U-Bahn-Unterführung, Hauptwache, Frankfurt am Main. Allabendlich suchen erschöpfte Menschen ohne Wohnung und Arbeit hier einen Schlafplatz, um vor Kälte und Regen geschützt zu sein. Auch am Weihnachtsabend: Ein gestrenger Wachmann schaut wichtigtuerisch auf seine Uhr; erst Punkt 22 Uhr dürfen sie ihre Schlafsäcke und Decken in einem abgetrennten Bereich ausbreiten. Alle wissen das offenbar. In gebührendem Abstand stehen deshalb Frauen und Männer mit müden Gesichtern wartend herum. Anfang November schon hatte die Stadt Frankfurt Eigenwerbung für Selbstverständliches gemacht: Die B-Ebene sperre man im Winter nachts nicht mehr zu, sondern öffne sie für Obdachlose. »Im Sozialdezernat hat man Angst, hier könnte mal einer den Erfrierenstod sterben«, was zu negativer Publizität führen könne, kommentiert Gerald Breustedt vom Verein »Menschenskinder«. Der Anblick der Armutsmigranten störe aber das Konsumklima vor den Geschäften. Eine Security-Mannschaft der Zeitarbeitsfirma WISAG wacht darüber, daß sich tagsüber dort niemand niederläßt.
Besonders rabiat ist Sonntag nacht eine weibliche Sicherheitskraft: Als ein eingeschüchterter Osteuropäer um 22 Uhr die Treppe in den U-Bahn-Schacht herunter will, um dort zu schlafen, versperrt sie ihm den Zugang. Begründung: Ihn habe sie bereits tagsüber dreimal rausgeschmissen. Die Wachschutzleute sind in dieser Nacht gereizt. Was passiert, empfinden sie offenbar als Aufruhr: Der ehrenamtlich tätige Breustedt hat dicke Rollen gespendeten Materials mitgebracht, das er mit Helfern zu Isomatten zerschneidet, um sie den Obdachlosen zu schenken. Zudem nervt, daß eine jW-Journalistin vor Ort ist. Breustedt müsse erst eine Genehmigung von der Verkehrsgesellschaft Frankfurt (VGF) einholen, fordert ein Wachmann. Der Spendenverteiler ist anderer Meinung. Tags zuvor habe er einen VGF-Mitarbeiter über sein Vorhaben benachrichtigt, der sich nicht die Bohne dafür interessiert habe. Ein Disput beginnt, in dessen Verlauf das Sicherheitspersonal die Polizei holt. Ein Wachmann droht, er müsse Verantwortung übernehmen, falls irgend etwas mit den Matten passiere, diese beispielsweise Feuer fingen. Kosten für eine mögliche Entsorgung müsse er auch übernehmen.
Die Vorgeschichte des Konflikts schildert Breustedt gegenüber jW: Vor kurzem standen in der B-Ebene noch Schließfächer zur Verfügung, in denen die Menschen ihr bißchen Habe unterbringen konnten. Am 11. Dezember leerte der Sicherheitsdienst die Fächer »in einem ignoranten Akt«, warf alles auf den Boden und entwendete sogar Schlafsäcke und Isomatten. Seither sind die Fächer verschlossen. »Eine an die Substanz gehende Repressionsmaßnahme, die diese Menschen existentiell bedroht«, schimpft Breustedt. Für einen Obdachlosen bedeute dies, nicht mehr zu wissen, wie er die Nacht verbringen soll.
An diesem Sonntag ziehen sich die Polizisten schließlich zurück, ein Wachmann, dem die Auseinandersetzung sichtbar peinlich ist, hat vermittelt. Ungeachtet der Spannung zwischen Helfern und Securitys lassen sich etwa 60 Menschen auf eigenen Unterlagen oder den neuen Isomatten nieder. Einige schlafen sofort erschöpft ein, andere unterhalten sich miteinander oder essen gemeinsam. Sie kommen in kleinen Gruppen, nehmen angestammte Plätze ein. »Dort Rumänen, hier Bulgaren, dahinten Polen«, erklärt der 20jährige Alex, der vor zwei Jahren aus der rumänischen Stadt Sibiu nach Frankfurt kam. Auf die Frage von jW, wie sie den Tag verbringen, zuckt er die Schultern, deutet auf die neben ihm Sitzenden: »Flaschensammeln, Betteln, Flaschensammeln, und so weiter. Überall, wo wir sind, vertreiben uns Wachleute, das ist anstrengend«.
Wie es einem ergehen kann, der arbeitet, berichtet der Bulgare Petko Alexandro. Vom 16. bis 20. Dezember hatte er täglich neun Stunden auf dem Bau geschuftet, für einen Stundenlohn von acht Euro, insgesamt 360 Euro: Nur 170 hat er erhalten. Auch Saute von der bulgarischen Gruppe ist nicht gut drauf: 30 Euro am Tag fürs Saxophonspielen auf der Einkaufsmeile Zeil. Das ist mickrig. Liberty macht sich Sorgen, weil seine Frau Elli im vierten Monat schwanger ist. Bei zehn oder 15 Euro fürs Flaschensammeln täglich sei mit Kind nicht über die Runden zu kommen.
Eine rumänische Gruppe berichtet, sie habe Wurst und Fisch geschenkt bekommen, aber kein Brot. Drei junge Leute bringen später welches. Sie verständigen sich über Facebook, wer wann welche Lebensmittel bringt. Um 22.30 Uhr schlafen die ersten Obdachlosen. Um 5.30 werden die Wachleute sie wecken; um sechs müssen sie die B-Ebene wieder verlassen haben. Am Morgen des 25. Dezember gibt es eine unangenehme Überraschung, berichtet Breustedt jW: Ausgerechnet zwischen fünf und sechs Uhr hätten die Obdachlosen die öffentlichen Toiletten verschlossen gefunden. Solche Schikanen zermürben. Ein neuer Tag in der Kälte beginnt.
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