Der „mit überwältigender Mehrheit“ (in Wirklichkeit: von zehn Personen) gewählte neue Präsident ist vereidigt worden. In dem von ihm geleisteten Eid hat er geschworen, seine Kraft dem Wohl des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm abzuwenden und Gerechtigkeit gegenüber jedem Mann (und Frau?) zu üben. Anschließend bat er das deutsche Volk um das Vertrauen.
Vom Vertrauen spricht er sehr viel, der neue Bundespräsident, der es nicht für nötig hält, zu dementieren, wenn man ihn öffentlich „Bürgerrechtler“ nennt (in einem Fernsehinterview hat er es – an die Wand gedrückt – übrigens getan), und der immer wieder beteuert, kein Superman und kein fehlerloser Mensch zu sein. Das haben wir bereits festgestellt. Gefragt nach seinen bereits geleisteten „Fehlern“, hatte er voller Demut eingeräumt, er wäre lernfähig. In welchem Sinne, hat er nicht gesagt. Will er seinen Standpunkt ändern oder seine Sprache besser beherrschen? Sicher, die Occupy-Bewegung, die Kapitalismus-Debatte und den Widerstand gegen die Macht der Banken als „unsäglich albern“ zu bezeichnen, ist kein guter politischer Zug, Sarrazin „mutig“ zu nennen ebenfalls nicht, und Demonstrationen gegen Agenda 2010 „albern und geschichtslos“ zu bezeichnen ist auch so eine Sache. Und jetzt der letzte Patzer: Gauck hat in seiner Rede von „Vertriebenen“ gesprochen – ist das nicht ein Begriff aus der Zeit des Kalten Krieges? Ein Bundespräsident, der im Jahre 2012 von „Vertriebenen“ spricht? Wie hieß es noch, „ich bin lernfähig“? Wollen wir es hoffen!
Gauck will ein Präsident werden, der polarisiert und aneckt, der sich nicht dem Mainstream anschließt. Doch was ist Mainstream? Die Meinung der Mehrheit, des Volkes, wenn man so will. Für Gauck ist es der (alberne?) „doktrinäre Zeitgeist“, dem er – der Repräsentant des Volkes (oder habe ich da etwas von dem Eid falsch verstanden?) – sich nicht beugen will.
Er wolle keine Angst verbreiten, sagt er, und predigt den Menschen die Freiheit. Welche Freiheit? Freiheit ist ein Begriff, der oft genug missbraucht wurde. Gauck, der in der DDR aufgewachsen ist und dessen Vater NSDAP Mitglied war, wird am besten wissen, wie man Worte manipulieren kann. Früher gab es auch so einen Spruch, da hieß es : „Arbeit macht frei“. Also wäre es nötig, zunächst einmal die Freiheit zu definieren, bevor man sich zum „Apostel der Freiheit“ stilisiert. Bis jetzt scheint es, dass Gauck unter Freiheit die Freiheit der Finanzmärkte versteht, die der Bundeskanzler Köhler seinerzeit als „Monster“ bezeichnet hat, denen schleunigst Einhalt zu gebieten sei (zitiert nach: Spiegel 19.3.2012). Köhler hat mit dieser Äußerung den Nerv der Zeit getroffen, Gauk will keine Nerven der Zeit treffen, er will der „Macht des modischen Zeitgeistes widerstehen.“ Mutig?
Was dem Gauck vorschwebt, ist ein freier Bürger. Diese Idee taucht auch im Gedankengut der Rosenkreuzer und der Illuminati auf, die sich ebenfalls zum Ziel gesetzt haben, die Welt umzuwandeln und eine Epoche geistiger Freiheit einzuleiten, in der sich der Mensch seiner Fesseln entledigen und sein eigenes Geschick bestimmen wird. Solche Propheten einer neuen Weltordnung, Apostel der Freiheit, tauchen immer wieder auf. Einer von ihnen, der sich 1945 das Leben genommen hatte, wollte zum Beispiel bei der deutschen Jugend „Tausende von Jahren der Domestikation ausmerzen“. Gauck formuliert es vorsichtiger: er finde es falsch, dass „der Hunger nach Gerechtigkeit“ „schon immer stärker ausgeprägt war als der Durst nach Freiheit“. Aua!
Stellen wir unsere Frage noch einmal: was versteht unser neuer Bundeskanzler unter der „Freiheit“? Und für wessen Freiheit setzt er sich eigentlich ein? Wer die Agenda 2010 verteidigt, verteidigt den Zwang, jede Stelle annehmen zu müssen, 1-Euro-Jobs zu verrichten, sich mit Aushilfstätigkeiten im Niedriglohnbereich abzufinden, entwürdigt zu werden. Ein Apostel der Freiheit, der sich für Zwangsarbeit in Fremdberufen einsetzt? Im Jahre 2003 haben 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Aufruf unterzeichnet, in dem sie die Reformierung des Sozialstaates und nicht seinen Abbau forderten. „Albern“, sagt zu solchen Ideen Gauck.
Verantwortung ist auch so ein großes Wort, das Gauck gern in den Mund nimmt. Warum fühlen sich die Menschen für Deutschland nicht verantwortlich? Gauck gibt zu, dass die Menschen in diesem Land ihr Vertrauen in den Staat verloren haben. Indem er gesteht, dass die Distanz zwischen den Regierenden und den Regierte immer mehr wächst und dass Politiker „offen und klar reden“ müssen, damit „das verloren gegangene Vertrauen wieder gewonnen werden kann“, suggeriert er, dass er der Mann sein wird, der diesen Anspruch erfüllen kann. Sein Ziel: Ein neues Deutschland, das „unsere Enkel“ als „unser Land“ bezeichnen werden können. Müssen wir Sarrazin lesen, um diesen Spruch zu verstehen?
Dieses Deutschland der Zukunft, wie soll es konkret aussehen? Demokratisch, frei und gerecht. Ist das heutige Deutschland es nicht? Wohl nicht. Wenn man die Rede des Bundespräsidenten hört, erfährt man, dass das heutige Deutschland ein Land ist, in dem Menschen von Ängsten geplagt werden, sich Sorgen machen, das Gefühl haben, dass Leistung sich nicht lohnen würde, dass vielen von ihnen der Aufstieg verwehrt wird, dass sie sich ins Private flüchten und dass sie das Vertrauen in sich und in die Politiker verloren haben, die aus „Ignoranz und falscher Korrektheit“ ihre Augen vor akuten Problemen verschließen. „Ich verstehe es nicht“, hat er nicht gerade gesagt, er habe „nie zuvor ein besseres Land gesehen“? Wie dem auch sei. Das soll nun im Deutschland der Zukunft anders werden, lässt er uns hoffen. Das Einzige, das mir dabei Sorgen macht, ist seine Vermutung, „unsere Kinder“ werden womöglich „kein Geld oder Gut vererben“. Was haben Sie mit uns vor, Herr Bundespräsident?
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Wie heist es so schön? Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden.
Als ich ihn reden hörte, dass die Menschen in der DDR sich als Heimatlose fühlten, ist´s mir schlecht geworden. Ich habe mich nie als Heimatlose gefühlt.
Seine Reden kann man sich wirklich nicht anhören.
Comment: Eva Tille – 23. März 2012 @ 22:07