„Ich habe nichts zu verbergen“. „Sie können ruhig meine Mails lesen“… Kaum zu glauben, aber viele Menschen reagieren auf die haarsträubenden Enthüllungen von Edward Snowden mit Desinteresse: weil sie sich für unbescholtene Bürger halten, sagen sie. Wer nichts zu verbergen hätte, brauche sich vor der Überwachung nicht zu fürchten. Mag sein, aber – wissen sie auch, ob der Mann, mit dem sie sich zum Stammtisch treffen, ob ihr Nachbar, ihre Arbeitskollegin, der tolle Typ, den sie in der Disco kennen gelernt haben oder die Eltern des Kindes, mit dem ihr Kind auf dem Spielplatz spielt, auch nichts zu verbergen haben? Die Prinzipien der „neuen Überwachung“ bestehen u.a. darin, dass man alle Menschen, die mit einem Verdächtigen wie auch immer geartete Kontakte pflegen, in der „Verdächtigenkartei“ gespeichert und damit kriminalisiert werden. Man wird schon dadurch verdächtig, dass man mit „Verdächtigen“ Umgang hat. Und da frage ich – woher sollen wir wissen, wer verdächtig ist? Wir, normale Bürger, haben keinen Zugang zu geheimen Akten, wir wissen nicht, wer mit der Naziszene, mit den Salafisten oder sonstigen „Verdächtigen“ Verbindungen hat, wir wissen nicht, wer „gut“ und wer „böse“ sei. „Terroristen“ pflegen bekanntlich nicht, allen über Ihre Pläne zu erzählen. Sie sehen wie normale Menschen aus, lassen sich ihre Absichten nicht anmerken, versuchen, auf sich nicht aufmerksam zu machen, wollen nicht erkannt werden – und werden auch nicht erkannt.
Mag sein, dass ihre Namen den zuständigen Behörden bekannt sind, aber doch nicht uns! Und wenn wir schon dadurch „verdächtig“ oder „schuldig“ werden, dass wir sie kennen … Wo wird das enden? Dass wir voneinander Angst haben werden. Panische Angst, dafür bestraft zu werden, dass wir „falschen Leuten“ begegnet sind?
Können Sie sich eine solche Welt vorstellen? Und wir sind nur einen kleinen Schritt davor entfernt, dass dieses Horrorszenario Wirklichkeit wird. Stellen Sie sich das nur in Ruhe, ohne Emotionen vor – eine Welt, in der es gefährlich werden kann, Menschen zu kennen, mit Menschen gesehen zu werden, mit Menschen zu sprechen, neben Menschen in einem Bahnhofrestaurant zu sitzen, weil sie womöglich von Behörden als „gefährlich“ eingestuft worden sin. Ja, es reicht, einen „falschen“ Begriff bei Google einzugeben, ein „falsches“ Wort am Telefon zu sagen, einen „falschen“ Artikel in „Wikipedia“ zu lesen, eine „falsche“ Seite im Internet zu öffnen, in „falscher Zeit“ am „falschen Ort“ zu sein, um als „verdächtig“ erfasst zu werden.
Punkt zwei: Wir leben in einem demokratischen Land. Super. Doch wie schnell es gehen kann, dass in einem Land die Macht durch nicht-demokratische Kräfte übernommen wird, können Sie erfahren, wenn Sie die Nachrichten hören oder Geschichtsbücher lesen. Und dann stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn der ganze Überwachungsapparat, der langsam aufgebaut wird, um uns – wie es heißt – vor den „Bösen“ zu schützen, den „Bösen“ in die Hände fallen würde? Was gut und was böse ist, definieren immer die, die an der Macht sind, und keine Ordnung der Welt ist so stabil, dass sie nicht umgeworfen werden könnte. Hätten das Hitler- oder das Stalin-Regime die Möglichkeiten gehabt, die unsere moderne Überwachungstechnik bietet, wäre der Lauf der Geschichte ein anderer geworden… Und was sagen die meisten Menschen dazu? Nichts. Sie hätten ja nichts zu verbergen…
Und auch unsere Massenmedien konzentrieren sich mehr auf die Berichtererstattung über das grausame „Katz-und-Maus-Spiel“, dass sich die Großmächte im „Fall Snowden“ liefern, als auf die Enthüllungen, für die Snowden sich mit den größten Mächten dieser Welt angelegt und sein Leben riskiert – um uns vor dem Verlust der Freiheit zu bewahren.
So frage ich mich: sind wir eigentlich noch wert, dass sich jemand für unsere Freiheit opfert?
« Streiken erlaubt. Am Berliner Uniklinikum Charité fordert ver.di personelle Mindeststandards per Tarifvertrag. Ab Ende Juli Arbeitsniederlegungen wahrscheinlich. Von Daniel Behruzi – EU-Geheimdienst: Krieg in Afghanistan ist verloren. »
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-PRESSEMITTEILUNG-
Linksjugend [’solid] Sachsen-Anhalt
Magdeburg, 25.06.2013: „Niemand hat die Absicht, einen Überwachungsstaat zu errichten“
Stimmt, niemand formuliert die Absicht, denn dieser Überwachungsstaat existiert ja schon längst. Jetzt geht es Politik und Geheimdiensten nur noch darum, ihn stetig auszubauen und technisch up-to-date zu bleiben. Das Bekanntwerden der britischen und amerikanischen Spionageoperationen Tempora bzw. PRISM, die das weltweite Datennetz betreffen sollen, offenbart wahrscheinlich nur die Spitze eines gigantischen Eisberges. Regierungen, die ihrer Bevölkerung nicht über den Weg trauen und gern alles über sie erfahren möchten, jeden kleinsten Lebensbereich ausspähen, um uns vorgeblich vor „Terrorismus“ zu schützen, entfernen sich immer mehr von den Werten der Aufklärung und den in den letzten dreihundert Jahren erkämpften demokratischen Grundrechten. Dabei müssen wir uns fragen, ob nicht Benjamin Franklins Worte: „Diejenigen, die bereit sind grundlegende Freiheiten aufzugeben, um ein wenig kurzfristige Sicherheit zu erlangen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit“ für uns alle gelten.
Kein #Aufschrei, keine Empörung – ach Moment, es ist ja nicht „unsere“ Regierung, die uns ausspioniert, das sind ja die Amerikaner*innen und Brit*innen, die unser aller Internetkommunikation mitlesen, speichern, auswerten, vielleicht auch irgendwann gegen uns verwenden – also doch alles weniger unser Problem, wir können ja eh nichts machen?
Weit gefehlt. Zum einen kann und muss die Bundesregierung dazu gebracht werden, entschieden gegen die weltweite Spionage durch Geheimdienste anderer Staaten vorzugehen – wenn diese Regierung das nicht zu leisten im Stande ist, braucht es eine neue. Zum anderen muss aufgeklärt werden, inwieweit deutsche Geheimdienste (wie Verfassungsschutz und BND) von abgeschöpften Informationen profitiert haben und dann müssen sich diejenigen, die Grundrechte mit Füßen getreten haben und immer noch treten, entsprechend verantworten.
In dieser Situation fordert nun Holger Stahlknecht, seines Zeichens Innenminister von Sachsen-Anhalt, nicht genau das, sondern will mit einem zum „Gesetz zur Neuregelung der Erhebung von telekommunikations- und telemedienrechtlichen Bestandsdaten“ adäquaten Landesgesetz Geheimdiensten (insbesondere gilt das für den Verfassungsschutz) und Polizei noch mehr Vollmachten zur Spionage geben. Nachdem schon der Bundesrat einen Gesetzentwurf zur „Bestandsdatenauskunft“ verabschiedet hat, will nun der Innenminister das Ausforschen der persönlichen Daten von Bürgerinnen und Bürgern in Sachsen-Anhalt legalisieren, was sich nahtlos an andere Law-and-Order-Gesetze, wie das neue Polizeigesetz, anfügt. Allem Anschein nach entwickeln sich die Dinge immer mehr hin zu einer dystopischen Postdemokratie nach Orwell’schem Vorbild, wenn wir unsere Bürger*innen- und Freiheitsrechte nicht endlich vehement verteidigen.
Kein Mensch würde seine Urlaubsfotos, Briefe oder sein Tagebuch freiwillig an irgendwelche fremden Personen schicken und trotzdem landen vermutlich alle E-Mails, digitalen Fotos und Terminkalender irgendwo – wo wissen wir zwar nicht genau, aber es diene ja unserer Sicherheit. „Wer nichts zu verbergen hat, hat ja auch nichts zu befürchten“ ist die gängige Losung derer, die damit kein Problem haben. Doch was ist mit Edward Snowden, der, weil er nicht mehr länger verbergen wollte, was die NSA so alles im Schilde führt, nun vom FBI gesucht wird und für 30 Jahre hinter Gitter soll? Jede*r sollte einen Staat fürchten, der alles wissen will, denn erstens geht es ihn einfach nichts an, was die Menschen denken, schreiben und fotografieren und zweitens kann alles irgendwann einmal gegen die nun „gläserne“ Person verwendet werden.
Fakt ist: es ist unser Leben und nur wir sollten darüber entscheiden, was zugänglich und öffentlich gemacht wird. Im Moment tun das aber eher Leute wie der umtriebige Rainer Wendt (DPolG), der Obama für seine Spionage auch noch lobt: „Präsident Barack Obama argumentiert mutig, entschlossen und er hat fachlich hundertprozentig recht“, da das „wertvollste“ Bürger*innenrecht immer noch der „Schutz vor Terror und Kriminalität“ sei. Wenn hier ein Gewerkschafter und Polizist glaubt, Bürger*innenrechte gegeneinander ausspielen zu können, sollte man ihn vielleicht mal auf seine Verfassungstreue überprüfen oder vom „Verfassungsschutz“ als mutmaßlichen „Extremisten“ überwachen lassen.
Comment: Wolfgang Huste – 28. Juni 2013 @ 16:46