Wolfgang Huste Polit- Blog

»Da wird noch einiges auskommen«. Angst vor NSDAP-Enthüllungen: BRD wollte das »Berlin Document Center« nicht übernehmen. Ein Gespräch mit Malte Herwig. Interview: Peter Wolter. Malte Herwig ist ­Journalist und Buchautor

Tags:

Sie haben bei Recherchen zu einem Buch herausgefunden, daß sich die deutschen Bundesregierungen jahrzehntelang gesträubt haben, das »Berlin Document Center« mit seinem riesigen Naziarchiv von den USA zu übernehmen. Wie sind Sie darauf gestoßen?

Ich habe sechs Jahre lang in der NSDAP-Mitgliederkartei im Bundesarchiv (Berlin) geforscht. Dabei stieß ich auf die Namen zahlreicher Prominenter: Horst Ehmke, Peter Boenisch, Erhard Eppler – aber auch Hans-Dietrich Genscher und Iring Fetscher wurden demnach im »Dritten Reich« als NSDAP-Mitglieder geführt.

Von dieser Mitgliederkartei existiert eine Mikrofilmkopie in Washington. Was bisher nicht bekannt war: Im dortigen US-National­archiv liegen auch die Verwaltungsakten des »Berlin Document Center«, in dem die amerikanische Besatzungsmacht fast ein halbes Jahrhundert lang die erbeutete NSDAP-Zentralkartei und andere Naziakten aufbewahrt hatte. Dort fand ich Depeschen der US-Gesandt­schaft in Berlin aus den 1980er Jahren, in denen sich die Amerikaner darüber beschweren, daß Bonn die Akten nicht zurückhaben wolle. Man fürchte, so hieß es, peinliche Enthüllungen über die NS-Vergangenheit deutscher Spitzenpolitiker.

Die USA wollten die Kartei schon 1967 zurückgeben. Ich habe in Washington aber eine Depesche vom Oktober 1989 gefunden, in der es sinngemäß heißt: »Die Bundesregierung steht unter dem Druck des Parlaments. Um das öffentliche Interesse zu befrieden, wird sie von uns wieder einmal die unverzügliche Rückgabe fordern. Tatsächlich erwartet Bonn aber von uns, daß wir das strikt ablehnen.«

Es gab eine lange Liste mit den Namen deutscher Spitzenpolitiker, die vor 1945 Mitglied der NSDAP gewesen waren, die lag gut verschlossen im Safe des Direktors des Document Center. Es war klar, daß es mit dieser Art Sicherheitsverwahrung vorbei wäre, sobald sich die Akten in deutschem Besitz befänden. Und so kam es ja auch. Es dauerte nach der feierlichen Übergabe nur wenige Wochen, bis der erste prominente Name publik wurde: Genscher.Sie haben ihn dazu persönlich befragt – was sagt er?

Als ich auf die NSDAP zu sprechen kam, beendete Genscher das Gespräch ziemlich rasch. Er sagte nur, er habe nie einen Antrag auf Aufnahme in die Partei gestellt. Anfang der 70er Jahre habe ihm ein Fraktionskollege berichtet, es gebe eine NSDAP-Mitgliedskarte mit seinem Namen. Diese Information hat Genscher über 20 Jahre für sich behalten, er war lange genug im politischen Geschäft, um zu wissen, daß das nicht geheim bleiben konnte, solbald deutsche Journalisten Aktenzugang haben würden. Übrigens wußte auch die Stasi seit 1970 von Genschers NSDAP-Mitgliedschaft.Wie glaubwürdig ist seine Erklärung?

Die Legende von den unwissentlichen Mitgliedschaften kursierte bereits unmittelbar nach dem Krieg. Was sagt es über unser Geschichtsverständnis aus, wenn heute noch immer die gleichen Ausflüchte zur Beteiligung am Nationalsozialismus gemacht werden?

Ich halte es für ausgeschlossen, daß man ohne eigenes Wissen Mitglied der NSDAP werden konnte. Eine Voraussetzung, die bis zuletzt penibel geprüft wurde, war ein Aufnahmeantrag mit eigenhändiger Unterschrift. Wir wissen inzwischen alles über Hitlers Hund und Eva Brauns Armbanduhr, aber wenn heute noch behauptet wird, daß man ohne eigenes Wissen Mitglied der NSDAP werden konnte, dann sind 65 Jahre Aufklärung wirkungslos geblieben.Kurz zu Ihrem Buch: Sind weitere Enthüllungen in Sachen Geheimdiplomatie und Täuschung der Öffentlichkeit zu erwarten?

Ich war, wie wir alle, völlig überrascht, als Günter Grass 2006 erklärte, in der Waffen-SS gewesen zu sein. Ich habe mich gefragt, ob wir Zeitzeugen wie Grass vielleicht nie die richtigen Fragen gestellt haben, weil wir einfach nicht darauf kamen, daß da etwas sein könnte. Staatlicherseits wurden von oben – zu Recht! – Buße und Wiedergutmachung verordnet, während die betroffenen Politiker alles dafür taten, eine »neue Entnazifizierung« zu verhindern. Im Klartext: Schuld und Mitschuld einzelner im »Dritten Reich« waren kein Thema. Die ersten Studien über den hessischen Landtag belegen, daß die Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder in deutschen Parlamenten viel größer war als offiziell zugegeben. Da wird noch einiges rauskommen.

Quelle: www.jungewelt.de vom 08.05.2013
Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 08. Mai 2013 um 16:09 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

«  –  »

Keine Kommentare

No comments yet.

Sorry, the comment form is closed at this time.

Kategorien

über mich

antifaschismus

Linke Links

NGO Links

Ökologie

Print Links

Archive

Sonstiges

Meta

 

© Huste – Powered by WordPress – Design: Vlad (aka Perun)