berliner Bankenskandals war die zuvor mit Abstand stärkste Partei der Hauptstadt 2001 regelrecht aus dem Rathaus gefegt worden. Die alte Führungsriege um den langjährigen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und den Multifunktionär Klaus-Rüdiger Landowsky mußte abtreten, und die Partei zerlegte sich gründlich in konkurrierende Bezirksklüngel. Statt der gewohnten 40 Prozent plus x dümpelt die Partei bei Wahlen seitdem rund um die 20-Prozent-Marke. Dem seit Herbst 2008 amtierenden Fraktions- und Landesvorsitzenden Frank Henkel ist es allerdings gelungen, die Bezirksfürsten weitgehend zu entmachten und die Partei wieder handlungsfähig zu machen, nachdem zuvor Frank Steffel und Friedbert Pflüger als Frontfiguren genüßlich demontiert worden waren. Zudem wurde mit Thomas Heilmann als seinem Stellvertreter ein Werbeprofi für die Berliner CDU-Spitze gewonnen, der die Partei mit klaren wirtschaftspolitischen Aussagen, z.B. zur Zukunft der Berliner S-Bahn, wieder stärker profilierte. Dagegen ist die SPD der Hauptstadt mittlerweile eine One-Man-Show. Funktionäre und Basis haben nichts zu melden und werden von Wowereit permanent vor die Alternative gestellt, ihm entweder blind zu folgen oder seinen Abgang in Kauf zu nehmen. Entsprechend reibungslos verlief auch der Koalitionsverhandlungsschwenk in Richtung CDU.
Zu Beginn der Gespräche erläuterte der mit SPD-Ticket amtierende parteilose Finanzsenator Ulrich Nußbaum am Mittwoch den finanziellen Rahmen künftigen Regierungshandelns. Berlin sitzt auf einem Schuldenberg von 63 Milliarden Euro und ist zudem durch die sogenannte Schuldenbremse dazu verpflichtet, die Nettokreditaufnahme bis zum Jahr 2020 auf Null zurückzufahren. Ein ausgeglichener Haushalt wird für 2016 angepeilt. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen 800 Millionen Euro Minderausgaben gegenüber bisherigen Ansätzen realisiert werden. »Gespart« werden soll sowohl bei den Investitionen als auch bei den Personal- und Sozialausgaben. Allein bei der Beschäftigungsförderung für Erwerbslose will Nußbaum 38 Millionen streichen. Der CDU wird man wohl zur Gesichtswahrung eine eher symbolische Personalaufstockung bei der Polizei und der Justiz zugestehen. Mehreinnahmen könnte u.a. eine sogenannte City-Tax bringen, die Berlin-Touristen pro Besuchstag entrichten. Dies lehnt die CDU bislang ab.
Andere Streitpunkte in den Verhandlungen könnten ferner die von der SPD angestrebte Rekommunalisierung der Wasserbetriebe und der Stromnetze sowie der Erhalt von Landesbetrieben wie der Verkehrsgesellschaft BVG und der Stadtreinigung sein. Die CDU setzt dagegen auf weitere Privatisierungen. Einig ist man sich dagegen bei den großen Infrastrukturprojekten wie dem Ausbau der A100 und des Flughafens in Berlin-Schönefeld. Und auch auf dem traditionellen Schlachtfeld Schulpolitik wird es wohl recht ruhig zugehen. Die CDU hat sich längst mit der Abschaffung der Hauptschule arrangiert, die SPD will die Gymnasien nicht antasten. Kleinere Scharmützel könnte es um das jahrgangsübergreifende Lernen und die Förderung von Privatschulen geben. Beide Seiten betonen jedoch nahezu stündlich, daß es keine »unüberwindlichen Hindernisse« für ein Regierungsbündnis gebe. Die Verhandlungen werden jetzt in Arbeitsgruppen fortgesetzt und sollen Mitte November abgeschlossen sein.
Quelle: www.jungewelt.de vom 13.10.11.
Berthold Huber bleibt gemäßigt. Das machte der neue und alte IG-Metall-Chef bei seinem »Zukunftsreferat« am Mittwoch in Karlsruhe deutlich. Erneut sprach er sich für den Euro aus, von dem die deutsche Wirtschaft profitiere. Bei einem Pressegespräch deutete Huber an, eine negative Konjunkturentwicklung könne zu einer niedrigeren Forderung bei der anstehenden Metalltarifrunde führen. Zudem plädierte er für flexible Arbeitszeiten und betonte, die Eigentumsfrage sei zweitrangig.
»Wir sind für den Euro, die deutsche Wirtschaft profitiert vom Euro-Raum«, stellte der am Vorabend wiedergewählte Gewerkschaftschef klar. Über 60 Prozent der deutschen Exporte gingen in die EU. Daher sei die europäische Integration eines »unserer« wichtigsten Projekte. Huber sprach sich für »einen echten europäischen Währungsfonds« und einen »europäischen Marshallplan« für die kriselnden Länder Südeuropas aus. Zudem forderte er eine »einheitlich agierende und mit Weisungsrecht ausgestattete Wirtschaftsregierung« für die Europäische Union.
Schwierige Tarifrunde
»Wir sind immer noch mittendrin in einer Banken- und Schuldenkrise, die jederzeit auf die Realwirtschaft durchschlagen kann«, warnte Huber. Staaten drohe der Zusammenbruch, und niemand wisse, wie sich die Auftragslage der Unternehmen weiterentwickeln werde. Auf Pressenachfragen konkretisierte er, daß manche Stahlwerke trotz guter Zahlen im laufenden Jahr bereits vor einer neuerlichen Kurzarbeitswelle stehen könnten. Für den Fall eines erneuten Abgleitens in die Rezession müsse ein neues Interventionsprogramm aufgelegt werden, das über »Zukunftsanleihen« finanziert werden könne. Zudem forderte der IG-Metall-Vorsitzende, die maximale Dauer der Kurzarbeit nicht zu verkürzen, sondern bei 24 Monaten zu belassen. »Wir sollten die Krisenmechanismen, die sich bewährt haben, auf Standby stellen und aktivieren, wenn wir sie brauchen.«
Sollten die pessimistischen Konjunkturszenarien eintreffen, würde die IG Metall bei der im Frühjahr anstehenden Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie in eine schwierige Position geraten. »Wir haben kein Interesse daran, in eine Situation zu kommen wie 2008, als wir mit Vollgas in die Garage fahren mußten«, sagte Huber. Seinerzeit ging die Gewerkschaft mit der vergleichsweise ambitionierten Forderung nach Einkommensverbesserungen von acht Prozent bei einer Laufzeit von zwölf Monaten in die Verhandlungen. Wegen des – von der IG-Metall-Spitze zunächst ignorierten – Absatzeinbruchs bremste sie plötzlich ab und vereinbarte Lohnerhöhungen von lediglich zweimal 2,1 Prozent bei einer Laufzeit von 18 Monaten. Huber hatte dieses Ergebnis in seinem Rechenschaftsbericht zwar als »guten Tarifabschluß« bezeichnet, kündigte vor dem Hintergrund der Erfahrung von 2008 jedoch an, die Positionen für 2012 möglichst spät zu formulieren. Man werde über die Lohnforderung auf Grundlage der Herbstgutachten der Wirtschaftsinstitute sowie der ökonomischen Lage der Betriebe entscheiden. Demnach würde die IG Metall – so ist zu vermuten – ihr Tarifziel bei schlechter Wirtschaftsentwicklung absenken, obwohl aufgrund der langen Laufzeit des 2008er-Vertrags bei den Beschäftigten enormer Nachholbedarf besteht.
Potentiale des Marktes
Weitere Aussagen, die bei linken Gewerkschaftern Befürchtungen auslösen könnten, betreffen die Arbeitszeit. Bei seinem Referat hatte sich Huber auf die Forderung konzentriert, geleistete Arbeitsstunden dürften nicht verfallen. »Arbeit zum Nulltarif – das darf es nicht geben, das ist eine Enteignung der Beschäftigten.« Geleistete Arbeitszeiten müßten allesamt erfaßt und durch Freizeit oder Geld abgegolten werden. Zur Länge der Arbeitszeiten sagte der Vorsitzende allerdings nichts. Darauf angesprochen, erklärte er gegenüber der Presse, die 35-Stunden-Woche stehe weiterhin im Zentrum. »Aber es muß Schwankungsmöglichkeiten nach oben und unten geben.« Insbesondere »Beschäftigte außerhalb der unmittelbaren Produktion« müßten zum Beispiel bei familiären Bedürfnissen kürzer, bei Projekten aber auch länger arbeiten können. Dieser Punkt sei indes »heftigst umstritten«, räumte Huber ein.
Seine politische Strategie nannte der IG-Metall-Chef »linken Reformismus«. Er sei immer wieder über die »Potentiale des Marktes« erstaunt, von dessen »Exzessen« aber abgestoßen, erzählte er. »Eine Revolution und die Abschaffung des Marktes halte ich deshalb weder für realistisch noch für sinnvoll.« Der zentrale Konflikt sei, ob der Markt die Gesellschaft beherrsche oder diese »die positiven Mechanismen von Märkten« nutze. Es gehe darum, letztere »zu zähmen«. »Die Eigentumsfrage ist dabei nachrangig«, so Huber. Überraschend sind solche Worte aus dem Mund des obersten IG-Metall-Funktionärs nicht. Bemerkenswert ist allerdings, daß er in seinem Referat ausführlich auf das Thema einging. Das könnte man wiederum als Hinweis darauf interpretieren, daß die Diskussion über grundsätzliche Alternativen angesichts der kapitalistischen Dauerkrise auch in der IG Metall wieder stärker geführt wird.
Quelle: www.igmetall-gewerkschaftstag-2011.de
Nachdem Kuba zunächst nicht in den am 4. November vergangenen Jahres veröffentlichten Index für menschliche Entwicklung (HDI) des UN- Entwicklungsprogramms (UNDP) für 2010 aufgenommen wurde, will der Karibikstaat einen eigenen Bericht über die Verteilung des Wohlstands innerhalb seiner Grenzen erstellen. Diese vom UNDP unterstützte Entscheidung Havannas ist das Ergebnis eines Besuchs des zuständigen UN-Direktors Khalid Malik, der Ende September die Insel bereist hatte.
Ein Hauptziel der Reise Maliks war dabei die offizielle Vorstellung neuer Methoden, die eine rückwirkende Berücksichtigung Kubas im HDI 2010 ermöglichten. Nach Angaben des UNDP war der Karibikstaat damals zunächst ausgeschlossen worden, weil keine international berichteten Informationen zu einem der drei benötigten Indikatoren Gesundheit, Bildung und Einkommensentwicklung vorgelegen hätten. Auf deren Grundlage wird der HDI-Wert errechnet, der letztlich für das Ranking verantwortlich ist. UN-Experten führten zudem an, daß Vergleiche wegen der zwei in Kuba geltenden Währungen schwierig seien. »Es wurden sehr ungewöhnliche Zahlen übermittelt, weil es zwei verschiedene Wechselkurse gab«, erklärte Malik. Möglicherweise sei es nicht die richtige Entscheidung gewesen, Kuba deswegen aus dem Vergleich für 2010 auszuschließen, räumte er ein. Die Verantwortlichen für den Bericht haben laut Malik inzwischen jedoch viel Zeit darauf verwendet, eine verläßliche Methode zu entwickeln, um unter Umgehung der Währungskonversion dennoch zu richtigen Ergebnissen zu kommen. Auf dieser Grundlage seien die für Kuba vorliegenden Zahlen aus den vergangenen Jahren überarbeitet worden.
Der rückwirkenden Einschätzung zufolge hätte Kuba im HDI 2010 den 53. Rang belegt und würde damit zu den Staaten mit einer hohen menschlichen Entwicklung gehören. Im Vergleich zu den anderen lateinamerikanischen und karibischen Ländern läge Kuba an sechster Stelle. Insbesondere im Bereich der Bildung könne Kuba Erfolge vorweisen, heißt es aus dem UN-Büro. »Kuba ist das einzige Land Lateinamerikas, in dem im vergangenen Jahrzehnt die Lebenserwartung um zwei Jahre und die Zeit der Schulbildung um fünf Jahre gestiegen ist«, erklärten die UN-Analysten Francisco Rodríguez und Clara García.
Die Auswirkungen des seit fast 50 Jahren geltenden US-Handelsembargos gegen Kuba können mit der Methode allerdings nicht bestimmt werden.
Quelle: (IPS/jW); www.jungewelt.de vom 13.10.11
Seit einem knappen Jahrzehnt führen deutsche Truppen in Afghanistan Krieg. Schriftsteller haben sich bislang um diesen Stoff wenig gekümmert. Man mag dazu bemerken, daß fast alle wichtigen Romane über den Ersten oder Zweiten Weltkrieg erst mehr als ein Jahrzehnt nach Ende der Kämpfe erschienen; daß Literatur ein langsames Medium ist und Zeit braucht. Aber vorher gab es eben doch unzählige weniger wichtige Bücher, von denen die meisten heute vergessen sind.
Warum also diese Zurückhaltung? Ein Grund ist sicher, daß es den Autoren an eigener Erfahrung fehlt und damit an Detailwissen, das literarisch verarbeitet werden könnte. In den Weltkriegen kamen ganze Jahrgänge ins Militär, damit viele Männer an die Front. Den heutigen Schriftstellern bleibt dies erspart, und wer im Westen aufwuchs, dürfte zur Gruppe der Kriegsdienstverweigerer gehören. Mit einer solchen Lebensgeschichte ist man auf der sicheren Seite, wenn man das abertausendste Buch über den Zweiten Weltkrieg schreibt. Den hat man zwar auch nicht erlebt, aber dafür gibt es mittlerweile erprobte literarische Muster.
Zweitens ist die Gesellschaft gegenüber der Tatsache, daß Deutschland im Krieg ist, relativ gleichgültig, denn bislang sind nur wenige von den Folgen betroffen. Zwar gibt es eine politische Opposition, doch ist sie klein; ein allgemeines Gemurre ist größer, aber folgenlos. Für keine Partei ist die Friedensfrage entscheidend dafür, gesellschaftliche Hegemonie zu erringen.
Nicht, daß es an politischen Appellen fehlen würde. So unterschiedliche Autoren wie Günter Grass, Uwe Timm und Martin Walser haben sich öffentlich für ein Ende der deutschen Beteiligung am Krieg ausgesprochen. Es fällt aber auf, wie zurückhaltend und abgewogen die Texte formuliert sind. Vergebens sucht man den Zorn, mit dem ein Peter Handke auf die NATO-Bomben auf Belgrad reagierte. Ebenso fehlt die moralisierende Menschenrechtsrhetorik, die ein Wolf Biermann oder Peter Schneider damals zur Rechtfertigung des westlichen Imperialismus aufboten.
Letzte Blicke auf den Faschismus
Afghanistan ist geschichtspolitisch neutrales Gebiet. Niemals zuvor kämpften dort deutsche Soldaten, und es fehlt an ethnisch begründeten Morden, die man polemisch mit Naziverbrechen parallelisieren könnte. Getötet wird, aber aus anderen Gründen. Wenn heute deutsche Soldaten sich daran beteiligen, so gilt das kaum mehr als Skandal.
Entsprechend selten sind in der Literatur Bezüge auf die faschistische Vergangenheit. Eine Ausnahme ist hier Boris Alexander Knops Theaterstück »Deutsch-Afghanistan«, das bereits 2002 entstand und etwas überarbeitet 2009 uraufgeführt wurde. Im Zentrum des Stücks steht die Zurichtung von Männern und auch Frauen zu brutalisierten, einsatzfähigen Soldaten.
Doch gibt es ein Motto, das das Werk durchzieht und auf eine problematische Nationalgeschichte verweist: »Ich könnte weinen. Deutsche, ihr Idioten!« Entsprechend sieht der kommentierende Chor eine »NEUE/DEUTSCHE/REICHSWEHR« im Einsatz, bricht ein Kriegsschiff vom »ehemaligen Reichshafen Kiel/Ostsee« auf, loben an Bord dieses Schiffes deutsche Beamte den Jugoslawien-Einsatz der Bundeswehr als Fortführung der »Verteidigung«, die das Naziregime betrieben habe, und läßt der Autor in Kabul einen »CSU-Kongreß zur AuSSenpolitik« stattfinden, auf dem eine »BLUTSBRÜDERSCHAFT« mit dem »indogermanischen« afghanischen »Mitvolk« beschworen wird.
Doch weiß Knop, daß sich seit 1945 manches geändert hat. Nun soll nicht mehr Deutschland, sondern »unser Hab und Gut/ÜBER/ALLES/IN DER WELT« stehen – der imperiale Freihandel wird eben auch am Hindukusch verteidigt. Überhaupt montiert Knop alte Formeln neu: »Weltfrieden schaffen mit intelligenten Waffen« – so zeigt er, was aus den Grünen, die sich früher einmal als Bestandteil der Friedensbewegung ausgaben, geworden ist. Eine andere Formel, die er aufnimmt und verwandelt, lautet bei ihm: »VON DEN AMERIKANERN LERNEN HEISST SIEGEN LERNEN«. Bedenkt man, daß den sozialistischen Ländern der Propagandaslogan: »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« sich in der Praxis zuletzt, seit Gorbatschow, nicht bewährt hat, und zudem die Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan, so läßt dies kaum einen im Sinne der NATO erfolgreichen Ausgang des Konflikts erwarten.
Knops Deutschland ist ambivalent zwischen nationaler Unterordnung unter die westliche Führungsmacht und national-imperialer Tradition verortet. In einer Politikerrede an Soldaten, die nach Afghanistan entsandt werden, werden einander widersprechende Formeln gereiht. Die Abfolge von »IM NAMEN DES/DEUTSCHEN VOLKES« und »OH AMERIKA IST GROSS«, von »DEUTSCHLAND GLAUBT AN SIE« und »GOD BLESS YOU« zeigt eine Übergangssituation zwischen nationalem Interesse und Bündnistreue.
Ganz anders ist die Anlage von Timo Hemmanns Roman »Und weil die Stunde kommt« von 2007. Der Autor hat sich keinen Gefallen damit getan, im Titel auf Hemingways Bürgerkriegsbuch »Wem die Stunde schlägt« anzuspielen – ein Vergleich läßt seine hanebüchene Psychologie und schlampige Handlungsführung um so deutlicher hervortreten. Hauptfigur ist der Journalist Paul, mehrfach betont als »der Deutsche« bezeichnet. Paul hält sich zu Recherchen in einem Lager der afghanischen Guerilla auf. Dort ist auch der zwölfjährige Kriegswaise Haydar, der zum Kämpfer ausgebildet wird. Haydar, dessen Eltern von sowjetischen Soldaten getötet wurden und der auch selber schon gekämpft hat, ist vom Krieg schwer traumatisiert. Paul heilt ihn mittels einiger Plaudereien und durch den Hinweis darauf, wie wichtig Menschlichkeit doch sei. Um den Jungen in Sicherheit zu bringen, flieht er mit ihm bis nach Indien, wo es den beiden gelingt, sich trotz terroristischer Umtriebe der Aufständischen in ein Flugzeug nach Deutschland zu retten. Haydar kommt in eine glückliche Familie und wird Ehrendeutscher; Paul legt den neuen Geburtstag des Jungen auf den Nationalfeiertag am 3. Oktober fest.
Die faschistische Vergangenheit wird nirgends explizit erwähnt. Allerdings erinnert sich Paul mehrfach an Kriege, über die er berichtet hat. So hat er früher einmal deutsche Soldaten, die Kindern warme Schuhe bringen wollten, in die afghanischen Berge begleitet. Statt daß er Fotos »von lachenden Kindern, deren Füße bei minus zwanzig Grad endlich in warmen deutschen Schuhen stecken durften« machte, fuhr ihr Jeep jedoch auf eine »russische« Mine, und drei Soldaten starben. Dem ist unmittelbar eine Episode kontrastiert, in der Paul einen Hamas-Vertreter interviewte, der dabei von einer israelischen Rakete getroffen wurde, die auch einige Kinder tötete.
Juden als Kindermörder, deutsche Soldaten als Opfer beim Versuch, rettende Schuhe zu bringen: Das ist eine krude Travestie der Auschwitz-Ikonograpie, zu der Haufen von Schuhen ermordeter Opfer gehören. Der Einwand, daß im Gaza-Gebiet ja tatsächlich auch Kinder getötet werden, trägt nicht. Hemmanns Verknüpfung der beiden Ereignisse zeigt, daß es ihm vor allem um die Entlastung der Deutschen und ihrer Armee im Kriegseinsatz geht.
Entsprechend kommen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs blutdürstig daher. Ob es sich um die »Russen« in Afghanistan oder die USA handelt, in diesem Roman ist alles eins. Doch vertritt Paul gegenüber dem Kommandanten der Guerilla eine klare Trennung zwischen amerikanischer Aggression und deutschen »Einsätzen für den Frieden« im Auftrag des Weltsicherheitsrats. Angesichts der faktischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den USA in Afghanistan ist diese Trennung zwar nur schwer zu begründen. Sachlich richtig verweist denn auch der Guerillachef genau auf diesen Punkt. Doch ist er durch den »Haß« in seinen Augen ebenso ins Unrecht gesetzt wie durch den späteren Handlungsverlauf, in dem er sich gegen Paul und dessen Schützling wendet.
So ganz genau weiß Hemmann am Romanende nicht mehr, was er in der Mitte des Buches geschrieben hat. Dann nämlich klagt Paul darüber, daß Deutschland als »Hilfssheriff« dem »großen Bruder« USA »beim Erringen der Weltherrschaft behilflich zu sein« versuche. Doch wird immerhin klar, daß er dieses Bündnis negativ beurteilt.
Darüber besteht ohnehin weitgehend Einigkeit. Exemplarisch steht dafür Wolfgang Schorlaus Kriminalroman »Brennende Kälte«, erschienen 2008. Hier geht es um einen traumatisierten Kriegsheimkehrer, der im Besitz einer neuartigen Waffe ist, eine Art modernisierter Flammenwerfer auf Mikrowellenbasis. Es handelt sich zwar um eine deutsche Entwicklung, weshalb auch BKA-Beamte im Verlauf der Handlung mit ihren Vertuschungsversuchen als Schurken auftreten. Anders als bei Hemmann sind die Deutschen skrupellos; nur, sie sind zu dumm und zu langsam. Als es endlich darum gehen soll, die Waffe in der Praxis zu erproben, stellt sich heraus, daß die USA bereits seit Jahren über solch ein Gerät verfügen. Die deutschen Spezialisten können nur zuschauen und dann auf Befehl ihrer Verbündeten die verkohlten Leichen wegtragen.
Der Afghanistan-Krieg wird bei Schorlau als Vernichtungskrieg gegen die afghanische Zivilbevölkerung dargestellt. Wenn auch die Haupthandlung in Deutschland spielt, so sind doch Berichte aus dem Kampfgebiet einmontiert. Dabei werden Krankenhäuser bombardiert, Zivilisten ermordet, Gefangene mißhandelt und erscheinen Hausdurchsuchungen als Mittel, die Bevölkerung zu terrorisieren. Für all diese Verbrechen tragen amerikanische Truppen die Verantwortung. Dies verweist auf den weiteren Punkt, der die Machtverhältnisse innerhalb der Allianz betrifft. Bereits im ersten der Berichte wird deutlich, daß die deutschen Spezialkräfte von den Amerikanern nur als wenig brauchbare Hilfstruppen angesehen werden. Sie bekommen eine »bessere Müllhalde« als Standort zugewiesen, bleiben bei Einsätzen außen vor und erweisen sich allein dadurch als brauchbare Partner, daß sie dank großzügiger Lieferungen den Alkoholnachschub zu sichern vermögen.
Bei Hemmann erscheinen die Deutschen im Kontrast zu den US-Amerikanern als gut, bei Schorlau als die nachhinkenden Möchtegernmörder. In Roger Willemsens Reisebericht »Afghanische Reise« von 2005 ist der Blick differenzierter: Zwar konstatiert ein Gesprächspartner, die Deutschen seien beliebter als die Amerikaner oder Briten – doch wird auch reflektiert, daß dies lediglich eine Folge der Arbeitsteilung ist, nach der, seinerzeit, sich die Deutschen weitgehend auf Polizeiausbildung und Stromversorgung konzentrierten. Das dürfte sich inzwischen erledigt haben.
Die USA stellt Willemsen als Staat dar, der foltert, der auch seine afghanischen Hilfstruppen gewissenlos opfert und der sich um die Details des Landes, das ihnen zum Opfer fällt, nicht weiter kümmert. Auch die Bombardements von 2001 werden gleich eingangs abgelehnt: Niemand, der sie befürworte, könne als human gelten; die Amerikaner hätten, wie zuvor die »Russen«, das Land »aus der Luft bekämpft«. Die Abwertung der USA kommt auch kulturalistisch daher. So ist die Rede vom »Stolz des Volkes, das jetzt in eine Kultur geschoben wird, die nicht die seine ist, in westliche Demokratie, Welthandel, in die Internationale der Unterhaltung und des Fastfood«. Auch die beifällig zitierte Äußerung eines Afghanen: »Die Amerikaner haben erst seit 120 Jahren Elektrizität. Wir haben seit viertausend Jahren Kultur«, gehört in diesen Zusammenhang.
Afghanen
Das Argument, daß irgendwer eine Kultur habe, die es zu respektieren gelte, gehört zum Standardrepertoire vieler Antiimperialisten. Allerdings besteht in Gesellschaften selten Einigkeit, was zum kulturellen Kernbestand zählt und was daraus in der Praxis folgt. Die afghanischen Kommunisten hatten darüber ganz andere Ansichten als die zahlreichen islamistischen oder völkischen Mörderbanden, die mit CIA-Geldern zum Sieg kamen und fortan bestimmten, was als afghanische Kultur zu gelten habe, soweit ihnen das wechselseitige Abmetzeln dafür noch Zeit ließ.
Willemsen hingegen will die afghanische Kultur vorstellen und vergißt dabei, daß er über eine Gesellschaft schreibt, die sich seit Jahrzehnten im Kampf um verschiedene Inhalte der Kultur befindet. Er nimmt das Widersprüchliche durchaus wahr, doch wird dies nicht zum Anlaß von Überlegungen oder wenigstens Irritation. Statt dessen schert er sich nicht um Inkonsequenzen. Mal lobt er die jahrtausendealte Tradition, mal jedoch lobt er, daß der afghanische König schon in den zwanziger Jahren die Gleichstellung von Mann und Frau durchgesetzt habe. Nie weiß er so recht, ob er nun Afghanistan an seinen eigenen, westlich-liberalen, Maßstäben messen soll oder nicht.
Unter den hier vorgestellten Texten steht sein Reisebericht damit am ehesten dem Roman Hemmanns nahe, in dem Paul wortreich die Bedeutung der islamischen Kultur beteuert, Haydar dann aber doch lieber zu einem deutschen Jungen macht. Sonst fehlt das Thema; auch weil meist Afghanen überhaupt fehlen.
Bei Hemmann sind sie klischeehafte Stichwortgeber ohne jede Persönlichkeit; ganz anders weiß Willemsen, wenn’s auch mit seinem Denken manchmal hapert, die Leute, die er trifft, doch anschaulich vorzustellen. Mit Stereotypen arbeitet die kurze Erzählung »Fünf Tage in Bernstein« von Stephan Waldscheidt, 2007 in der Literaturzeitschrift Am Erker erschienen. Sie ist aus der Sicht eines 2005 in Kabul stationierten Bundeswehrsoldaten erzählt. Er verliebt sich in eine Afghanin an einem Verkaufsstand, an dem er regelmäßig auf Patrouillenfahrt vorbeikommt. Auch wegen der äußeren Umstände ist Kommunikation fast unmöglich. Desto lebhafter die Phantasie: So behauptet der Erzähler zu wissen, daß hinter Schleier oder Burka das Gesicht vieler Frauen »so üppig geschminkt war wie das einer Braut oder einer Hure« – was einen »fließenden Übergang« darstellen soll. Im folgenden Absatz jedoch korrigiert er sich: »Meine nicht ganz drei Monate in Kabul hatten genügt, mir das Denken der Männer, was Frauen angeht, zu eigen zu machen« – nämlich daß eine Frau ohne Schleier und Kopftuch »nur eine Nutte« sein könne. Es handelt sich also nicht um eine Sichtweise aus der rauhen Soldatenwelt, sondern die Gefahr, barbarische Gebräuche der Einheimischen zu übernehmen.
Immerhin bewegt sich die Erzählung insoweit im Umkreis exotistischer Literatur, als die fremde Frau bis zum Ende geheimnisvoll bleibt. Am Verkaufsstand wird auf das allzu berechenbar aufkreuzende Bundeswehrfahrzeug ein Anschlag verübt, und der Erzähler erfährt nie, ob die Geliebte davon wußte. Waldscheidt weiß das Schema vom westlichen Kämpfer und einheimischer Frau im Detail durchaus intelligent zu handhaben – überzeugender ist die Umkehrung, die Dirk Kurbjureit in seinem 2011 erschienenen Roman »Kriegsbraut« vornimmt.
Das Buch ist besser als sein Titel. Die Hauptfigur, Esther, wird Freiwillige bei der Bundeswehr und freut sich, als sie aus dem Kasernen-Einerlei nach Afghanistan abkommandiert wird. Sie erhält den Auftrag, regelmäßig militärische Präsenz bei einer Mädchenschule zu demonstrieren. Bei den Patrouillenfahrten verliebt sie sich in den Schulleiter Mehmet, der einerseits wegen seiner modernen Ansichten wohl von den Taliban verfolgt wurde. Andererseits weiß er dem Gestus der Überlegenheit, mit dem Esther auftritt, durch Hinweise auf den sexistischen Alltag in der Bundeswehr zu begegnen.
Hier ist es einmal der fremde Mann, der undurchschaubar bleibt, der – zu welchem Zweck? – vielleicht mit dem Feind zusammenarbeitet. Mehmet wirkt intellektuell überlegen; insofern ist das überkommende Geschlechterbild gewahrt. Obwohl Fremder, besitzt er einen komplexen und nur schwer durchschaubaren Charakter – dadurch sprengt Kurbjureit die von der Kolonialliteratur vorgefertigten Schemata.
Der Krieg kehrt heim
Esther kehrt, nachdem sie in einer Kampfsituation irrtümlich den Tod von Zivilisten herbeigeführt hat, desillusioniert nach Deutschland zurück. Bei Schorlau terrorisiert ein traumatisierter Soldat die heimische Gesellschaft. Er kommt am Ende ums Leben, womit sich die Frage, wie mit solchen Menschen umzugehen sei, in diesem Roman erübrigt. Bei Hemmann muß man über die Probleme nur mal vernünftig reden, und dann ist alles in Ordnung. Bei Knop ist die Angst der auf die Heimkehr hoffenden Mutter in einer Szene gezeigt. Die Frage danach, wie die Rückkehrer in die Gesellschaft zu integrieren seien, ist nur angedeutet. Dabei geht es weniger um Kampferfahrungen als um dehumanisierende Wirkungen militärischer Ausbildung überhaupt.
Einen anderen Zugang wählt Christa Weber in ihrem 2008 uraufgeführten Theaterstück »Sieben Witwen«. Der arbeitslose Robby, der sich als Berufssoldat verpflichtet, weil er keine andere Möglichkeit mehr sieht, tritt gar nicht auf. Im Zentrum des Stückes stehen seine Frau Lea und seine Mutter Evi. Zunächst ist die Pazifistin Evi gegen die Entscheidung ihres Sohnes, und Lea verteidigt ihn. Als die Nachricht eintrifft, daß Robby gefallen ist, kehrt sich das Verhältnis um: Nun dringt die Mutter darauf, sich an ökonomischen Notwendigkeiten zu orientieren, während Lea die Wahrheit über diesen Krieg herausfinden will. Sie findet Informationen über westliche Kriegsverbrechen und schafft es gegen Widerstände, zusammen mit anderen Witwen an den Ort des Geschehens zu reisen.
Nach der Rückkehr ist sie zunächst krank und spricht wie im Fieberwahn. Später aber vermag sie sich konkret zu erinnern. So gelingt es ihr, die wenigen Stunden zu schildern, in denen sie der militärischen Kontrolle entkam und einen authentischen Blick auf die Lage im Land werfen konnte. Dabei erlebte sie, wie brutal und rücksichtslos US-Truppen mit den Einheimischen umgehen und kommt zu dem Resultat, daß es sich um keinen Aufbaueinsatz handele, sondern um einen Krieg gegen die einheimische Bevölkerung. Am Ende setzen Evi und Lea ihre Hoffnung auf eine andere der sieben Witwen, die die beiden nicht nur bei der Bewältigung des Alltags unterstützt hat, sondern auch künftig Widerstand organisieren wird.
»Sieben Witwen« bietet damit eine Identifikationsmöglichkeit für Schwankende, die, den offiziellen Begründungen für den Krieg entgegen, zur Opposition geführt werden sollen. Die beiden Hauptfiguren entwickeln erst allmählich und in einem alles andere als geradlinigen Verlauf politisches Bewußtsein. Sie müssen sich dabei nicht nur mit den Konsequenzen ihrer Erkenntnisse herumschlagen, sondern auch mit Alltagsproblemen wie der Frage, wer sich um das Baby von Lea und Robby kümmert, wenn Lea nach Afghanistan fliegt. In mehrerlei Hinsicht steht damit politisches Handeln im Konflikt mit ökonomischen Notwendigkeiten und individuellen Verpflichtungen.
Auch bei Weber werden die Kriegsverbrechen von US-amerikanischen und britischen Truppen begangen. Einmontierte und vertonte Gedichte Erich Mühsams wie auch Hinweise auf die Nazivergangenheit einer der Firmen, bei der sich Evi bewirbt, versperren allerdings jedem Nationalpazifismus den Weg. Statt dessen sind hier Arbeit und Krieg ganz nahe an die Ökonomie gerückt.
Die Theaterautorin Dea Loher dagegen hat sich zwar zweimal mit der Figur des Kriegsheimkehrers befaßt. Doch spielt Politik bei ihr eine wesentlich geringere Rolle. Wo der Exsoldat in »Das letzte Feuer« (uraufgeführt 2008) im Krieg war, ist gar nicht erwähnt; seine Probleme werden ganz auf der Ebene privater Beziehungen gestaltet. Wichtiger ist hier »Land ohne Worte«, der Monolog einer Frau, die wohl aus Afghanistan zurückgekehrt ist. Der Name des Landes fällt auch in diesem Stück nirgends. Nur daß die Reise in ein Kriegsgebiet sie nach »k.« führte, was für Kabul stehen mag, daß das Land vermint ist, »fettschwanzschafe« und ein »bazar« sowie eine »verhüllte frau« deuten auf ein islamisch geprägtes Kriegsgebiet hin.
Die Sprecherin ist – oder war – vielleicht eine Malerin und machte probehalber den Versuch, das Land mit Farben zu erfassen. Der Vorsatz »ich wollte das licht malen«, erweist sich indessen als uneinlösbar. Als Ziel war zuvor formuliert worden: »ein weiß schaffen/quadrat fläche ebene/das zu den rändern hin unscharf ausläuft (…).« Oder, am anderen Ende des Lichtspektrums: »dunkles rot braun schwarz/braunbraunschwarzrot/holz feuer asche/wüste schritt explosion/himmel blitz hölle.« Doch weisen auch die realen Verletzungen, die sie sieht, diese Farbtöne auf. Das führt sie zu der Frage, inwieweit Kunst das Geschehen erfassen kann: »ich kann die bilder nicht vergessen/bilder verstehen Sie/keine farben keine flächen nichts abstraktes/konkrete/szenen/concrete scenes.«
Die ästhetisierende Schlußwendung wehrt allerdings den Einbruch des Konkreten ab, indem das Kriegsgebiet wieder wie ein Kunstwerk erscheint – jetzt eben nicht mehr wie ein Bild, sondern wie eine Performance. Wo in diesem Monolog von Erfahrung die Rede sein soll, lenkt die Rede doch immer auf vorgeformte Muster der künstlerischen Moderne zurück. Und in Gegensatz zum Titel, der ein »Land ohne Worte« verspricht, besteht dieses Theaterstück nur aus Worten und legt keinerlei Handlung auf der Bühne nahe.
Es handelt sich nicht um Unvermögen, sondern um einen bewußt gestalteten Gegensatz. Auch kann Loher, wenn sie gerade einmal keine Stücke schreibt, Gesellschaft genau beobachten: In ihrer Rede zur Verleihung des Bertolt-Brecht-Literaturpreises 2006 wußte sie genau über ihre Theaterarbeit zu berichten. Vielmehr scheinen bestimmte, in der Hochkultur hegemoniale Ideologien das Problem zu sein.
Richtig ist, daß Kriege medial inszeniert werden; falsch ist, daß man, spricht man über sie, stets das Mediale in den Mittelpunkt stellen müsse. Richtig ist, daß Kriegserfahrungen schwer kommunizierbar sind; doch versucht Literatur stets das in Worte zu fassen, was sich sonst nicht ohne weiteres sagen läßt. Falsch ist es daher, einen Unsagbarkeitstopos anzubeten und auf das Sagen dessen, was immerhin gesagt werden könnte, zu verzichten.
Die anderen hier vorgestellten Autoren lassen sich davon denn auch nicht beeindrucken. Sie gestalten, auf ganz unterschiedliche Weise, den Krieg als deutschen Krieg – nur noch selten in bezug auf den Faschismus, sondern häufiger mit kritischem Blick auf das Verhältnis zu den USA. Die Afghanen, soweit sie überhaupt auftauchen, gewinnen kaum je scharfe Konturen. Als Feindbild fungieren sie nie. Zumeist ist ihr Hauptzweck, die Deutschen zu spiegeln. Diese stehen in allen Werken im Mittelpunkt, zunächst als Kriegsteilnehmer, dann als Rückkehrer, die den Krieg in die Heimat tragen. Mit solchen Figuren sich zu beschäftigen, wird die deutsche Literatur in den nächsten Jahren noch einigen Anlaß haben.
– Dirk Kurbjureit, Kriegsbraut, Rowohlt Berlin, Berlin 2011, 336 S., geb., 19,95 Euro
– Wolfgang Schorlau, Brennende Kälte, Kiepenheuer&Witsch, Köln 2008 352 S., brosch., 7,95 Euro
– Dea Loher, Land ohne Worte. Das letzte Feuer, Verlag der Autoren, Frankfurt/M. 2008, 130 S., brosch., 14 Euro
Kai Köhler ist Professor für Germanistik an der Hankuk University of Foreign Studies, Seoul
Quelle: www.jungewelt.de vom 13.10.11
Der Feldgendarm wachte darüber, daß vorn richtig gestorben wurde. Für viele war das gar nicht nötig. Die Hammel trappelten mit der Herde mit, meist wußten sie gar keine Wege und Möglichkeiten, um nach hinten zu kommen, und was hätten sie da auch tun sollen! Sie wären ja doch geklappt worden, und dann: Untersuchungshaft, Kriegsgericht, Zuchthaus, oder, das schlimmste von allem: Strafkompanie. […] Manche Nationen jagten ihre Zwangsabonnenten auch mit den Maschinengewehren in die Maschinengewehre. So kämpften sie. Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.
Es ist ungemein bezeichnend, daß sich neulich ein sicherlich anständig empfindender protestantischer Geistlicher gegen den Vorwurf gewehrt hat, die Soldaten Mörder genannt zu haben, denn in seinen Kreisen gilt das als Vorwurf. Und die Hetze gegen den Professor Gumbel fußt darauf, daß er einmal die Abdeckerei des Krieges „das Feld der Unehre“ genannt hat. Ich weiß nicht, ob die randalierenden Studenten in Heidelberg lesen können. Wenn ja: vielleicht bemühen sie sich einmal in eine ihrer Bibliotheken und schlagen dort jene Exhortatio Benedikts XV nach, der den Krieg „ein entehrendes Gemetzel“ genannt hat und das Mitten im Kriege! […]
Die Gendarmen aller Länder hätten und haben Deserteure niedergeschossen. Sie mordeten also, weil einer sich weigerte, weiterhin zu morden. Und sperrten den Kriegsschauplatz ab, denn Ordnung muß sein, Ruhe, Ordnung und die Zivilisation der christlichen Staaten.“
Anmerkungen von Wolfgang Huste: Die Texte von Tucholsky sind immer noch, immer wieder, aktuell! Auch heutzutage wird wie gehabt gestorben und gemordet – fürs Kapital. Auch heute werden Berufssoldaten für den „Ernstfall“ ausgebildet- dazu gehört auch die Ausbildung des „effektiven“ Tötens mit ebenso „effektiven Waffen“ im Krieg. Sie sind potentielles Kanonenfutter für die herrschenden Eliten, für das Kapital. Und so mancher meint, dass muß so sein, unterwirft sich noch freiwillig „denen da oben“- und meint vielleicht sogar im Ernst, er oder sie diene einer guten Sache. Auch hier heißt es: „Eure Sache ist nicht unsere Sache- eure Interessen sind nicht die unsrigen! Euer Freiheits- und Demokratiebegriff, die Freiheit der Ausbeutung, die Freihheit der Unterdrückung, ist nicht identisch mit unserem Freiheits- und Demokratiebegriff!“. Deswegen: Sagt NEIN! zu Kriegseinsätzen- überall! Diene dem Frieden, Deinem Mitmenschen und der Natur – nicht den VertreterInnen des Kapitals, nicht den Spekulanten und den Kriegsgewinnlern!
Im Laufe dieser Woche wurden in Berlin und Brandburg eine Reihe von größtenteils nicht gezündeten Brandsätzen an Bahnanlagen gefunden. Die politische Rechte versucht wie immer, davon zu profitieren.
In den Koalitionsverhandlungen in Berlin, zu denen die CDU wie die Jungfrau zum Kinde gekommen ist, profiliert sich ihr Vorsitzender Frank Henkel als law-and-order-Politiker. Vor einem neuen Terrorismus wie zu Zeiten der RAF wird gewarnt. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut, spricht von der „verharmlosenden Gewalt gegen Sachen“ , die sich jederzeit radikalisieren könne.
Gewalt gegen Sachen soll keineswegs verharmlost werden. Denn es kann niemals ganz ausgeschlossen werden, dass auch Menschen dabei zu Schaden kommen. Dass das „Hekla-Empfangskomitee“ in seinem Bekennerschreiben beteuerte, keinem Menschen Schaden zufügen zu wollen, ist ihm dennoch abzunehmen. Auch die Bahn AG selbst hat ein Entgleisen von Zügen wegen des Ausfalls der Signalanlagen für ausgeschlossen erklärt.
Die im Bekennerschreiben genannten Ziele der Gruppe sind durchaus richtig. Sie protestiert gegen Kriege von deutschem Boden aus und Waffenlieferungen in alle Welt; sie protestiert gegen die Ausplünderung anderer Kontinente und die Verarmung großer Teile der Bevölkerung – auch hierzulande; sie wendet sich gegen
den alltäglichen Leistungsdruck, der Menschen kaputt und krank macht. Doch die Wahl der Mittel ist falsch.
Und sie ist kontraproduktiv. Sie ist die Vorlage für die politische Rechte, all das zu diskreditieren, wofür die Linke in diesem Land steht. Die Forderungen der CDU in den Berliner Koalitionsverhandlungen nach mehr Videoüberwachung und mehr Polizei zeigen es. Die in Berlin vergleichsweise gut ausgestatteten Programme
gegen Rechtsextremismus sollten auf den Prüfstand, während Programme gegen „Linksextremismus“ gefordert werden. Während neofaschistische Anschläge auf linke Treffpunkte schon traurige Normalität sind, fabulieren Vertreter der CDU von einem neuen „Linksterrorismus“. Dafür können selbst Verfassungsschutz und
Bundeskriminalamt derzeit keinerlei Anzeichen erkennen. Den rechten Hardlinern sind solche analytischen Spitzfindigkeiten egal. Ihnen geht es um die Diffamierung jeder linken Politik, die über den tagespolitischen Tellerrand hinausschaut.
Gegen den Willen der übergroßen Mehrheit der Bundesbürgerinnen und -bürger verlängert die Bundestagsmehrheit ein ums andere Mal den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Dagegen ist Widerstand notwendig. Doch mit individuellen Sabotageaktionen auf den öffentlichen Nah- und Fernverkehr kann keine Antikriegsbewegung aufgebaut werden. Die von dem Verkehrschaos Betroffenen – überwiegend Werktätige und Studierende auf dem Weg zur Arbeit, zur Ausbildung oder zu ihren Familien und Freunden – werden sich deswegen nicht aktiv gegen den Afghanistan-Krieg wenden. Dazu kommt: Die Deutsche Bahn braucht wahrlich keine Brandsätze, um „entschleunigt“ zu werden. Das schaffen die Manager des Unternehmens im Zuge von Privatisierung und geplantem Börsengang schon alleine – auf Kosten der Bahnkundinnen und -kunden. Den Bundeswehreinsatz in Afghanistan können wir nur mit einer Massenbewegung beenden. Sabotageaktionen zu Lasten der Bevölkerung erweisen diesem Ziel einen Bärendienst. Darum: Lasst uns Sand im Getriebe der Kriegspolitik sein – massenhaft!
12. Oktober 2011
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Quelle: Ulla Jelpke, MdB
Innenpolitische Sprecherin
Fraktion DIE LINKE.
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Einwohner der Gemeinde Insel bei Stendal demonstrierten wochenlang gegen den Zuzug von zwei früheren Sexualstraftätern in ihr 720-Seelen-Dorf. Die Politik schaute weg, und es dauerte nicht lange, da kamen auch die Neonazis aus dem Umkreis. Am 30.September war deren Gruppe, die für Freitag eine weitere Aktion angekündigt hat, auf etwa 80 Personen angeschwollen. Ende vergangener Woche verkündete Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) schließlich den »freiwilligen Wegzug« der Männer.
»Wir sind nicht eure Therapie« stand auf Transparenten der Demonstranten. Organisiert hatte die Proteste Ortsbürgermeister Alexander von Bismarck. Den Medien teilte er mit, daß er damit den Dorfbewohnern ein Ventil für ihre Angst schaffen wollte. Als die Rechten auftauchten, begrüßte er sie als »Gäste«, berichtete die Mitteldeutsche Zeitung (MZ). Im September hatte es eine Anzeige gegen von Bismarck wegen Volksverhetzung und Nötigung gegeben. Die Staatsanwaltschaft hatte aber »aufgrund des fehlenden Anfangsverdachtes« keine Ermittlungen aufgenommen.
Stahlknecht bekundete nach dem Auftauchen der Rechten seine Sorge, daß die NPD, die in Dessau ursprünglich ihren Bundesparteitag abhalten wollte, die Altmarkgemeinde für ihre Zwecke mißbrauchen könnte. Er und Justizministerin Angelika Kolb (SPD) kritisierten den Bürgermeister scharf: Von Bismarck drehe an der »Eskalationsspirale« und gefährde einen »störungsfreien Integrationsprozeß der unter Aufsicht stehenden Betroffenen«. Im Verein »Miteinander« sah man das ähnlich. In einem offenen Brief an von Bismarck vom 4.Oktober warfen ihm dessen Mitglieder vor, »der Neonaziszene ein mediales Podium für ihre verfassungsfeindliche Agitation zum Umgang mit Straftätern gewährt zu haben«.
Von Bismarck hat die Demonstrationen nun eingestellt. Nach seinem Ultimatum an die Landesregierung, bis zum 15. Oktober eine behördliche Lösung vorzulegen, fand ein Gespräch zwischen Stahlknecht, dem Stendaler Superintendanten Michael Kleemann und den beiden Zugezogenen statt, berichtete die MZ am Wochenende. Im Ergebnis hätten die Männer schriftlich ihren Wegzug aus dem Ort erklärt.
Scharfe Kritik am Einknicken des Innenministers kam von der Linkspartei, den Grünen und einigen Sozialdemokraten auf der Landtagssitzung am 6. Oktober. Grünen-Chefin Claudia Dahlbert sagte, Stahlknecht habe sich in einer »One-Man-Show« zum »Agenten der Straße« gemacht. Die Linke erklärte, »das Grundrecht auf freie Wohnortwahl« sei mit Füßen getreten worden. »Ein Haufen Nazis darf sich nun gegenseitig auf die Schultern klopfen und einen vermeintlichen Erfolg feiern«, so die Abgeordnete Eva von Angern. Im Bemühen, den Haftentlassenen eine Chance zu geben, sei man gescheitert. Stahlknecht rechtfertigte sich gegenüber der Presse: »Selbst wenn der Wegzug der beiden Männer die schlechteste Lösung ist, mir wäre in dieser Situation keine bessere eingefallen.«
Die Neofaschisten haben ihre Demonstrationsanmeldung für Freitag aufrechterhalten. Eine Lösung für die Betroffenen ist bislang nicht gefunden. Das Justizministerium helfe jetzt bei der Wohnraumsuche, was sich allerdings schwierig gestalten könne, so die jüngsten Informationen des Ressorts gegenüber den Medien.
Quelle: www.jungewelt.de vom 12.10.11
Mike Nagler ist aktiv im Koordinierungskreis des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC
Der kommende Samstag ist der internationale Aktionstag gegen die Macht der Finanzwirtschaft – ausgerufen u. a. von der spanischen Bewegung »Democracia Real Ya!« und vom europäischen ATTAC-Netzwerk. Auch in Deutschland wird demonstriert, wo werden die Schwerpunkte liegen?
Unter dem Motto »Kein Ausverkauf der Demokratie« ruft ATTAC vor allem zum Protestmarsch zur Europäischen Zentralbank in Frankfurt/Main auf. Um 12 Uhr geht es am Brockhausbrunnen auf der Zeil los, um 14 Uhr finden vor der Bank eine Kundgebung sowie eine Volksversammlung nach spanischem Vorbild statt.
Insgesamt werden Proteste in mehr als 40 deutschen Städten stattfinden – weltweit in mehr als 300. ATTAC ist Teil dieser Bewegung, die sich weitgehend über das Internet organisiert. Ähnlich wie im Frühjahr in Spanien wird es Platzbesetzungen gegen die Kürzungs- und Privatisierungspolitik geben.
Vor allem junge Menschen wollen nicht länger hinnehmen, daß Privatbanken auf Kosten des Steuerzahlers gerettet werden sollen: Beispielsweise will man die griechische Regierung zwingen, ihre Bevölkerung auf Sparkurs zu bringen, um die Herrschaft der Finanzmärkte und der mit ihnen verbandelten korrupten Politiker zu sichern. Wir wollen uns in Deutschland den internationalen Protesten in New York, Madrid, Athen und London anschließen. Unsere CDU/FDP-Bundesregierung trägt Mitverantwortung dafür, daß Griechenland und anderen europäischen Ländern Kürzungsprogramme auferlegt werden.
Im Herbst 2010 hatte der Koordinierungskreis »AG Georg Büchner« eine Bankenblockade in Frankfurt/Main abgesagt, weil er eine zu geringe Beteiligung befürchtete. Wieso kommen Proteste in Deutschland eher schleppend in Gang?
Daran sind die Massenmedien nicht schuldlos. Sie verschleiern die wahren Gründe der Krise, die im System des Kasino-Kapitalismus stecken. Statt dessen polemisieren sie gegen die Griechen – vorneweg Bild: Faul seien sie, und sie lebten über ihre Verhältnisse. Das gipfelt dann in Erkenntnissen wie: Wir fleißigen Deutschen müssen jetzt für andere aufkommen, die Mist gebaut haben.
Viele junge Leute informieren sich aber über alternative Informationswege im Internet. Viele derjenigen, die bislang politisch nicht aktiv waren, nehmen mittlerweile wahr, daß die Regierenden mit der Finanzwirtschaft verfilzt sind. Sie verstehen, daß die Milliarden der Rettungspakete für Banken in den öffentlichen Kassen fehlen: Kein Geld für Schulsanierung, Bildung, Straßenbau oder öffentliche Schwimmbäder – für das private Bankensystem ist hingegen immer Geld da.
Demokratie-Defizite beklagen ist das eine – das andere sind konkrete Änderungen. Was fordern Sie?
Die Hauptforderung gilt der Mitbestimmung und Demokratie. Die Menschen nehmen immer stärker wahr, daß die Finanzmärkte global organisiert agieren und den Regierungen Regelungen vorschreiben. Das bringt uns zur Frage: Können wir uns dieses private Bankensystem überhaupt leisten? Wir sind der Meinung, daß es unter öffentliche Kontrolle gestellt werden muß.
Meinen Sie, daß diese Protestbewegung, die sich wie ein Lauffeuer über viele Hauptstädte ausgebreitet hat, ähnliche Ausmaße wie die Bewegung von 1968 im vergangenen Jahrhundert annehmen könnte?
Die damalige Bewegung – es war ja auch eine Antikriegsbewegung! – hat einiges bewirkt, aber viele ihrer Träume sind bis heute nicht eingelöst. Deutschland ist sogar drittgrößter Rüstungsexporteur geworden und an verfassungs- und völkerrechtswidrigen Kriegen beteiligt.
In der jetzigen Bewegung stehen die Eigentumsfrage und die Forderung nach demokratischer Mitbestimmung im Mittelpunkt. Die Bundesregierung ändert ja sogar die Verfassung ihrem neoliberalen Leitbild entsprechend, um die »Schuldenbremse« hineinzuschreiben. Sie repräsentiert uns nicht, sondern höhlt die Demokratie von oben aus. Deshalb gehen wir am Samstag auf die Straße.
www.ATTAC.de/europaweiter-aktionstag
Quelle: www.jungewelt.de vom 11.10.11
Nach schweren Auseinandersetzungen in Kairo am Wochenende hat der Militärrat die Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt deutlich erhöht. Zusätzliche Soldaten wurden vor dem Parlamentsgebäude sowie vor anderen zentralen Einrichtungen stationiert. Nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur MENA wurden Dutzende Menschen wegen des Verdachts der »Anstiftung zu Chaos« festgenommen.
Tausende koptische und andere Demonstranten hatten am Sonntag mit einem Sit-in vor dem staatlichen ägyptischen Fernsehgebäude protestiert. Anlaß war die Zerstörung einer Kirche im Süden des Landes. Der Zorn der Demonstranten richtete sich vor allem gegen Mustafa Al-Sayed, den Gouverneur der Provinz Assuan. Sie verbrannten dessen Bilder und forderten den Militärrat auf, Al-Sayed zu entlassen. Das staatliche Fernsehen beschuldigten sie, Hetze gegen die Christen anzuheizen.
Der friedliche Protest war in eine Straßenschlacht umgeschlagen, als Männer in Zivilkleidung mit Stöcken gegen die Demonstranten vorgingen. Aus Fenstern und von Balkonen hätten Personen Flaschen auf die Demonstranten geworfen, berichtete eine Reporterin. Andere Passanten und Anwohner, auch Muslime, seien den Demonstranten daraufhin zu Hilfe gekommen. Ein Augenzeuge sagte der britischen BBC, die Militärpolizei habe Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt, auch Schüsse waren zu hören. Die Straßenschlacht weitete sich bis auf den nahe gelegenen Tahrir-Platz aus. Steine und Molotowcocktails flogen, ein gepanzertes Fahrzeug der Militärpolizei raste in die Menschenmenge. Fernsehbilder zeigten, wie Demonstranten einen Soldaten angriffen, während ein Priester sich schützend vor ihn stellte. Ein Soldat war zu sehen, der angesichts der vielen Verletzten weinend zusammenbrach. Nach offiziellen Angaben wurden 24 Menschen getötet und 270 weitere verletzt. Am Montag kam es erneut zu Auseinandersetzungen vor einer Klinik, in der viele Opfer behandelt wurden.
Ministerpräsident Essam Scharaf rief die Bevölkerung am Montag zur Ruhe auf. Gewalt zwischen Muslimen und Christen bedrohe die Einheit und den politischen Wandel in Ägypten, sagte er. Beide Gruppen seien »Söhne Ägyptens«. Die Regierung werde nicht zulassen, daß »irgendeine Gruppe die nationale Einheit Ägyptens manipuliert oder den demokratischen Übergangsprozeß hinauszögert«. Für Ende November ist die erste Runde der Parlamentswahlen geplant.
Der Großimam der angesehenen Al-Azhar-Moschee, Scheich Ahmed Al-Tayeb, rief zu einem Treffen des überkonfessionellen Dialogprojektes »Familienhaus« auf. Auch die Opposition kündigte für Montag ein Sondertreffen an. Die EU forderte den Schutz der Kopten und eine Untersuchung. Bei den Auseinandersetzungen am Samstag habe es sich nicht um einen konfessionellen Konflikt gehandelt, sondern um einen Angriff auf eine Minderheit, hieß es in der englischsprachigen Onlinezeitung Al-Ahram. Die Attacke auf die Kopten durch einen aufgestachelten Mob sei vergleichbar mit den rassistischen Übgriffen auf Schwarze in den USA.
Rund zehn Prozent der 80 Millionen Ägypter sind Kopten. Bereits in der Vergangenheit ist es immer wieder zu Konflikten gekommen. Angriffe von dogmatischen Salafisten auf Kopten waren vom alten Regime zum eigenen Machterhalt instrumentalisiert worden. Deshalb wurde bereits die Vermutung geäußert, daß die Eskalation von dessen Anhängern provoziert wurde. Der Patriarch der koptisch-orthodoxen Kirche machte Provokateure für die Ausschreitungen verantwortlich, die sich »in den Demonstrationszug eingeschlichen« hätten.
Quelle: www.jungewelt.de vom 11.10.11
DIE LINKE.Rhein-Hunsrück beteiligt sich an der landesweiten Kampagne „Bundeswehr raus aus Afghanistan – zivil helfen!“
Seit mittlerweile zehn Jahren beteiligt sich Deutschland am grundgesetzwidrigen Angriffskrieg in Afghanistan. Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Altkanzler Gerhard Schröder entsandte die Soldaten unter dem Vorwand eines humanitären Einsatzes. Später prägte Rotgrün die Phrase, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt werde. Mit der steigenden Zahl der getöteten deutschen Soldaten, konnte die Mär vom humanitären Einsatz nicht mehr aufrechterhalten werden. Da wegen des Grundgesetzes das Wort „Krieg“ vermieden werden musste, sprachen die Kriegskoalitionäre verschleiernd von „kriegsähnlichen Auseinandersetzungen“. Der Krieg in Afghanistan ist seit dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten im Jahr 2001 immer weiter eskaliert. Von einer Befriedung kann keine Rede sein. In Afghanistan sind inzwischen über 130.000 NATO-Soldaten stationiert. Dazu kommen bis zu 160.000 private Söldner und Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen. Die Kampfhandlungen und die Zahl der getöteten Soldaten und Zivilisten steigt von Jahr zu Jahr. 2010 war das blutigste seit Beginn des Krieges.
Die Kriegskosten belaufen sich allein für Deutschland auf mindestens 17 Milliarden Euro, weitere 5 Milliarden Euro kommen bis 2014 hinzu. Im selben Zeitraum wurden 584 Millionen Euro an deutschen Hilfsgeldern ausgezahlt.
Roger Mallmenn, Kreisvorsitzender DIE LINKE.Rhein-Hunsrück: „Dieser Einsatz hat mit humanitärem Engagement oder mit einer Aufbauhilfe nichts zu tun. In Afghanistan herrscht Krieg. Dieser Krieg betrifft direkt unseren Kreis, auch wenn es von Teilen der Öffentlichkeit wenig wahr genommen wird. Die Fernmelder aus Kastellaun sind bei fast jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr mit dabei. Wie nah der Krieg in Afghanistan ist, wissen besonders die Soldaten, die in der Kastellauner Kaserne stationiert sind und bereits einen ihrer Kameraden betrauern mussten. Hinzu kommt, dass der Flughafen Hahn eine Luft-Drehscheibe für die militärischen Fracht- und Truppentransporte der amerikanischen Streitkräfte ist. DIE LINKE als einzig echte Friedenspartei im deutschen Bundestag fordert ein sofortiges Ende des Afghanistan Einsatzes, bei dem es nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren gibt.“
Vom 05.10.11