Menschenrechte, Gleichberechtigung der Frauen, Bekämpfung des religiösen Extremismus – als eine ganz große Koalition am 16. November 2001 im Bundestag die Intervention in Afghanistan beschloß, war dies von hehren Worten und großen Versprechungen begleitet. SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP stimmten fast geschlossen für den Militäreinsatz am Hindukusch. Nur 35 Parlamentarier votierten dagegen, die meisten von ihnen aus den Reihen der damaligen PDS, deren Fraktion bis auf eine Enthaltung die deutsche Kriegsbeteiligung geschlossen ablehnte.
Knapp zwölf Jahre später heißt es nur noch: Rette sich, wer kann. Der Krieg ist verloren. Während die Bundeskanzlerin Durchhalteparolen ausgibt, heißt es in der vertraulichen »Unterrichtung des Parlaments« des Bundesverteidigungsministeriums vom vergangenen Mittwoch, die Bedrohungslage sei »insgesamt erheblich«, das heißt: »Mit Angriffen wird in naher Zukunft gerechnet.«
Auch in den Geheimdiensten der EU macht man sich über die Zustände in Afghanistan keine Illusionen mehr: Das Land wird in Machtbereiche lokaler Warlords, der Taliban und der Mafia zerfallen. Die Rechte der Menschen, für deren »Befreiung« bislang 54 deutsche Soldaten und Tausende der zu »Befreienden« getötet wurden, spielen auch verbal keine Rolle mehr.
Am 21. Juni – drei Tage, bevor die Bundesregierung am vergangenen Montag ihren aktuellen Zwischenbericht über die »Fortschritte« in Afghanistan vorlegte – referierte in Brüssel ein Vertreter des EU-Geheimdienstes INTCEN über das »wahrscheinlichste Szenario in der post-2014-Zeit«, also nach dem Abzug von Teilen der internationalen Besatzungstruppen. Vor den Mitgliedern der Arbeitsgruppe »Terrorismus« des »Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees« des Europäischen Rates machte der Referent keinen Hehl aus der tatsächlichen Lage am Hindukusch. Die afghanischen Sicherheitskräfte dürften sich künftig »auf den Schutz der Hauptstadt und anderer wichtiger Städte sowie kritischer Infrastrukturen konzentrieren«. Damit blieben ländliche Bereiche den »jeweils dort mächtigsten lokalen Gruppierungen überlassen«. »Frage der Erhaltung von bürgerlichen Rechten und Freiheiten dürfte ganz dem ›good will‹ der Insurgenten überlassen sein«, wird der Referent in einer junge Welt vorliegenden Zusammenfassung zitiert.
Bezeichnend ist die Lagebeschreibung für die nordafghanische Provinz Baghlan, in der bis vor kurzem die Bundeswehr mit mehreren hundert Soldaten stationiert war. Am 15. Juni übergab sie den Stützpunkt »Post North« an die einheimischen Truppen. »Derzeitiger Zustand der nördlichen afg. Provinz Baghlan wurde mit ihrer Zweiteilung in einen von Taliban beherrschten Teil und ein vom organisierten Verbrechen diktiertes Gebiet mit relativer Stabilität und geringer Insurgenz, solange sich beide Interessensphären nicht ins Gehege kommen, als möglicherweise beispielhaft für die Lage in Afghanistan nach dem Abzug internationaler Truppen 2014 vorgestellt«, heißt es in dem als »Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch« gekennzeichneten Papier aus dem Auswärtigen Amt. Bereits jetzt sei ein »starker Rückfluß von Insurgenten« aus Pakistan in den Osten Afghanistan festzustellen. »Weitere militärische Präsenz des Westens« sei »notwendig«. Verärgert beobachten die Europäer die beginnenden Kontakte zwischen Washington und den Islamisten: »Gespräche zwischen USA und Taliban seien exklusiv und falscher Ansatz.«
Der EU-Nachrichtendienst INTCEN schätzt den Krieg in Afghanistan als verloren ein und sieht das Land vor dem Zerfall. In einem als »VS – Nur für den Dienstgebrauch« gekennzeichneten Papier, aus dem die Tageszeitung »junge Welt« (Sonnabendausgabe) zitiert, analysiert ein Sprecher des Geheimdienstes gegenüber Mitgliedern der Arbeitsgruppe »Terrorismus« des »Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees« des Europäischen Rates schonungslos die reale Lage am Hindukusch. Vor allem ländliche Bereiche würden nach dem Abzug der internationalen Truppen 2014 den »jeweils dort mächtigsten lokalen Gruppierungen überlassen« bleiben, weil sich die afghanischen Sicherheitskräfte auf den Schutz der Hauptstadt Kabul und anderer wichtiger Zentren konzentrierten. Die »Frage der Erhaltung von bürgerlichen Rechtenund Freiheiten dürfte ganz dem ›good will‹ der Insurgentenüberlassen sein«, heißt es weiter.
In der von einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes erstellten vertraulichen Zusammenfassung des Vortrags wird prognostiziert, dass der derzeitige »Zustand der nördlichen afghanischen Provinz Baghlan« mit ihrer »Zweiteilung in einen von Taliban beherrschten Teil und ein vom organisierten Verbrechen diktiertes Gebiet« möglicherweise »beispielhaft für die Lage in Afghanistan nach dem Abzug internationaler Truppen 2014« sei.
»Was folgt daraus?« fragt die »junge Welt« in einem Kommentar. »Führt die NATO den Krieg gegen die Taliban, um Afghanistan in Gänze dem organisierten Verbrechen auszuliefern? Man weiß es nicht. Denkbar ist auch das Gegenteil.« Das Verwirrspiel um die An- oder angeblich geplante teilweise Abwesenheit der internationalen Interventionstruppen in Afghanistan habe einen sehr klaren Hintergrund, so das in Berlin erscheinende Blatt weiter: »Die NATO hat ihren Krieg am Hindukusch verloren. Sie will das aber weder sich selbst noch der Öffentlichkeit eingestehen. Und noch viel weniger kann sie die wichtigste Voraussetzung eines möglichen Friedenspozesses in Afghanistan akzeptieren: Die Abwesenheit von NATO-Truppen und die Nichteinmischung von NATO-Staaten.«
Die Wochenendausgabe der Tageszeitung »junge Welt« ist bereits am Freitag ab etwa 20 Uhr abrufbar.
Quelle: www.jungewelt.de vom 28.06.13
„Ich habe nichts zu verbergen“. „Sie können ruhig meine Mails lesen“… Kaum zu glauben, aber viele Menschen reagieren auf die haarsträubenden Enthüllungen von Edward Snowden mit Desinteresse: weil sie sich für unbescholtene Bürger halten, sagen sie. Wer nichts zu verbergen hätte, brauche sich vor der Überwachung nicht zu fürchten. Mag sein, aber – wissen sie auch, ob der Mann, mit dem sie sich zum Stammtisch treffen, ob ihr Nachbar, ihre Arbeitskollegin, der tolle Typ, den sie in der Disco kennen gelernt haben oder die Eltern des Kindes, mit dem ihr Kind auf dem Spielplatz spielt, auch nichts zu verbergen haben? Die Prinzipien der „neuen Überwachung“ bestehen u.a. darin, dass man alle Menschen, die mit einem Verdächtigen wie auch immer geartete Kontakte pflegen, in der „Verdächtigenkartei“ gespeichert und damit kriminalisiert werden. Man wird schon dadurch verdächtig, dass man mit „Verdächtigen“ Umgang hat. Und da frage ich – woher sollen wir wissen, wer verdächtig ist? Wir, normale Bürger, haben keinen Zugang zu geheimen Akten, wir wissen nicht, wer mit der Naziszene, mit den Salafisten oder sonstigen „Verdächtigen“ Verbindungen hat, wir wissen nicht, wer „gut“ und wer „böse“ sei. „Terroristen“ pflegen bekanntlich nicht, allen über Ihre Pläne zu erzählen. Sie sehen wie normale Menschen aus, lassen sich ihre Absichten nicht anmerken, versuchen, auf sich nicht aufmerksam zu machen, wollen nicht erkannt werden – und werden auch nicht erkannt.
Mag sein, dass ihre Namen den zuständigen Behörden bekannt sind, aber doch nicht uns! Und wenn wir schon dadurch „verdächtig“ oder „schuldig“ werden, dass wir sie kennen … Wo wird das enden? Dass wir voneinander Angst haben werden. Panische Angst, dafür bestraft zu werden, dass wir „falschen Leuten“ begegnet sind?
Können Sie sich eine solche Welt vorstellen? Und wir sind nur einen kleinen Schritt davor entfernt, dass dieses Horrorszenario Wirklichkeit wird. Stellen Sie sich das nur in Ruhe, ohne Emotionen vor – eine Welt, in der es gefährlich werden kann, Menschen zu kennen, mit Menschen gesehen zu werden, mit Menschen zu sprechen, neben Menschen in einem Bahnhofrestaurant zu sitzen, weil sie womöglich von Behörden als „gefährlich“ eingestuft worden sin. Ja, es reicht, einen „falschen“ Begriff bei Google einzugeben, ein „falsches“ Wort am Telefon zu sagen, einen „falschen“ Artikel in „Wikipedia“ zu lesen, eine „falsche“ Seite im Internet zu öffnen, in „falscher Zeit“ am „falschen Ort“ zu sein, um als „verdächtig“ erfasst zu werden.
Punkt zwei: Wir leben in einem demokratischen Land. Super. Doch wie schnell es gehen kann, dass in einem Land die Macht durch nicht-demokratische Kräfte übernommen wird, können Sie erfahren, wenn Sie die Nachrichten hören oder Geschichtsbücher lesen. Und dann stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn der ganze Überwachungsapparat, der langsam aufgebaut wird, um uns – wie es heißt – vor den „Bösen“ zu schützen, den „Bösen“ in die Hände fallen würde? Was gut und was böse ist, definieren immer die, die an der Macht sind, und keine Ordnung der Welt ist so stabil, dass sie nicht umgeworfen werden könnte. Hätten das Hitler- oder das Stalin-Regime die Möglichkeiten gehabt, die unsere moderne Überwachungstechnik bietet, wäre der Lauf der Geschichte ein anderer geworden… Und was sagen die meisten Menschen dazu? Nichts. Sie hätten ja nichts zu verbergen…
Und auch unsere Massenmedien konzentrieren sich mehr auf die Berichtererstattung über das grausame „Katz-und-Maus-Spiel“, dass sich die Großmächte im „Fall Snowden“ liefern, als auf die Enthüllungen, für die Snowden sich mit den größten Mächten dieser Welt angelegt und sein Leben riskiert – um uns vor dem Verlust der Freiheit zu bewahren.
So frage ich mich: sind wir eigentlich noch wert, dass sich jemand für unsere Freiheit opfert?
An der Charité wird es ernst. Die ver.di-Tarifkommission hat dem Vorstand von Europas größtem Uniklinikum ein letztes Ultimatum gesetzt: Sollten bis zum 21. Juli keine ernsthaften und verbindlichen Verhandlungen über personelle Mindestbesetzungen und Gesundheitsschutz begonnen haben, will die Gewerkschaft zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. »Seit einem Jahr hält uns der Vorstand hin«, kritisiert ver.di-Verhandlungsführerin Meike Jäger. Lediglich zu unverbindlichen Gesprächsrunden und kleineren Pilotprojekten habe sich die Klinikleitung bislang bereit erklärt. »Wenn sich der Vorstand weiterhin verweigert, drohen Streiks an der Charité«, so Jäger.
Schon vor Monaten hatte ver.di seine Forderung vorgebracht, Mindestquoten von Pflegepersonal für die verschiedenen Bereiche des Universitätsklinikums tarifvertraglich festzuschreiben (siehe jW vom 12.11.2012). Die Charité-Spitze reagierte mit einer Verzögerungstaktik. Zwar wurden Gespräche aufgenommen, reguläre Tarifverhandlungen jedoch bis zum heutigen Tage verweigert. Begründung: Die Einteilung des Personals sei Aufgabe des Managements, ein Tarifvertrag in dieser Frage ein Eingriff in die »unternehmerische Freiheit«. Daher seien auch Arbeitsniederlegungen für eine solche Forderung nicht erlaubt.
Ver.di hat diese Frage eingehend juristisch geprüft. Das Ergebnis: »Ein Tarifvertrag zur Mindestbesetzung ist zulässig und streikfähig«. Zu dem gleichen Resultat kommt ein jW vorliegendes Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Der Autor zitiert darin eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), wonach »Arbeitgeber derartige Eingriffe in ihre Organisationsgewalt hinzunehmen« haben. »Die Berufsfreiheit des Arbeitgebers sei tarifvertraglich gesetzten Einschränkungen unterworfen, wann immer die Unternehmensführung die rechtlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Belange der Arbeitnehmer in ihrer Eigenschaft als abhängig Beschäftigte berühre. Daher müsse der Arbeitgeber auch tarifvertragliche Vorgaben über die Personalbemessung akzeptieren, da Personalstärke und Arbeitsbedingungen nicht zu trennen seien.«
»Nachdem diese rechtliche Frage nun endlich geklärt ist, wollen wir uns nicht länger hinhalten lassen«, betont ver.di-Betriebsgruppensprecher Carsten Becker gegenüber junge Welt. »Der Handlungsbedarf ist enorm.« Nach Angaben des Personalrats werden an der Charité jeden Monat rund 1000 Beschäftigte außerhalb des Dienstplans zur Arbeit gerufen, um Lücken zu stopfen. Würden sie das verweigern, wäre der Betrieb de facto nicht mehr aufrechtzuerhalten. Neueinstellungen sind dringend erforderlich. Allein um die laufend anfallenden Überstunden auszugleichen, wären 80 Vollzeitkräfte zusätzlich erforderlich. Notdürftig kompensiert wird die Personalnot durch Leihbeschäftigte. Allein für Juli waren 1800 Einsätze von Leasingkräften geplant.
»Ver.di will bei der Charité – wie auch in vielen anderen Krankenhäusern in der Bundesrepublik – nicht erst auf eine gesetzliche Regelung zur Personalbemessung warten«, heißt es in einer Pressemitteilung der Gewerkschaft. »Die Entlastung für das Personal ist jetzt notwendig.« Kürzlich hatte auch die ver.di-Tarifkommission im Uniklinikum Gießen und Marburg (UKGM) angekündigt, über einen Tarifvertrag zu personellen Mindeststandards und Gesundheitsschutz verhandeln zu wollen (siehe jW vom 14.6.2013). Andernorts konzentriert sich ver.di bislang darauf, die Parteien im Rahmen des Bundestagswahlkampfs mit der Forderung nach einer gesetzlichen Regelung zu konfrontieren.
Die Bundesregierung hat dem allerdings kürzlich eine Absage erteilt. In einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion erklärte sie, die Verantwortung für eine ausreichende Personalausstattung müsse bei den Krankenhäusern bleiben, »denn nur sie können auf ihre jeweilige Situation zugeschnittene Lösungen finden«. Die »zugeschnittenen Lösungen« sehen allerdings fast überall gleich aus: Leistungsverdichtung, Arbeitseinsatz außerhalb der regulären Dienstzeiten, Überstunden und in der Konsequenz eine verschlechterte Patientenversorgung. Der Tarifkonflikt an der Charité könnte den Druck nicht nur auf die Klinikleitung, sondern auch auf die Politik erhöhen, diese Situation zu ändern.
Berlin. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert zusammen mit zahlreichen Mitstreitern eine Reform der geringfügigen Beschäftigung. »Es ist inzwischen eindeutig nachgewiesen, daß der Minijob kein Sprungbrett in reguläre Beschäftigung, sondern eine Niedriglohnfalle ist«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach am Dienstag in Berlin. »Unsere Initiative hat das Ziel, die Minijobmauer zu durchbrechen, reguläre Beschäftigung zu fördern und die Gleichberechtigung zu stärken.« Der Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen sprach von »Fehlanreizen« durch Minijobs. »Einem erheblichen Teil der Beschäftigten werden zentrale Arbeitnehmerrechte vorenthalten.« An der Initiative sind neben dem DGB 16 Verbände sowie fast zwei Dutzend Wissenschaftler beteiligt. Derzeit gibt es rund sieben Millionen Minijobs in Deutschland.
(dpa/jW)
Quelle: www.jungewelt.de vom 26.06.13
Die Bilder sind grandios. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Proteste am letzten Donnerstag wurden in Brasilien weit mehr als eine Million Demonstranten gezählt. Ihren Ausgangspunkt hatte die Welle vor gut zwei Wochen in Aktionen gegen höhere Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr von São Paulo. Die dem Bundesstaat São Paulo unterstellte Polícia Militar (PM) – militärisch organisierte Polizeieinheiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – ging mit großer Brutalität vor und verletzte zahlreiche Menschen, darunter Presseleute. An der Spitze des bevölkerungsreichsten Teilstaates steht mit Gouverneur Geraldo Alckmin einer der führenden Köpfe des rechtsliberalen PSDB (Partei der brasilianischen Sozialdemokratie). Die Öffentlichkeit reagierte, der Funke des Protests sprang über.
»Wenn der Preis nicht sinkt, bleibt die Stadt stehen« – die von der linken basisdemokratischen Bewegung für den Nulltarif (Movimento Passe Livre – MPL) ausgegebene Losung bewahrheitete sich von Protesttag zu Protesttag an immer mehr Orten. Während eine große Mehrheit friedlich demonstrierte, kam es in Rio, Brásilia und anderen Städten zu Krawallen, zum Teil mit Übergriffen und Provokationen der Polizei. Die Politik mußte auf den Druck von unten reagieren. Eilig wurden in etlichen Metropolen Fahrpreiserhöhungen rückgängig gemacht oder die Tarife sogar gesenkt. Doch längst reichten die Themen und Forderungen des immer breiteren Spektrums der Demonstranten über Ticketpreise für Bus und U-Bahn hinaus. Die Wut über die vielen Milliarden, die in Großprojekte für Fußball-WM und Olympia fließen, zum Teil in dunklen Kanälen versickern und für andere dringliche Aufgaben wie das Bildungs- und Gesundheitssystem fehlen, bricht sich Bahn. Angeprangert werden die Korruption und ein geplanter Verfassungszusatz, der die Befugnisse der Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung der damit verbundenen Delikte einschränken würde.
Der Aufstand der Brasilianer zur schönsten Fußballzeit – parallel zum Confed-Cup, einem Testturnier vor der FIFA-WM im kommenden Jahr – überraschte die meisten. Dabei hatte es durchaus Vorbeben gegeben: Im Mai hatte ein Gerücht genügt, das Sozialhilfeprogramm »Bolsa Familia« würde eingestellt, daß Tausende Ärmere die staatlichen Auszahlstellen belagerten. Da ist einiges unter dem Deckel: Nach Jahren des Booms der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt hat die Inflation angezogen. Millionen Menschen, die zur unteren Mittelschicht stießen, fürchten um den bescheidenen neuen Wohlstand. 700000 Familien leben noch immer in extremer Armut. Die kapitalistische Modernisierung, mit der Überwindung der Hyperinflation schon vor den Linksregierungen eingeleitet unter dem Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, hat nicht mit den alten korrupten Eliten gebrochen. Die Militärdiktatur wurde kaum aufgearbeitet. Die versprochene Landreform stagniert, Agrokonzerne bedienen den Export. Die Arbeiterpartei (PT) besitzt aber auf nationaler Ebene keine Mehrheit und ist auf Kompromisse und Koalitionen mit der Rechten angewiesen, der Einfluß klerikaler Fundamentalisten reicht weit.
Es ist bezeichnend, daß São Paulo das Epizentrum war. Die bedeutendste Wirtschafts- und Finanzmetropole Lateinamerikas steht am Rande des Infarkts. 1,6 Millionen Pkw sind dort im letzten Jahrzehnt hinzugekommen, von Verkehrsfluß kann kaum die Rede sein. Die Mobilitätskrise senkt die Lebensqualität und trifft die Wirtschaft. »Von der Verkehrssituation zu reden, bedeutet, von der Situation der Stadt zu reden«, betonte ein MPL-Vertreter gegenüber der linken Wochenzeitung Brasil de Fato.
Unter die Bilder des politischen Erwachens und des Kampfes für ein gerechteres Brasilien mischen sich andere. »Viele, die da jetzt mitlaufen, haben noch nie einen Posto de Saude (öffentliche Gesundheitseinrichtung) von innen gesehen«, berichtet eine jW-Leserin aus Brasília.
Es gibt viele, für die die Demonstrationen eine Art Kirmes oder Event sind. Und Trittbrettfahrer propagieren immer massiver mit nationalistischen Symbolen die »Rettung des Vaterlandes« vor der Korruption – und der Linken. Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung der Protestbewegung mit irreführenden Parolen kommt den marktbeherrschenden Medien der rechtslastigen Gruppe Rede Globo zu. Von anfänglicher Kriminalisierung der Demonstranten schwenkte Globo um zum Versuch ihrer Vereinnahmung und Beeinflußung.
Die nationalistischen Angriffe richten sich besonders gegen Dilma Rousseff, die für die PT im Palácio do Planalto, dem Präsidentenpalast in Brasília, sitzt. Trotz Einbußen in den Umfragen steht nach wie vor eine klare Mehrheit der Brasilianer hinter »Dilma« und ihrer Politik. »Antiparteilich« ist das rechte Schlagwort, das seine Popularität dem allgemeinen Verdruß über die Parteien verdankt. Die politische Landschaft ist zersplittert, die Politik stark personalisiert und von Klientelismus und persönlicher Bereicherung geprägt. Auch die Arbeiterpartei gilt in Teilen als verbürokratisiert und abgehoben. Der Ruf »Keine Parteien« richtet sich einzig gegen die Parteien der Linken als natürliche Verbündete der sozialen Bewegungen. Neben Aktivisten aus kleineren Linksparteien oder den Kommunisten der PCdoB ist es gerade auch die Basis der pluralen Arbeiterpartei – mit einem sozialdemokratischen Zentrum, Wurzeln in der Arbeiterbewegung und verankert in progressiven kirchlichen und linksbürgerlichen Kreisen –, die sich hier einbringt.
»Antiparteiliche« griffen zuletzt, besonders massiv in São Paulo, Demonstranten mit den Symbolen linker Parteien verbal und physisch an, entwendeten und verbrannten rote Fahnen. Vertreter der Linkskräfte sprechen von einer gezielten Unterwanderung der Demonstrationen durch den PSDB, Polizeiprovokateure und faschistische Schlägertrupps. Der MPL zog sich wegen solcher »Trittbrettfahrer der Bewegung« vorübergehend von weiteren Demonstrationsaufrufen zurück. Doch die Linke gibt die Straße noch längst nicht verloren. Landesweit wird an einer gemeinsamen Strategie gearbeitet, um die rechte Unterwanderung zu stoppen.
In ganz Griechenland entstehen kleine Läden der solidarischen Ökonomie. Man kann dort ökologische Produkte aus dem In- und Ausland zu niedrigen Preisen kaufen. Seit einigen Monaten stehen in jedem solchen Geschäft neben dem Bioolivenöl und dem Fair-Trade-Kaffee auch Putzmittel: Die Flaschen voller Glas- bzw. Allzweckreiniger oder Waschmittel tragen keinen Markennamen. Aber auf den schwarz-weißen Etiketten kann man ein Zahnrad und eine Fabrik sehen.
Dieses Logo steht für Vio.Me, eine Baustoffabrik in Thessaloniki. Sie ist seit über vier Monaten von ihren 38 Arbeitern besetzt. Am 12. Februar 2013 haben diese die zwei Jahre zuvor von ihren Besitzern verlassene Produktionsstätte wieder in Betrieb genommen. Da Baumaterialien, die Vio.Me seit Jahrzehnten produzierte, zur Zeit auf dem krisengeschüttelten griechischen Markt wenig gefragt sind, entschieden sich die Arbeiter für die Herstellung von Bioputzmittel.
Am kommenden Mittwoch, dem 26. Juni, werden Gewerkschaft und Solidaritätsinitiative an die Öffentlichkeit gehen: Seit Monaten verkaufen sie die Produkte in ganz Griechenland über solidarische Netzwerke, aber nie ganz offiziell (mit Logo, jedoch immer ohne Namen). Auf einer öffentlichen Veranstaltung im sozialen Zentrum »Sxoleio« im Zentrum von Thessaloniki (in einer ehemaligen religiösen Schule) werden sie die Vio.Me-Produkte nun erstmals der breiten Öffentlichkeit vorstellen. Am selben Tag sollen weltweit Solidaritätskundgebungen stattfinden, darunter auch in Berlin.
Makis Anagnostou ist ein großer Mann mit starken Händen. Er ist Präsident der Gewerkschaft – aber nur, weil das Gesetz einen solchen Posten verlangt. »Wenn ich meinen Kollegen ›Vizepräsidenten‹ nennen würde, würden die Arbeiter uns beschimpfen«, so Anagnostou. Denn alle Entscheidungen werden gemeisam in der Versammlung getroffen, der Präsident hat dort das gleiche Stimmrecht wie die anderen 37 Arbeiter. Seit 2009 hatte die Betriebsgewerkschaft das Prinzip der direkten Demokratie etabliert, und als die Firma Insolvenz anmeldete, ohne die ausstehenden Löhne gezahlt zu haben, wurde in Versammlungen über alle Kampfmaßnahmen diskutiert. »Wir wußten, daß wir keine Chance hatten, irgendwo anders Arbeit zu finden«, erinnert sich Anagnostou. »Also blieb uns keine andere Wahl, als die Fabrik selbst zu betreiben.«
In Griechenland stehen heute bis zu 2000 Werke still. Mehr als 1,5 Millionen Menschen sind arbeitslos, und die Diktate der Troika aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank treiben das Land immer tiefer in die Rezession. Wenn Vio.Me, wo vor der Krise 70 Menschen gearbeitet haben, zu einem Erfolg werden sollte, könnte das kleine Experiment eine große Ausstrahlungskraft haben.
Die Vio.Me-Arbeiter fordern die Legalisierung der Produktion unter demokratischer Kontrolle der Belegschaft. Sie solidarisieren sich außerdem mit dem Kampf der Beschäftigten des staatlichen Rundfunksenders ERT, der von der Regierung geschlossen wurde – und auch mit dem Aufstand der Massen in der Türkei.
Gewerkschaftsdelegationen aus aller Welt haben Vio.Me schon besucht, auch Intellektuelle haben ihre Solidarität bekundet. Naomi Klein, Regisseurin des Dokumentarfilmes »The Take« über besetzte Betriebe in Argentinien nach der Krise von 2001, sprach Anfang des Monats vor rund tausend Menschen, die sich auf dem Hof des Fabrikgeländes versammelt hatten. Auch der Vorsitzende der linken Oppositionspartei Syriza, Alexis Tsipras, war kurz vor der Wiederaufnahme der Produktion zu Besuch.
Ein besonders wichtiger Gast war jedoch Raúl Godoy, Arbeiter aus der besetzten Keramikfabrik Zanon in Neuquén in Argentinien. Dort produzieren die mittlerweile 450 Beschäftigten seit über zehn Jahren in Eigenregie. Bei Vio.Me hatte man schon Texte von der Neuquéner Gewerkschaft gelesen: »Es war so, als hätte jemand unsere eigenen Gedanken aufgeschrieben«, erinnert sich Anagnostou. »Daran haben wir gemerkt, daß das Kapital überall gleich ist und daß die Arbeiterklasse auch überall eine Klasse ist.«
»Habt ihr eine Legalität?« hatte ein Vio.Me-Arbeiter Godoy bei der ersten Begegnung gefragt. Natürlich war die Besetzung von Zanon am Anfang auch illegal. Die argentinische Menschenrechtsorganisation Mütter von der Plaza de Mayo (»Madres de Plaza de Mayo«) unterstützte die Belegschaft auch juristisch, so daß sie offiziell kaufen und verkaufen konnte. Erst nach acht Jahren des Kampfes beschloß das Provinzparlament die Enteignung der Fabrik und die Übertragung auf die Kooperative der Arbeiter. Weitere drei Jahre dauert es, bis der Gouverneur die Vorlage unterschrieb und das Gesetz in Kraft trat. Dazu waren über ein Jahrzehnt voller Kämpfe gemeinsam mit Arbeitslosen, Studierenden, indigenen Gemeinschaften und Arbeitern aus dem ganzen Land notwendig.
»Wir Arbeiter können uns nur auf unsere eigene Kampfkraft verlassen«, sagte Godoy und erinnerte daran, daß Argentinien schon eine »linke Regierung« habe, die über die Jahre keinerlei Unterstützung für die »Fabrik ohne Chefs« geleistet hatte. Sogar die großen Gewerkschaftsdachverbände mußten mittels einer Kampagne unter Druck gesetzt werden, bevor sie sich für die Zanon-Arbeiter ausgesprochen haben. Die Vio.Me-Belegschaft erhält zur Zeit keinerlei Solidarität von den großen Beschäftigtenorganisationen. Lediglich zu kleineren, kämpferischen Basisgewerkschaften gibt es gute Kontakte, wie Anagnostou erklärte.
Erst wenn Vio.Me legalisiert wird, werden sie die Möglichkeit haben, die hergestellten Produkte zu exportieren. Aber man kann jetzt schon den Kampf mit Spenden unterstützen, und vor allem auch politischen Druck dafür erhöhen helfen, damit die Fabrik nicht nur de facto, sondern auch de jure den Produzenten gehört.
Quelle: www.jungewelt.de vom 24.06.13
Wir sind nicht die Erziehungsberechtigten der Arbeiterklasse«, erklärte Berthold Huber am Dienstag in Frankfurt am Main. Soeben hatten der IG-Metall-Chef und sein Vize Detlef Wetzel der Presse die Ergebnisse einer Beschäftigtenbefragung vorgestellt. Die darin geäußerten Wünsche sind eindeutig: Die Arbeiter und Angestellten in den von der IG Metall vertretenen Branchen fordern vor allem die Einschränkung prekärer und mies bezahlter Beschäftigung. Nicht ganz so eindeutig, aber ebenfalls nicht überraschend fiel die parteipolitische Positionierung von Huber und Wetzel aus. Eine direkte Wahlempfehlung verweigerten die beiden Sozialdemokraten zwar, aus ihrer Präferenz der SPD machten sie aber keinen Hehl.
»Ich werde SPD wählen, ja«, erklärte Huber schließlich auf mehrfaches Nachfragen. Zuvor hatte er ausgiebig das Verhalten des damaligen SPD-Bundesarbeitsministers Olaf Scholz während der Wirtschaftskrise 2008/2009 gelobt. Mit einer schwarz-gelben Regierung wären die Ausweitung der Kurzarbeiterregelung und die Abwrackprämie für Altautos nicht möglich gewesen, spekulierte er. Unerwähnt ließ Huber das sonstige Agieren der Regierungs-SPD: von Hartz IV über die Ausweitung prekärer Beschäftigung bis hin zur Rente mit 67.
Die Folgen eben dieser Politik machen den Beschäftigten bis heute zu schaffen. Das belegt nicht zuletzt die präsentierte Befragung, an der sich mehr als 514000 Personen beteiligten – fast jeder Dritte von ihnen war nicht gewerkschaftlich organisiert. Die Ergebnisse sind zwar noch nicht im Detail ausgewertet, die bisherigen Erkenntnisse zeigen aber eindeutig: Niedriglohn und prekäre Beschäftigung sollen nach dem Willen der Lohnabhängigen eingedämmt werden.
So halten 88 Prozent der Befragten einen unbefristeten Arbeitsvertrag und 83 Prozent ein ausreichendes und verläßliches Einkommen für »sehr wichtig«. 92 Prozent fordern einen »gesetzlichen Mindestlohn von anfänglich mindestens 8,50 Euro« – höhere Forderungen konnten nicht angekreuzt werden. Nur vier Prozent gehen davon aus, daß sie von ihrer Rente gut werden leben können. Mehr als 90 Prozent fordern die Rücknahme der Rente mit 67 und noch mehr eine abschlagsfreie Rente nach langjähriger Erwerbsarbeit.
Huber und Wetzel betonten, neben der Leiharbeit müßten auch Werkverträge stärker reglementiert werden. Sie seien ein »noch viel umfassenderes Problem als Leiharbeit«, so Wetzel, der Huber in wenigen Monaten als Erster IGM-Vorsitzender beerben soll. Der politische Handlungsbedarf sei hier »mindestens ebenso hoch«. Unter anderem fordert die IG Metall Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte, eine klare Abgrenzung zwischen Leiharbeit und Werkverträgen sowie die Umkehr der Beweislast bei der Legalität von Werkverträgen.
Ob die Gewerkschaft die Frage der Werkverträge auch tarifpolitisch aufgreifen wird, hänge vom Willen der Beschäftigten und Funktionäre ab, so Wetzel auf jW-Nachfrage. Im vergangenen Jahr hatte die IG Metall Branchenzuschläge für Leiharbeiter vereinbart. Man wolle »Schritt für Schritt« den Grundsatz gleicher Bezahlung von Stamm- und Leihbeschäftigten durchsetzen, erläuterte Huber. Der insbesondere bei ver.di intensiv diskutierten Forderung, die DGB-Leiharbeitstarife zu kündigen und dem Equal-Pay-Prinzip so zum Durchbruch zu verhelfen (siehe jW vom 3.6.), erteilte Huber erneut eine Absage.
Die türkische Regierung droht den Demonstranten im Land mit dem Einsatz der Armee. Sollte der Einsatz der Polizei gegen die Proteste „nicht ausreichen, können auch die Streitkräfte eingesetzt werden“, sagt Vize-Ministerpräsident Arinc.
Es ist zum Verrücktwerden! Wer Steuerbetrügern auf die Pelle rückt, dreht irgendwann wie von Geisterhand durch. Fast könnte man meinen, der Hang zum Überschnappen hat System. Beispiel Hessen: Dort war der Erfolg beim Aufspüren von Schwarzgeldflüssen nach Liechtenstein vier Steuerfahndern irgendwann so sehr zu Kopf gestiegen, daß man sie für paranoid erklären und aus dem Verkehr ziehen mußte. Der verfügte Zwangsruhestand tat ihnen gut. Heute sind die vier kerngesund, besser noch, nach neuerer Expertise waren sie nie krank gewesen. Nur eines fehlt ihnen – ihre Arbeit.
Für Gustl Ferdinand Mollath läuft das unter der Rubrik Luxusproblem. Er sitzt seit bald sieben Jahren in der geschlossenen Anstalt in Bayreuth ein, ist offiziell so »wahnsinnig« wie ehedem und kann von einem Leben in Freiheit nur träumen. Immerhin: Soviel Freigang wie am Dienstag hatte der gebürtige Nürnberger lange nicht erlebt. Ganze zweieinhalb Stunden durfte er da im bayerischen Landtag ohne Hand- und Fußfesseln zu seinem Fall Rede und Antwort stehen, vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß, der nach ihm benannt ist. Und der Eindruck, den er dabei hinterließ, war mitnichten der eines gemeingefährlichen Irren, zu dem ihn die Justiz in einem rechtsnihilistischen Akt sondergleichen gestempelt hat.
Wie schon die hessischen Steuerbeamten hat auch Mollath den Fehler begangen, sich mit Geldverschiebern und ihren Helfershelfern anzulegen. Seiner Ex-Gattin Petra warf er im Jahr 2003 vor, als ehemalige Managerin der Hypo-Vereinsbank (HVB) illegal Gelder von Kunden außer Landes geschafft und später gemeinsam mit mehreren Kollegen hinter dem Rücken ihres »Arbeitgebers« die »größte Schwarzgeldverschiebung in die Schweiz« ins Werk gesetzt zu haben. Wie er sagt, wollte er seine Frau davon abbringen, zu ihrem und seinem eigenen Schutz. Als sie trotzdem weitermachte, erstattete er vor gut zehn Jahren Anzeige gegen sie, die beteiligten Mitarbeiter und 24 HVB-Kunden.
Wie sich bald herausstellte, interessierte sich aber niemand für den Vorgang, weder die Finanzbehörden noch die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth. Die legte den Fall 2004 nach Monaten der Untätigkeit schließlich zu den Akten. Dafür geriet Mollath selbst immer stärker in die Mühlen der Justiz. Auslöser war eine Anzeige seiner Frau gegen ihn im November, weil er sie wiederholt brutal mißhandelt haben soll. Bereits hier beginnen die Ungereimtheiten: Das Attest, das Petra Mollath seinerzeit zum »Beweis« der vermeintlichen Übergriffe und einer »ernst zu nehmenden psychischen Erkrankung« ihres Mannes vorlegte, stammte nicht von der Ärztin, die unterschrieben hatte, sondern von deren Sohn. Juristisch ist ein solches Dokument unbrauchbar, und doch wurde es im Verfahren gegen Mollath vom zuständigen Richter für bare Münze genommen.
Dasselbe gilt für das Gutachten, das aus dem Beklagten schließlich eine »Gefahr für die Allgemeinheit« werden ließ. Verfaßt hat es Klaus Leipziger, Chefarzt des Bezirksklinikums Bayreuth. Er attestierte Mollath »paranoide Wahnvorstellungen«, die sich im wesentlichen um einen »Schwarzgeldkomplex« drehten. Obwohl er dieses Urteil fällte, ohne den Betroffenen persönlich untersucht zu haben, bildete es am Ende die wichtigste Grundlage für den 2006 ergangenen Entscheid des Landgerichts Nürnberg, Mollath in die Psychiatrie einzuweisen. Es gibt inzwischen eine Reihe namhafter Fachleute, die Leipzigers Befund für nicht nachvollziehbar halten und Mollath bescheinigen, psychisch und geistig voll auf der Höhe zu sein.
Nur warum hat damals das Gericht Leipziger uneingeschränkt Glauben geschenkt? Hier kommt der Richter ins Spiel, der das Urteil gegen Mollath fällte, der mittlerweile pensionierte Otto Brixner. Der hat, wie die ARD Anfang Juni in »Die Story im Ersten: Der Fall Mollath« berichtete, möglicherweise entscheidenden Anteil daran, daß die Finanzbehörden der Anzeige gegen Frau Mollath nicht nachgingen. Den zwei zuständigen Beamten hatte Brixner in einem Telefonat gesteckt, Mollath sei ein »Spinner« und »Querulant«. Zu dem Vorgang existieren Aktenvermerke aus dem Jahr 2004. Und beide Mitarbeiter wollen erklärtermaßen nicht ausschließen, daß der Anruf dazu beigetragen hat, nicht zu ermitteln.
Die ARD-Recherchen ergaben weiterhin, daß Brixner mit einem Ex-Manager der HVB bekannt ist, der heute – welch ein Zufall – mit Petra Mollath verheiratet ist und schon 2002 ihr Geliebter gewesen sein soll.
Lief das Szenario also vielleicht so ab? Brixner läßt Mollath als »gemeingefährlichen Verrückten« in die Psychiatrie zwangsverbringen, weil der sich etwas über einen Schwarzgeldkomplott zusammenspinnt. »Beleg« für die Spinnereien ist, daß die Steuerfahnder Mollath nicht ernst nehmen und seine Anklage nicht verfolgen. Allerdings wird nun nachträglich offenbar, daß es Brixner selbst gewesen sein könnte, der durch seine Intervention in der Finanzbehörde besagten »Beleg« erst herbeigeführt hat. Mollaths Anwalt Gerhard Strate erkennt im damaligen Verhalten Brixners deshalb auch gleich mehrfache Rechtsbeugung. Die heute mit dem Fall befaßte Oberstaatsanwaltschaft teilt diese Einschätzung jedoch nicht. Für sie wurden lediglich »einige prozessuale Normen nicht ganz richtig beachtet«.
Vielleicht ist damit auch gemeint, daß Richter Brixner Mollath in seinem Verfahren jedes Wort zu den Anschuldigungen gegen seine Frau verboten hat. Dabei hätte das Gericht 2006 schon wissen können und müssen: Die Schwarzgeldgeschäfte haben stattgefunden (siehe unten).