Die Wahrscheinlichkeit schwerer Reaktorunfälle wird durch die gängigen Risikoanalysen heruntergespielt. Zu diesem Ergebnis kam eine aktuelle Studie im Auftrag von Greenpeace, die von der Umweltschutzorganisation am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Das Beraterbüro »cervus nuclear consulting« hatte sich in der Studie mit den Mängeln in der sogenannten »Probabilistischen Risiko-Analyse« (PRA) befaßt, die unter anderem für die Ermittlung von Unfallwahrscheinlichkeiten verwendet wird.
Atomkraftwerke dürfen in Deutschland nur betrieben werden, weil das Risiko eines Kernschmelzunfalls als extrem gering eingestuft wird, betont Greenpeace-Experte Heinz Smital. Die »Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke« (DRS) von 1979 ging von einem derartigen Ereignis in 10000 fiktiven Betriebsjahren aus. Umgerechnet auf inzwischen über 400 Reaktorblöcke weltweit könnte es demnach schon alle 25 Jahre dazu kommen. Es gebe zwar Nachrüstprogramme, mit denen die Sicherheit um den Faktor zehn erhöht werden sollte, sagt der Physiker Heinz Smital, verweist aber darauf, daß sich in knapp über 30 Jahren tatsächlich fünf Kernschmelzunfälle ereignet hätten. Angefangen beim Reaktorunglück von Three Mile Island bei Harrisburg 1979 über die Atomkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl 1986 bis zur Dreifach-Kernschmelze nach dem schweren Erdbeben im japanischen Fukushima 2011. Eine solche Häufung könne zwar auch zufällig vorkommen, so Smital: »Es kann theoretisch auch zehnmal hintereinander ein Sechser gewürfelt werden.« Das aber sei extrem unwahrscheinlich.
Die tatsächliche Häufigkeit schwerer Unfälle könne durch die gängigen Wahrscheinlichkeitsanalysen nicht errechnet werden, da entscheidende Unfallpfade darin nicht abgebildet würden. Zu den nicht oder zu wenig berücksichtigten Faktoren gehören laut Dr. Helmut Hirsch von »cervus nuclear consulting« eine »schlechte Sicherheitskultur«, zu deutsch: »wenn geschlampt wird«, sowie unvorhergesehene Einwirkungen von außen oder Probleme an der Schnittstelle von Anlagen- und Bautechnik oder das Zusammenwirken verschiedener Umstände. Mehrfachausfälle von Sicherheitssystemen und Alterungsvorgänge in Atomkraftwerken sowie komplexes menschliches Fehlverhalten würden in der PRA nur unvollständig berücksichtigt. Mathematisch sei es zudem unmöglich, Terror- und Sabotagehandlungen in eine PRA zu einzubeziehen.
Fünf Beispiele von Störfällen in westlichen Reaktoren listet die Greenpeace-Studie auf, um die systematische Unterschätzung des atomaren Risikos zu belegen, darunter zwei in Deutschland: Die Wasserstoffexplosion im Kernkraftwerk Brunsbüttel 2001 und die durch nachlässig montierte Dübel ausgelöste Störung im Frischdampfsystem in Biblis 2006. Im gleichen Jahr hatte es im schwedischen AKW Forsmark einen Kurzschluß durch menschliches Fehlverhalten gegeben.
In Davis Besse im US-Bundesstaat Ohio war 2002 eine Borsäurekorrosion am Reaktordruckbehälterdeckel entdeckt worden – ein klassisches Beispiel für die Risiken des Zusammenspiels von Materialschwächen und über längere Zeit nachlässig durchgeführten Kontrollen. Im französischen AKW Cruas hatten schließlich 2009 Wasserpflanzen die Einlaufbauwerke verstopft, nachdem starke Regenfälle den Wasserstand der Rhone angehoben hatten. Dadurch fiel zeitweise die Kühlwasserversorgung in Block 4 aus, in den Blöcken 2 und 3 kam es zu Teilausfällen – ein klassisches Beispiel für unvorhergesehene Einwirkungen von außen.
Die Durchführung von Risikostudien sei zwar grundsätzlich sinnvoll, so das Fazit der von Greenpeace beauftragten Wissenschaftler. Es sei aber unzulässig, unter Berufung auf probabilistische Risiko-Analysen Unfälle in Kernkraftwerken praktisch auszuschließen. Greenpeace fordert daher einen schnelleren Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland, und zwar bis 2015. Auch im Ausland müsse die Bundesregierung auf ein Ende der Atomkraft dringen, betont die Organisation.
Quelle: www.jungewelt.de vom 01.03.12
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