Tatsächlich gibt es in dem Sinne, wie diese Aussagen gemeint sind, weder eine deutsche Gesellschaft, noch eine deutsche Kultur.
Soziologisch bezeichnet der Begriff Gesellschaft eine Gruppe von Menschen, die zusammen leben. Tatsächlich leben aber in einem Staat unterschiedliche Gruppen von Menschen in unterschiedlicher Art und Weise zusammen. Migrantische “Parallelgesellschaften” einer deutschen Gesellschaft gegenüber zu stellen, hat nichts mit der Realität zu tun. Das Leben findet für den großen Teil der Menschen vor allem auf der Arbeit und in ihrer Wohngegend statt. Hier leben MigrantInnen und Deutsche zusammen. Sie eint ihre Existenz als Lohnabhängige und als MieterInnen und Nachbarn. Sie fahren in denselben Bussen und U-Bahnen, kaufen bei ALDI ein und haben sehr ähnliche Sorgen und Wünsche. Genauso gibt es große Schnittmengen in ihrer Kultur, wenn man diese als Lebensweise betrachtet. Das gilt nicht nur in einem Land, sondern sogar über Ländergrenzen hinweg. Die Unterschiede in der Lebensweise und dementsprechend auch die Bildung von “Parallelgesellschaften” finden vielmehr zwischen den sozialen Klassen statt.
Peter Hadden schrieb in seinem Buch “Troubled Times”, das sich mit der nationalen Frage in Irland auseinandersetzt:
„In jeder kapitalistischen Nation gibt es zwei zu unterscheidende Gruppen: Die herrschende Klasse und ihre Gefolgsleute auf der einen Seite und die Arbeiterklasse auf der anderen Seite, mit verschiedenen Schichten dazwischen. Hinsichtlich gemeinsamer Interessen, Lebensstile und sogar Kultur im breiteren Sinne, was besonders im heutigen elektronischen Zeitalter gilt, hat die Arbeiterklasse in einem Land sehr viel mehr mit ArbeiterInnen anderer Länder gemein als mit ihren eigenen Herrschern. Der bürgerliche Nationalismus versucht diese Tatsache dadurch zu verschleiern, dass er betont, wir alle seien entweder französisch, englisch, deutsch etc. – egal ob wir in einem baufälligen Reihenhaus oder eine Villa leben, ob wir mit dem Bus oder einem Privathubschrauber reisen, ob wir untätig und arm von Stütze oder untätig und von Reichtum verwöhnt, von Aktien und Investitionen leben. Dieser nationalen Solidarität der Unterdrücker und Unterdrückten stellt der Marxismus die internationale Solidarität aller Unterdrückten gegen jede Form von Unterdrückung entgegen.” (QUELLE Peter Hadden, Troubled Times, S.144/45, Belfast, 1995, Übersetzung durch mich)
Tatsächlich hören Jugendliche weltweit dieselbe Musik, begeistern sich junge Männer in Nigeria für englischen Fußball, kauften Menschen von Japan über die Philippinen bis zur Tschechischen Republik im Dezember 2010 wie verrückt Michael Jacksons posthum veröffentlichtes Album „Michael”, treffen sich alle bei facebook und kaufen bei H&M ein. Sogar den „Tatort” schauen MigrantInnen gerne – etwas, was Sarrazin von ihnen trotzdem einfordert. (QUELLE HÜRRIYET, 28.28.8.2010) Er hat nun einmal keine Ahnung, denn das Fernsehkonsumverhalten von MigrantInnen ist recht ausgewogen zwischen deutschen und nichtdeutschen Programmen. (QUELLE Sineb El Masrar, Muslim Girls, S. 161)
„Parallelgesellschaften“ gibt es viele
Und kein Lohnabhängiger oder Erwerbsloser kann am Wochenende mal kurz nach Monaco fliegen, um dort im Spielcasino ein paar zehntausend Euro zu setzen, oder verbringt seinen Urlaub auf einer für hunderttausende Euro gemieteten Privatinsel in der Südsee. Die Reichen und Superreichen bilden zweifelsfrei eine Parallelgesellschaft, wenn man diesen Begriff bemühen will. Sie leben unter sich in feinen Wohngegenden, oftmals durch private Sicherheitsdienste geschützt. Sie feiern ihre eigenen Feste und kaufen nicht von der Stange. Während der deutsche Arbeiter morgens um sechs Uhr bei Daimler neben seinem türkischen Kollegen am Fließband steht, albanische und deutsche SchülerInnen ab acht die Schulbank drücken und die polnisch-deutsche Friseurin zwei Stunden später gemeinsam mit ihrer arabischen Auszubildenden den Friseursalon öffnet, liegen diese Damen und Herren noch im Bett und lassen hoch bezahlte Manager mit ihren Millionen spekulieren. Die “einfachen Leute” haben mit denen da oben verschwindend wenig gemeinsam, egal welcher Nationalität und Religion sie jeweils angehören. Die arabischen Scheichs, die sich Jahr für Jahr in Münchener Krankenhäusern als Privatpatienten behandeln lassen und in den Nobelgeschäften auf Shoppingtour gehen, werden von den Sarrazins aus ihrer Kritik an der Nichtanerkennung der deutschen Kultur ausgenommen, auch wenn ihre Frauen verschleiert durch die Fußgängerzone spazieren. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, egal welche Farbe das Gefieder hat.
Und natürlich gibt es viele „Parallelgesellschaften” in einem Staat. Christian Rath hat in der taz zurecht die Forderung erhoben, die „Parallelgesellschaft”, die die katholische Kirche in Deutschland bildet, einzuhegen: „Die deutsche Justiz darf nicht länger vor den Ansprüchen der Kirchen ‘kapitulieren’, wie Sarrazin sagen würde – wenn es um den Islam ginge.” (QUELLE taz.de vom 23.9.2010)
Die katholische Kirche hat nämlich das Recht, leitenden Mitarbeitern wegen Ehebruch zu kündigen, verweigert ihren Mitarbeitern das Streikrecht, und zwingt letztere unter ein von der Amtskirche selbst geschaffenes Mitarbeitervertretungsgesetz statt des Betriebsverfassungs- oder Personalvertretungsgesetzes!
Zweifellos bilden auch Fußballfans, KarnevalistInnen, EsoterikerInnen, KünstlerInnen, HinduistInnen und VeganerInnen „Parallelgesellschaften”. Das betrachtet aber niemand als Problem, weil es für die „Gesamt-Gesellschaft” auch kein Problem darstellt, solange sich diese „parallelgesellschaftlichen” Gruppenzusammenhänge nicht so verhalten, das anderen geschadet wird. Die muslimische „Parallelgesellschaft” wird aus politischen Gründen zur Verursacherin von Missständen konstruiert – von denen, die davon ablenken wollen, dass Arbeitslosigkeit, Armut und Diskriminierung ganz andere Ursachen haben.
Es schadet übrigens auch niemandem, wenn Muslime die deutsche Sprache nicht sprechen – außer ihnen selber! Denn ihre Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt werden dadurch nur schlechter. Dessen ist sich auch die übergroße Mehrheit bewusst und schätzt deshalb das Erlangen der deutschen Sprache als sehr wichtig ein.
Die von der Bundesregierung mittlerweile angebotenen Integrationskusre werden auch sehr gut angenommen – so gut, dass ihr Angebot nicht ausreicht und sich im Dezember 2010 20.000 MigrantInnen in der monatelangen Warteschleife befanden. (QUELLE spiegel. de/politik/deutschland/0,1518,718855,00.html)
Allerdings wird hinsichtlich des Sprachproblems mit muslimischen MigrantInnen anders umgegangen, als mit MigrantInnen aus anderen Sprachräumen. Sineb El Masrar beschreibt in einem Interview ein Erlebnis, das so ähnlich heutzutage sicherlich kein Einzelfall ist. „Ich habe zum Beispiel erlebt wie ein Mann mit Akzent in der U-Bahn leise telefonierte. Beim Aussteigen schrie ihm eine Frau hinterher: ‚Lern erstmal Deutsch, du Affe!’”(QUELLE Berliner Zeitung vom 16.10.2010)
So etwas geschieht weißen, englischsprachigen MigrantInnen wohl kaum, wie diese auch unter keinen gesellschaftlichen oder staatlichen Druck geraten, die deutsche Sprache zu erlernen. Viele leben jahrelang in Deutschland und kommen mit ihrem Englisch wunderbar über die Runden – niemand betrachtet das als Angriff auf die deutsche Lebensweise
Ab und an liest man von „wildgewordenen KleinbürgerInnen“, dass sie sich einen Bürgerkrieg auch in Deutschland ersehnen, und zwar gegen das „Establishment“, gegen die „herrschende Elite“ (wen immer man damit konkret meint). Denen sage ich: Ich mag keine zerstörten Städte, keine zerstörten Häuser, keine Leichenberge in den Straßen! All das will ich eher mit Gleichgesinnten „prophylaktisch“ verhindern! Gegen wen sollten wir da „konkret“ (!) mit Waffengewalt kämpfen, im Sinne eines Bürgerkrieges? Welche BürgerInnen stehen sich da jeweils gegenüber, mit welchen diametral unterschiedlichen Interessen und Zielen, in einem Staat, in dem seit über hundert Jahren Antikommunismus und Antisozialismus Staatsdoktrinen sind, in einem Staat, wo die meisten Menschen „Metzgermedien“, also pro kapitalistische, antikommunistische Medien konsumieren und sogar ohne Not, ganz freiwillig, „Metzgerparteien“ wählen, die deren Ideologie sogar vehement als die ihrige ausgeben, das privilegierte Leben der „Metzger“, der „herrschenden Elite“, zumindest klammheimlich bewundern oder gar selbst anstreben? In einem Staat, in dem die meisten Menschen ideolgisch „gleichgeschaltet“ wurden und werden? In diesem Staat durchlaufen die Menschen eine Sozialisation, die ganz auf die Bejahung des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung hinausläuft und die eine Einübung in die Klassengesellschaft von der Wiege bis zur Bahre propagiert! Eine Tatsache, die wir nicht übersehen und negieren sollten. Ganz abgesehen davon ist es völlig entpolitisierend und auch desorientierend, eher eine pubertäre, auch naive Forderung, wenn man sinngemäß sagt: „Man muss diese oder jene Person(en), diese oder jene Gruppierung/Organisation ausschalten- dann bekommen wir eine andere, bessere, humanere, antikapitalistische, antifaschistische, antirassistische, pro sozialistische, pro feministische, antimilitaristische und pro ökologische Gesellschaftsformation!“. Denn: Menschen sind leicht und schnell austauschbar. Aber was viel schwieriger ist, viel mehr Kraft kostet, ebenso mehr Zeit und Wissen – und auch einen gut fundierten „Überbau“ im ideologischen Sinne zwingend erfordert, wenn man den Anspruch hat, eine „nachhaltige“ Demokratisierung der Demokratie durchzusetzen: Das ist die Veränderung oder gar Zerstörung der Struktur des Kapitalismus „als solche“, also die Vernichtung des real existierenden Kapitalismus (als Gesellschaftsordnung) an der Macht! Das kann nur gelingen, wenn wir massenhaft (!) die Köpfe und (!) gleichzeitig die Herzen der Menschen erreichen, wenn die Majorität einen sozialistische Demokratie bewusst (!) gut begründet (auch theoretisch gut begründet) und gezielt (!) anstrebt. Zur Zeit sieht es aber eher anders aus, leider! In ganz Europa orientieren sich die Menschen politmasochistisch eher nach rechts, hin zu autoritären, antidemokratischen Strukturen und Regierungsformen, zu rigiden, repressiven Strukturen. Spanien, Portugal und Griechenland sind eher die Ausnahme als die Regel. Bei diesen drei Ländern habe ich die Hoffnung, dass sie es anders und besser machen als die übrigen europäischen, marktradikalen Staaten. Ganz ohne Blutvergießen, ohne einen Bürgerkrieg!