Gegen Geschichtsverfälschung am Duisburger Steinbart-Gymnasium (siehe jW vom 25. Juli) – Brief an die Schulleitung:
Mit Entsetzen mußten wir, die diesjährigen Abiturienten des Steinbart-Gymnasiums, feststellen, daß unsere Abiturzeugnisvergabe für rechtsextreme und geschichtsrevisionistische Propaganda mißbraucht wurde. Dabei wurden uns sogenannte Albertinanadeln ausgehändigt, gemeinsam mit einem Informationsblatt, in dem von deutschen Gebietsansprüchen in Rußland und Polen die Rede ist. Aus spontanem Protest verweigerten einige von uns die Annahme und stellten Nachforschungen im ebenfalls ausgehändigten Buch »Das Steinbart-Gymnasium zu Duisburg 1831–1981« an.
Der Inhalt schockierte uns: Von den ermordeten und deportierten jüdischen Schülern war keine Rede, dafür aber u.a. von der »nationalsozialistischen Revolution«, dem alliierten »Terrorangriff vom 13. Mai 1943«, einem »Bekenntnis zum deutschen Osten« – mit dem Gebiete in Polen und Rußland gemeint sind – seitens des Steinbart-Gymnasiums und einer totalen Verdrehung der Realität vom Kriegsende als »Katastrophe von 1945« samt »seinem unglücklichen Ausgang«. Den Widerstandsaktionen des Antifaschisten und Steinbart-Abiturienten Harro Schulze-Boysen, den sein Engagement sein Leben kostete, wird in der Publikation ein »landesverräterischer Charakter« unterstellt und behauptet, seine Verurteilung zum Tode durch die NS-Richter sei Ergebnis eines »in einwandfreier Form« durchgeführten Prozesses gewesen.
Wir sind zutiefst empört. Diese Art von Geschichtsverfälschung steht im Gegensatz zu den Grundwerten einer offenen, antifaschistischen und demokratischen Gesellschaft. Schulen sollten diese Werte vermitteln und pflegen und uns zu mündigen Menschen erziehen. Wir fühlen uns daher verpflichtet, auf diesen Skandal aufmerksam zu machen und fordern eine klare Aufklärung. Dies wollen wir gemeinsam mit der Duisburger Zivilgesellschaft erwirken. Eine einfache Stellungnahme mit dem Verweis auf das Alter des Textes lehnen wir ab: Die Auflage ist aus dem Jahre 2000, die abgedruckte Abiturientenliste sogar bis zum Jahrgang 2011 aktualisiert worden. Auch die Ausrede, es handele sich um ein authentisches Zeitdokument, können wir nicht gelten lassen, da mit dieser Begründung jedwede Propaganda und Literatur verbreitet werden kann.
Von der Schulleitung des Steinbart-Gymnasiums fordern wir daher:
– Eine Distanzierung von dem geschichtsrevisionistischen Inhalt des Buches »Das Steinbart-Gymnasium zu Duisburg 1831–1981« sowie dessen kritische Überarbeitung nach antifaschistischen und demokratischen Werten.
– Eine Aufarbeitung der Schulgeschichte im Nationalsozialismus, mit besonderem Hinblick auf ihre jüdischen und antifaschistischen Opfer.
– Ein klares Bekenntnis zum antifaschistischen Widerstandskämpfer Harro Schulze-Boysen – dabei anerkennen wir die ersten bereits gemachten Schritte.
Unterzeichner: Verschiedene Schüler und Ehemalige des Steinbart-Gymnasiums, Duisburger Netzwerk gegen Rechts, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) Kreisverband Duisburg, Jüdische Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen K.d.ö.R., Die Linke Kreisverband Duisburg, Friedensforum Duisburg, Deutsche Friedensgesellschaft (DFG-VK) Duisburg
Quelle: www.jungewelt.de vom 28.07.13
Ich bekomme gerade viele Mails und auch hier auf FB viele Kommentare zu meiner Pressemitteilung und dem Bericht in der Süddeutschen über „die Kofferträger“ in Schäbisch Gmünd. Ich nehme die Gedanken und Einwürfe zu meiner Position ernst. Da ich in der Tagespresse nur sehr knapp wiedergegeben worden bin, möchte ich gerne ausführlicher darlegen, was genau mich an der Gmünder Initiative abstößt.
Einige meinen, mir nahelegen zu müssen, einmal persönlich mit Flüchtlingen zu sprechen. Hier sei vorweggenommen, dass ich seit Jahrzehnten genau dies tue, in Berlin, in meinem Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen, in Aufnahmezentren, Abschiebeknästen, in etlichen Herkunftsländern. Was die Nöte von Flüchtlingen angeht, habe ich einen tiefen Einblick aus den vielen, vielen Gesprächen, die ich mit ihnen geführt habe.
Elende Situation wird ausgenutzt
Durch mein jahrzehntelanges Engagement in der Flüchtlingsarbeit weiß ich, wie sehr sich Flüchtlinge ihre Integration in die Gesellschaft wünschen. Ich weiß auch durch zahllose Gespräche mit Flüchtlingen, wie verzweifelt sie sind, wenn sie immer wieder auf Ablehnung, Ausgrenzung und Feindseligkeit stoßen. Und ich weiß, dass das Arbeitsverbot eines der größten Integrationshindernisse ist.
Ich bitte diejenigen, die meine Ablehnung der „Kofferträger“-Initiative empört, sich einmal zu fragen: Was sagt es über den Zustand einer Gesellschaft aus, wenn Flüchtlinge froh darüber sind, für einen Euro pro Stunde Koffer schleppen zu dürfen? Was sagt es aus, wenn dieses Kofferschleppen zum Maßstab von „Integration“ wird?
Ich weiß, dass viele Langzeitarbeitslose sich nach einer regelmäßigen Tätigkeit sehnen, und sei sie noch so schlecht bezahlt. Und ich weiß, dass Häftlinge im Knast lieber arbeiten, als in der Zelle die Zeit totzuschlagen. Aber sollten wir deshalb Unternehmer ermuntern, im Namen der Integration die Produktion in Knäste zu verlagern?
Es ist doch so: Flüchtlinge leiden in Deutschland unter einer solchen Vielzahl von Schikanen, dass sie systematisch in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit und Depression getrieben werden.
Sie unterliegen der Residenzpflicht, auch wenn diese in der Mehrzahl der Bundesländer lockerer gehandhabt wird – noch immer ist es Flüchtlingen verboten, sich im Bundesgebiet frei zu bewegen. Teilweise werden sie in Sammelunterkünften untergebracht und bekommen Lebensmittelpakete statt Bargeld. So nimmt man ihnen die Möglichkeit, ihre Nahrung selbst einzukaufen, und damit nimmt man ihnen auch noch das letzte Stückchen Selbstständigkeit. Es ist ihnen im ersten Jahr ihres Aufenthaltes komplett verboten, arbeiten zu gehen, danach können sie nur arbeiten, wenn keine Deutschen oder EU-Bürger für die Arbeit gewonnen werden. Von rassistischen Vorurteilen, denen sie im Alltag begegnen, will ich jetzt gar nicht reden.
Jedenfalls werden Flüchtlinge nach allen Regeln der Kunst fertig gemacht, und dann wird ihnen das Koffertragen als „Ausweg“ angeboten. Hier von „Freiwilligkeit“ zu reden, verkennt, dass die Bereitschaft der Kofferträger aus ihrer Not heraus erzwungen wurde. Oder würden sie bei Leuten, die Flaschen sammeln, weil die Rente nicht reicht, oder Lebensmittelabfälle aus dem Container fischen, weil sie sonst nichts zu essen haben, auch sagen, sie handelten ja „freiwillig“? Flüchtlinge stehen in Deutschland nicht vor dem Hungertod, aber sie befinden sich in einer existenziellen und existenzbedrohenden, sozialen und psychologischen Zwangslage. Aus der muss man versuchen, ihnen rauszuhelfen, durch ernsthafte Integrationsangebote.
Aber: Integration ist eine Aufgabe, die die nicht nur Flüchtlinge bewältigen „müssen“, sondern ebenso die Mehrheitsgesellschaft. Es geht nur gemeinsam. Integration findet auf Augenhöhe statt, sie lässt sich nicht auf Ausbeutung, dem Ausnutzen von Zwangslagen und dem rassistischen Asylbewerberleistungsgesetz aufbauen.
Schwäbisch Gmünd, wurde mir mitgeteilt, habe eine hohe Bereitschaft, Flüchtlinge zu integrieren. Das wird sich ja hoffentlich nicht darin erschöpfen, sich von ihnen die Koffer tragen zu lassen. Die Gemeinde, kommunale Kulturprojekte, Sport- und Musikvereine, die Feuerwehr, Nachbarschaftsinitiativen usw. können ganz praktische Integrationsarbeit leisten, ohne jeden rassistischen und ausbeuterischen Beigeschmack. Das würde ich sehr begrüßen. Was gesetzgeberischen Änderungsbedarf auf Bundesebene angeht, habe ich schon seit langem Forderungen etwa nach Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes aufgestellt, die leider von der Partei des Herrn Bürgermeisters Arnold blockiert werden.
„Ich begrüße die Entscheidung der Deutschen Bahn, aus dem Ausbeuterprojekt für Flüchtlinge auszusteigen. Flüchtlinge als Kofferträger zu engagieren, ist kein Beitrag zur Integration, sondern ein schamloses Ausnutzen ihrer Lebenssituation“, kommentiert Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE einen Bericht von SPIEGEL online, in dem darüber informiert wird, dass Flüchtlinge als Billiglöhner am Bahnhof von Schwäbisch Gmünd eingesetzt werden sollten. Jelpke weiter:
„In Kolonialherrenart spricht die CDU von ‚Integration‘, wo Menschen öffentlich vorgeführt werden und ihre Notlage rigoros ausgenutzt wird. Statt endlich die Lebenssituation von Flüchtlingen zu verbessern, sollten sie mit Hungerlöhnen von 1,05 Euro pro Stunde abgespeist werden. Ausgestattet mit Sonnenhut und roten T-Shirts hätten sie pro Schicht läppische 6,30 Euro als Kofferschlepper und Lastenträger dazu verdienen können. Gerichte haben derartige Dumpinglöhne schon als Straftat gewertet.
Wenn es die CDU wirklich ernst damit meinen würde, Flüchtlingen eine Integrationschance zu geben, dann muss sie endlich dafür sorgen, dass benachteiligende Regelungen und Gesetze für Asylbewerber abgeschafft werden. Vor dem Hintergrund der aktuell stattfindenden bundesweiten Flüchtlingsproteste ist dieses Vorgehen der Stadt Schwäbisch Gmünd ein weiterer Schritt zurück in die Kolonialzeit.
DIE LINKE fordert: Asylbewerberleistungsgesetz, Residenzpflicht und Arbeitsverbote abschaffen- sofort!“
Der Fall des seit sieben Jahren in der Psychiatrie weggesperrten Gustl Mollath soll nicht neu aufgerollt werden. Das Landgericht Regensburg hat am Mittwoch die Wiederaufnahmeanträge der Staatsanwaltschaft und seines Anwalts Gerhard Strate abgewiesen. Man könne in beiden Gesuchen keinen zulässigen Wiederaufnahmegrund erkennen, teilte das Gericht am Mittwoch mit. Der 56jährige Nürnberger sitzt seit 2006 in der geschlossenen Anstalt in Bayreuth ein, weil er seine Exfrau mißhandelt, Autoreifen zerstochen und ein »paranoides Wahnsystem« im Zusammenhang mit mutmaßlichen Schwarzgeldgeschäften seiner Exgattin und ihrer Bankerkollegen zusammengesponnen haben soll. Mollath-Anwalt Strate kündigte gestern gegenüber junge Welt an, gegen den Entscheid vorzugehen.
Das Gesetz erlaube nur in engen Grenzen die Wiederaufnahme eines rechtskräftigen Urteils, heißt es in der Begründung des Landgerichts. »Nicht ausreichend ist, wenn im Rahmen eines Urteilsverfahrens Fehler gemacht werden oder ein Urteil Sorgfaltsmängel erkennen läßt.« Dabei wird eingeräumt, daß es im Strafverfahren gegen den Untergebrachten zu »Verfahrensfehlern« gekommen ist. Da jedoch keine strafbare und strafrechtlich verfolgte Verletzung der Amtspflicht zu beklagen sei, könne es auch keinen neuen Prozeß geben.
Wie jW berichtete, hatte der Regensburger Oberstaatsanwalt, Wolfhard Meindl, in einer ersten Fassung seines Wiederaufnahmeantrags gleich fünf mögliche Akte von Rechtsbeugung durch Exrichter Otto Brixner, der die Zwangseinweisung seinerzeit veranlaßte, aufgeführt. In dem schließlich eingereichten Gesuch fand sich keiner der Vorwürfe wieder. Auch sonst ist Brixner fein raus. Selbst bei »Erweislichkeit einer Amtspflichtverletzung« könne eine nachträgliche Verurteilung »mittlerweile wegen eingetretener Verjährung auch nicht mehr erfolgen«, so das Landgericht.
Mollath sieht sich als Opfer eines Komplotts. Ein interner Revisionsbericht der Hypo-Vereinsbank (HVB) stützt in weiten Teilen seine Darstellung, wonach Petra Mollath jahrelang illegal Gelder ihrer Kunden am deutschen Fiskus vorbei außer Landes geschafft hat. Für das Landgericht ist der Rapport indes nicht geeignet, den Beschluß des Landgerichts Nürnberg-Fürth aus dem Jahr 2006 zu erschüttern, »da es im Urteil bei der Überprüfung der Schuldfähigkeit von Herrn Mollath explizit für möglich gehalten wird, daß es Schwarzgeldverschiebungen von verschiedenen Banken in die Schweiz gegeben hat«.
Diese Darstellung erscheint rückblickend einigermaßen zynisch, schließlich hatte sich damals weder die Staatsanwaltschaft noch die Steuerfahndung für Mollaths Anschuldigungen interessiert. Vielmehr waren es eben diese »Phantastereien«, die Brixner bei Mollath »Wahnhaftigkeit« diagnostizieren ließen und den entscheidenden Grund für dessen Zwangspsychiatrisierung lieferten. Fast drollig erscheint heute das Gebaren von Justizministerin Beate Merk (CSU), die seit einigen Wochen medienwirksam für Mollaths Schonung plädiert. Sie werde umgehend Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts einlegen, tat sie gestern kund.
Das will auch Mollaths Anwalt Strate. Ihn überrasche der Beschluß gar nicht, befand er im jW-Gespräch. Das Landgericht habe »über Monate das ganze Repertoire juristischer Finessen ausgeschöpft, um die eigentlich unzweifelhaften Wiederaufnahmegründe abzuschmettern«. An Strates Zuversicht ändert das nichts: »Wir werden ihn schon bald rauskriegen.« Zur Not gehe man bis vors Bundesverfassungsgericht.
Man mag es nicht glauben, in Sachen Rassismus und Lohndumping hat Schwäbisch-Gmünd einen derzeitigen Tiefpunkt im Land erreicht. Im Ostalbkreis in Baden-Württemberg »dürfen« Asylbewerber jetzt Kofferträger spielen, Lokalpresse und Unionspolitiker feiern den Irrsinn als Integration. Die dazu gelieferten Bilder (kurzlink.de/Gmuender-Tagespost) erinnern eher an »Onkel Tom« von Harriet Beecher Stowe. 1,05 Euro die Stunde bekommen die fleißigen Helfer. Statt Ketten gibt’s einen weißen Strohhut (»gegen die Sonne«) und ein signalrotes T-Shirt.
Die Rems-Zeitung schwärmt vom »multikulturellen Servicebetrieb am Bahnhof«. »Flüchtlinge helfen am Bahngleis« hat die Gmünder Tagespost ihren euphorischen Bericht über die weitestgehend rechtlosen Billigjobber überschrieben. Weil der städtische Bahnhof für sieben Millionen Euro saniert werde – unter anderem sollen zwei neue Aufzüge für Barrierefreiheit sorgen – führt ein Treppengerüst aus Metall von Gleis eins auf zwei und vier. Das sei vielen Gmündern »ein Dorn im Auge«, so das Blatt am Dienstag. Denn mit Koffern oder gar Fahrrädern und Kinderwägen stelle der Übergang für viele eine Herausforderung dar.
Oberbürgermeister Richard Arnold hatte sich der »Herausforderung« angenommen und nun der Presse neun Asylbewerber – sie kommen aus Nigeria, Kamerun, Pakistan und Afghanistan – am Bahnhof vorgeführt. »Sie stehen den Fahrgästen wochentags von 6.15 Uhr bis 18.30 Uhr zur Verfügung, am Wochenende von 9 bis 11 Uhr und von 17 bis 19 Uhr«, liefert die Gmünder Tagespost die Servicezeiten mit. Die »Arbeiter« hätten sich freiwillig melden können und »verdienen« 1,05 Euro pro Stunde, das sei der gesetzliche Maximallohn für Asylbewerber. OB Arnold erwarte daher von den Fahrgästen ein Trinkgeld. Die Koffer-Fahrrad-Kinderwagen-Träger »zeigen gleich, daß Verlaß auf sie ist« (Gmünder Tagespost). »Helfer« »Kazim aus Afghanistan« sagt »in flüssigem Deutsch: »Ich freue mich total auf die Arbeit.«
Der CDU-Politiker sieht »viel Potential im Projekt«, so das Blatt: »Wir haben in Gmünd viele Flüchtlinge, und es werden stetig mehr. Da setzten sich die Bürger natürlich mit dem Thema auseinander. Es ist toll, wenn das durch eine witzige und tolle Aktion geschieht, die beiden Seiten was bringt«, erklärt Arnold. Sein Parteifreund, Landrat Klaus Pavel sekundiert: »Wir brauchen solche Projekte. Es ist toll, daß Flüchtlinge eingebunden sind. So kann sich gegenseitig geholfen werden und es können Sympathien entstehen.« Buckeln also, damit das Flüchtlingsheim nicht abgefackelt wird, generöses Trinkgeld statt normaler Job. Was als »Ausblick« daherkommt, sollte durchaus als Drohung verstanden werden: Das Projekt in Gmünd sei landesweit das erste seiner Art und könne somit auch als Vorbild dienen für andere Städte, heißt es schon. Das hat schon einmal funktioniert: Bei der Einführung der sogenannten Chipkarte für Flüchtlinge. Fortan gab es »Sachleistungen« statt Bargeld. Mittlerweile müssen auch Hartz-IV-Bezieher zu den Tafeln, bundesweit, nicht nur in Deutsch-Südwest.
Quelle: www.jungewelt.de vom 23.07.13
Der herrschende Mietwucher treibt immer mehr Menschen in die Armut. Vielen einkommensschwachen Haushalten verbleibt nach Abzug ihrer Wohnkosten weniger Geld zum Leben als Hartz-IV-Beziehern. Laut einer am Montag von der Bertelsmann Stiftung vorgelegten Untersuchung gilt dies für fast zwei Drittel der größeren Städte in Deutschland. Mancherorts wird danach mehr als jeder zweite verfügbare Euro für ein Obdach aufgebracht. Besonders hart trifft es Geringverdiener in Jena: Hier muß sich eine vierköpfige Familie nach Überweisung der Miete im Schnitt mit 666 Euro im Monat durchschlagen.
Wie die Gütersloher Denkfabrik durch die empirica AG in der Studie »Wohnungsangebot für arme Familien in Großstädten« ermitteln ließ, haben es vor allem Familien in Ballungsgebieten immer schwerer, passenden und erschwinglichen Wohnraum zu finden. In den bundesweit 100 größten Städten gelten demnach lediglich 27 Prozent der Angebote als familiengeeignet.
Wo es auf dem Wohnungsmarkt eng zugeht, wird es bekanntlich teuer. Für Haushalte, die weniger als 60 Prozent des ortsüblichen mittleren Einkommens zur Verfügung haben, sind den Befunden zufolge im Bundesdurchschnitt nur zwölf Prozent des Angebots finanzierbar. Mit Frankfurt (Main), Offenbach, München, Freiburg, Konstanz, Potsdam und Jena existieren gleich sieben Städte, in denen bloß ein Prozent des Angebots für entsprechende Familien bezahlbar ist.
Daraus folgt: Armut ist auch und vor allem eine Frage des Wohnorts. Der Studie zufolge haben Familien aus dem unteren Einkommenssegment in 60 der 100 größten Städte nach Begleichung der Miete im Schnitt weniger Geld zum Leben als solche, die Sozialleistungen erhalten. Als Rechenbeispiel dient eine vierköpfige Familie mit einem Kind unter sieben und einem zwischen sieben und 14 Jahren. Der fällige Hartz-IV-Regelsatz beträgt in diesem Fall 1169 Euro. Eine Vergleichsfamilie mit Erwerbseinkommen in Jena landete nach Abzug der Miete 43 Prozent unterhalb dieses festgelegten Existenzminimums. In Heilbronn mit seinem vergleichsweise entspannten Wohnungsmarkt verfügten einkommensschwache Familien dagegen um 66 Prozent mehr Geld als Hartz-IV-Bezieher.
»Mieten machen Mieter arm«, meldete sich gestern der Deutsche Mieterbund (DMB) zu Wort und forderte die Politik zum Handeln auf. »Wir brauchen mehr Wohnungsneubau, insbesondere auch mehr Sozialwohnungen und eine Begrenzung der Wiedervermietungsmieten«, forderte Verbandsdirektor Lukas Siebenkotten. Der Bundesregierung bescheinigte er eine katastrophale Bilanz. Besonders kritisierte er deren Änderung des Wohngeldgesetzes. Mit der Begründung, die Heizkosten seien gesunken, ist die entsprechende Komponente aus dem Gesetz ersatzlos gestrichen worden. »Es kann nicht sein, daß für einkommensschwächere Haushalte mit einem Haushaltsnettoeinkommen bis 1300 Euro die Wohnkostenbelastung mittlerweile auf über 45 Prozent geklettert ist, gleichzeitig aber die Zahl der Wohngeldempfänger zurückgeht und die Wohngeldansprüche sinken«, sagte Siebenkotten.
Der derzeit in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Rosdorf bei Göttingen einsitzende Waffenfan und Neonazi Mario M. hat die Rechtshilfeorganisation Rote Hilfe massiv bedroht. In einem der jetzt bekannt gewordenen Briefe aus dem Knast vom 23. Januar an die »linken Spasemacken« kündigte er an, nach seiner Haftentlassung wieder von »echten Schußwaffen« Gebrauch machen zu wollen. Er werde wohl »auf .45er Colt satteln, mit fiesen ›Hohl-Spitz-Smileys‹, die pilzen am Mann immer so herrlich auf!« Diese Waffe könne man auch »super mit ›Knallquecksilber‹ füllen – echt geil.« Hohlspitzgeschosse verursachen stärkere Verletzungen als konventionelle Munition. Knallquecksilber ist giftig und zerfällt schon bei geringer mechanischer oder thermischer Belastung. Die Rote Hilfe hat ihre Bundesgeschäftsstelle in Göttingen, nur wenige Kilometer vom Knast im Ortsteil Rosdorf entfernt.
Ein weiteres der an die Rote Hilfe gerichteten Schreiben war nach deren Angaben mit dem einschlägig bekannten Zahlen-Code »14 / 88 – Oier Messer« unterzeichnet. »14« bezieht sich auf die »14 Words«, das rassistische »Glaubensbekenntnis« des US-amerikanischen Nazis David Lane. »88« steht für »Heil Hitler«. Mit »Oier« bringt Mario M. offenbar sein Selbstverständnis als rechter Oi-Skinhead zum Ausdruck. »Die martialisch klingende Unterschrift ›Messer‹ ist nicht nur ein Bestandteil seines Nachnamens, sondern auch das Eingeständnis, daß eine ›Nacht der langen Messer‹ durchaus zu seinen Aktionsformen im Umgang mit dem politischen Feind zu zählen ist«, so die Rote Hilfe in einer Pressemitteilung.
M. wurde 2009 unter anderem wegen Verstößen gegen das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte in einer Göttinger Stripteasebar mit einer Pumpgun auf den Inhaber des Lokals geschossen und anschließend gemeinsam mit zwei Kumpanen Molotow-Cocktails gegen das Gebäude geworfen. In der Wohnung des früheren Bundeswehrausbilders stießen Beamte auf ein ganzes Waffenarsenal – beschlagnahmt wurden neben der Pumpgun eine Maschinenpistole, ein Scharfschützengewehr, Messer und Munition.
Weil M. ein Schreiben an das Landeskriminalamt »mit deutschem Gruß« beendete, verurteilte ihn das Amtsgericht Göttingen im Dezember 2011 zu weiteren zwei Monaten Haft ohne Bewährung. Unklar ist derzeit jedoch, wie lange M. noch im Gefängnis bleiben muß. Die Knastjahre hätten ihn »nur stärker gemacht«, schreibt M. dazu. »Wer mir auf den Sack gehen sollte, der wird sein blaues Wunder erleben. Ready to rumble … Fragen stelle ich nicht mehr. Lieber tot als rot!«
Die Rote Hilfe nimmt die Ankündigungen ernst und hat einen Anwalt eingeschaltet. Er soll unter anderem herausfinden, wie die Briefe aus dem Knast direkt an die Nazigegner gelangen konnten. Die Leiterin der JVA Rosdorf, Regina Weichert-Pleuger, sagte dazu gegenüber einer Lokalzeitung, daß der Briefverkehr von Strafgefangenen grundsätzlich nur einer Sichtkontrolle unterzogen würde, um sicher zu gehen, daß nichts herein oder heraus geschmuggelt werde. Eine Kontrolle der Inhalte könne nur dann von der Gefängnisleitung angeordnet werden, wenn ein konkreter Verdacht vorliege.
Die Antifaschistische Linke International (A.L.I.) hält die Drohungen von M. gegen die Rote Hilfe ebenfalls für realistisch. Zwar scheine M. derzeit nicht in der Neonaziszene organisiert zu sein, er gelte aber als »unberechenbar und gewaltbereit«. Kritik üben beide Organisationen an der Göttinger Staatsanwaltschaft. Sie scheine nicht willens, »einen äußerst gefährlichen, nazistischen Waffennarr davon abzubringen, Menschen aus linken Zusammenhängen ernsthaft zu bedrohen«. Daß die Ermittlungsbehörde sehr wohl ein Verfahren gegen M. wegen Beleidigung und Bedrohung eingeleitet hat, komme viel zu spät, meint die A.L.I. Schließlich wisse die Staatsanwaltschaft »spätestens seit Mitte April« von den Briefen.
Lazaros ist einer von 2200 Wachleuten an griechischen Schulen, denen über Nacht gekündigt wurde. »Am Freitag war ich noch arbeiten, am Samstag arbeitslos«, sagte er gegenüber jW. 15 Jahre hat er Schüler an staatlichen Schulen vor Drogenhändlern, Vandalismus oder auch den Angriffen von Mitschülern beschützt. »Ohne Wächter geht es nicht«, meint Lazaros, der überzeugt ist, daß sein Job in Kürze vom schlecht bezahlten Angestellten einer privaten Sicherheitsfirma übernommen werden wird, deren Inhaber sich die Dienstleistung vom Staat teuer bezahlen läßt.
Gegen die Entlassung Tausender öffentlich Angestellter, gegen die Auslagerung staatlicher Aufgaben an Privatunternehmen setzten sich viele Menschen am Dienstag in Griechenland mit einem neuen Generalstreik zur Wehr. Die Teilnahme an den Demonstrationen am Mittag blieb dabei hinter den Erwartungen der aufrufenden Gewerkschaftsdachverbände GSEE (private Wirtschaft) und ADEDY (öffentlicher Dienst) zurück. Trotzdem zogen allein in der Hauptstadt zum wiederholten Mal Tausende in zwei getrennten Demonstrationen vor das griechische Parlament. Zusammen mit ihren zwar streikenden, den Protest jedoch nicht auf die Straße tragenden Kolleginnen und Kollegen legten die Gewerkschafter dabei bereits zum dritten Mal in diesem Jahr das öffentliche Leben des Landes weitgehend still. Schulen, Behörden, viele Bankfilialen und andere staatliche Einrichtungen blieben geschlossen, in den Krankenhäusern wurden nur Notfälle versorgt. Während die Nahverkehrsmittel in den großen Städten arbeiteten, um die Streikenden zu den Kundgebungen zu bringen, traten ihre Kollegen bei der griechischen Bahn in den Ausstand. Auch die Schiffe blieben im Hafen, da die Hafenarbeiter für ihre immer noch dienstverpflichteten und damit einem Streikverbot unterliegenden Kollegen auf den Fähren in die Bresche sprangen. Die Fluglotsen legten über die Mittagsstunden ebenfalls die Arbeit nieder, was zu Ausfällen und Verspätungen von Flügen führte.
Der gestrige Generalstreik war Bestandteil einer mehrtägigen Kampagne gegen die Verabschiedung der Konkretisierungsbestimmungen für die Entlassung von 15000 öffentlich Angestellten bis Ende 2014 und die Verschiebung weiterer Zehntausender in eine maximal achtmonatige »Warteschleife«. Wer nach Ablauf der Frist nicht anderweitig vom Staat übernommen wird, landet danach ebenfalls auf der Straße. Opfer dieser neuen Runde in der von einheimischer Regierung und ausländischen Gläubigern ausgearbeiteten Kahlschlagspolitik waren nach den im Juni auf einen Schlag entlassenen etwa 2700 Angestellten der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalt ERT am vergangenen Wochenende alle 2200 Wachmänner an den Schulen, die 3500 direkt den Gemeinden unterstehenden Polizisten und etwa 2400 Lehrer geworden. Ihre Stellen hatte man noch vor der Abstimmung über die Gesetzesvorlage gestrichen.
Bereits seit dem vergangenen Wochenende sind vielerorts die Gemeindearbeiter im Ausstand, die teilweise auch die Rathäuser besetzt haben. Auch der Termin für die nächste große Protestdemonstration steht schon fest – der morgige Donnerstag. Anlaß ist der Besuch eines der Hauptverantwortlichen für die in Griechenland umgesetzte menschenverachtende Austeritätspolitik, des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble in Athen.