Wolfgang Huste Polit- Blog

Wutbürger Sarrazin. Berliner Studie hinterfragt Zahlenmaterial des Exbundesbankers über Muslime in Deutschland. Von Ulla Jelpke

Mittwoch, 12. Januar 2011 von Huste

Gern versucht Thilo Sarrazin, Kritiker seiner bereits 1,2 Millionen Mal verkauften Hetzschrift »Deutschland schafft sich ab« mit Verweis auf das umfangreiche in dem Buch enthaltene statistische Material Schachmatt zu setzen. Daß der Exfinanzsenator und Exbundesbanker es bei den Zahlen indes nicht immer so genau genommen hat, gab er gegenüber der Süddeutschen Zeitung bereits zu. Wenn man keine statistische Zahl habe, müsse »man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch«.

Doch auch dort, wo Sarrazin auf vorhandenes Zahlenmaterial zurückgreifen konnte, belegt dieses nicht seine Behauptungen über die angeblich gescheiterte Integration von Muslimen in Deutschland. »Für die letzten fünf Jahre sind relevante Fortschritte in der Integration statistisch meßbar und nachweisbar«, lautet das Ergebnis einer in dieser Woche veröffentlichten 70seitigen Studie »Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand«. Verfasser ist die an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelte Forschungsgruppe »Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle« (HEYMAT), in der Politologen, Sozial- und Islamwissenschaftler unter der Leitung der Politologin Naika Foroutan arbeiten. Sarrazin habe anders, als von ihm suggeriert, keineswegs wissenschaftliches Neuland betreten, sondern »auf Datenmaterial zurückgegriffen, das seit Jahren vorlag und das bereits in die alltägliche Arbeit der Verwaltungen, Sozialarbeiter und des Quartiermanagements eingeflossen« sei.

Bei sämtlichen Zuwanderergruppen mit muslimischem Hintergrund sei ein Anstieg der Bildung auszumachen, widerlegt die Studie Sarrazins Behauptung, es gäbe hier keine positive Entwicklung über die Generationen. Bei den von Sarrazin als besonders lernunfähig dargestellten Personen mit türkischem Migrationshintergrund ist seit der ersten Generation der »Gastarbeiter«, von denen lediglich drei Prozent die Hochschulreife erreichten, bis zum Jahr 2008, wo dies bereits 22,5 Prozent waren, ein 800 prozentiger Bildungsanstieg auszumachen.

Zwar beziehen mit 9,5 Prozent weit mehr türkischstämmige Bürger ihren überwiegenden Lebensunterhalt aus HartzIV als Bürger ohne Migrationshintergrund. Doch diese Zahl liegt weit unter den von Sarrazin behaupteten 40Prozent. Entgegen Sarrazins Wahrnehmung nimmt auch die Häufigkeit des Kopftuchtragens ab. 70 Prozent der Frauen mit muslimischem Hintergrund bedecken sich nicht.

Während Deutsche ohne Migrationshintergrund zu 92 Prozent ebensolche Partner heiraten, suchten sich 33,5 Prozent der muslimischen Männer 2008 eine nicht-muslimische Frau. Insbesondere Sarrazins These, wonach in Berlin 20 Prozent aller Gewalttaten von nur 1000 türkischen und arabischen Jugendlichen begangen würden, wird unter Verweis auf ein Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten zurückgewiesen. Lediglich 8,7 Prozent der Gewalttaten werden hier sicher dieser Gruppe zugeordnet.

Bei der Sarrazin-Debatte handle es sich nicht um eine Integrationsdebatte. »Vielmehr werden unter dem Stichwort Integration Ängste, Ressentiments und rassistische Abwehrreaktionen verhandelt«, meinen die Autoren der Studie. Sarrazin könne so als symptomatisch für jenen Teil der deutschen Gesellschaft angesehen werden, der derzeit mit dem Begriff »Wutbürger« charakterisiert wird. »Bürgerlich, konservativ und besserverdienend mit starker Tendenz zur Entsolidarisierung.« Unterdessen wurde am Wochenende bereits der siebte Brandanschlag auf eine Berliner Moschee seit Beginn der Sarrazin-Debatte bekannt.

Studie unter: www.heymat.hu-berlin.de

Quelle: www.jungewelt.de

Unsichere Sieger. Wider die Verteufelung des Kommunismus Von Kurt Pätzold

Mittwoch, 12. Januar 2011 von Huste

Wenn in deutschen Landen zwischen Rhein und Oder künftig irgendwo das Wort »Kommunismus« zu hören sein sollte, dann hat der Bundesbürger sein »Gottseibeiuns« zu sagen oder, ist er ein Atheist, eine andere Abscheu ausdrückende Formel zu murmeln. Ist das Wort gar ohne sogleich anschließende Erwähnung der Millionen Toten gefallen, die auf das Konto von Stalins und seiner Komplizen Herrschaft gehören, dann ist eine der gewählten Formeln dreimal zu wiederholen. Im Ernst nun: der Antikommunismus hat hierzulande eine neue Qualitätsstufe erreicht. Ein Begriff, der ungleich älter ist als der Marxismus, soll aus der gesellschaftlichen Debatte genommen werden und für alle Zukunft ein pejoratives Vorzeichen erhalten. Wer hat das nötig? Und zu wessen Nutzen?

Die Antwort läßt sich beim Blick auf die Bewertungen finden, welche die bürgerliche Gesellschaft in jüngster Zeit bei Umfragen unter den Bürgern dieses Staates erhalten hat. Eine erhebliche Anzahl von ihnen hält die Verteilung von Macht und Eigentum in Staat und Gesellschaft nicht für »gerecht«. Sie halten eine andere Ordnung menschlichen Zusammenlebens für denkbar und wünschenswert, wenn sie auch meist nicht glauben, daß sie erreichbar wäre.
Suchtrupp
Der Begriff Kommunismus ist allerdings geschändet, nur nicht durch einen Versuch, von der Idee zu einer ihr gemäßen geschichtlichen Wirklichkeit zu gelangen, sondern durch seinen Mißbrauch. Die Untaten der Stalin-Ära gingen von Führern einer Partei aus, die sich Kommunistische Partei nannte. Sie wurden auch unter Berufung auf die Begründer des modernen kommunistischen Denkens, auf Marx und Engels, gerechtfertigt. Mit den Vorstellungen, die Marx und Engels, Bebel und Wilhelm Liebknecht, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von einer Gesellschaft der Zukunft entwickelten und hegten, hat aber das stalinistische Regime nichts gemein. Die Unvereinbarkeit dieser mit jenem läßt sich an deren Schriften dartun. Das ist hinreichend geschehen.

Nun hat die junge Welt-Redaktion zu einer Konferenz geladen, deren Haupttitel jedenfalls einem Einfall entsprang: »Wo, bitte, geht’s zum Kommunismus?« Gesine Lötzsch hat zum Generalthema einen vernünftigen und klugen Artikel geschrieben. Wer ihn bei einigem Verstand gelesen hatte, zweifelte nicht daran, daß Kommunismus nicht ihr und ihrer Partei Thema, geschweige denn Sorge bilde, sondern allenfalls das und die kommender Generationen werden könne. Ebenso klar war dem Text ihre Ablehnung dessen zu entnehmen, was sie als »Parteikommunismus« bezeichnete, also jener Weg und Anspruch, der sich mit dem Namen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und insbesondere dem Stalins verbindet. Indessen: Allein das klare Bekenntnis dazu, sich auf einen Weg aus dieser bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu machen, ausgerüstet und belastet mit mehr Fragen als Anworten, mit Hoffnungen und Zweifeln hat genügt, um Scharen von Politikern und Journalisten auf den Plan zu rufen und alles an Verdrehungen, Beschuldigungen, Verdächtigungen zu erbrechen, was sie irgend hervorwürgen konnten und dazu, nach Verfassungsschutz und Verfassungsrichtern zu verlangen. Die Frau sei eine Kommunistin und sie wolle aus ihrer Partei eine kommunistische machen, ja das sei die getarnt ohnehin großenteils schon.
Taktisches Kalkül
Es würde zu kurz greifen, die Schmutzkampagne einzig dem Unbehagen zuzuschreiben, mit dem die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie den nahenden Landtagswahlen 2011 entgegensehen. Wahrscheinlich ist, daß Wähler, indem sie Die Linke bevorzugen, jene einfachen Lösungen verderben, mit denen sich bislang mal diese mal jene kungelnde Landesregierung bauen ließ. Also soll sie so klein wie möglich gehalten werden. Doch hat die Reaktion auf den Zeitungsartikel von Lötzsch mit diesem vergleichsweise kurzfristigen taktischen Kalkül ihr Bewenden nicht. Wie sich am bisherigen Verlauf der Diskussion über das Parteiprogramm der demokratischen Sozialisten zeigt, waren die Hoffnungen, daß sich diese Partei auf den Platz setzt, den die Sozialdemokratie unter der Führung Gerhard Schröders und Franz Münteferings gerade frei gemacht hatte, verfrüht. Und aus gewisser Perspektive war der Beitrag der Kovorsitzenden eine Bestätigung dafür, daß diese Hoffnungen zunächst begraben werden können. Die Enttäuschung traf herb und das erst erklärt die Reaktion, die sich Echo nicht nennen läßt, näher. In ihr drückt sich stärker noch aus, daß der Plan als gescheitert anzusehen ist, alle Ideen und Hoffnungen auf eine andere Gesellschaftsordnung auf den »Müllhaufen der Geschichte« zu entsorgen und für die K- (d.h. die Kapitalismus-)Frage eine finale Lösung zu finden. Die Sieger der Geschichte des Jahres 1989/1990 sind der Dauerhaftigkeit ihres Sieges unsicher geworden. Sie fürchten nicht für morgen. Aber für übermorgen? Und den Deutschen unter den Siegern steckt, um ein über die Generationen lebendig gebliebenes Geschichtsbild anzurufen, Stalingrad in den Knochen.

So betrachtet, hatten die Linken mit und ohne Parteibuch Grund, das Geschrei der Politiker und der Medien nach dem Lötzsch-Artikel mit einiger Gelassenheit zur Kenntnis zu nehmen. Sie konnten sich beispielsweise des vermutlich aus dem arabischen stammenden Sprichworts erinnern »Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter«. Sie konnten sich auch darauf verständigen, ihrer Vorsitzenden beizutreten mit der Erklärung: Wir lassen uns das Nachdenken und Diskutieren über eine mögliche zukünftige menschenfreundliche Ordnung nicht verbieten oder limitieren. Und: Wir lassen uns nicht verbieten, mit Menschen, die sich darüber auch ihre Gedanken machen, in einen Disput einzutreten, um für unsere Überlegungen und Ansichten zu werben und diese zugleich der Kritik auszusetzen. (Sie hätten dem noch hinzufügen können: Wir nehmen davon einzig jene Minderheit sich fälschlich als Linke verstehender Leute aus, die entweder unverbesserliche Stalinisten sind oder einfach Spinner, Selbstdarsteller, Krawallmacher, Provokateure ohne vernünftiges Ziel).
Zielvorstellung
Statt dessen ist – freilich war das keine Totalüberraschung – ein Teil der Mitglieder der Linken und insbesondere Leute in deren erster Reihe nicht darauf verfallen, zu erklären, was sie sind und wollen und sich nicht untersagen lassen, sondern zu beteuern, was sie ganz bestimmt nicht sind und was sie gegen den Auftritt ihrer Vorsitzenden einzuwenden haben. Sie konzentrierten sich darauf, das Etikett abzulösen, das ihnen da aufgeklebt wurde. Nicht zum ersten, sondern wieder einmal, denn diese Praxis gehört zu ihrer Bekämpfung seit es diese Partei in ihren sich wandelnden Existenzformen gibt. Und diese angestrengten Reinigungsarbeiten wurden gelegentlich gar von der Klage, sozusagen dem Ruf nach der gelben Karte begleitet: »Mit uns wird nicht fair verfahren.« Ja, auf welchem Sportplatz glauben sich denn diese Politiker immer noch, nachdem sie jahrelang in dieser Liga »spielen«?

Und dann folgten Beteuerungen vom Typ des »Gottseibeiuns« in der Abwandlung »Wir sind keine Kommunisten. Wir waren keine Kommunisten. Und wir werden keine Kommunisten sein.« Wem wird das versichert? Dem Bundesverfassungsschutz? Den nach wie vor in den Löchern des Kalten Krieges sitzenden Journalisten? Dem Sigmar Gabriel? Den Mitgliedern der »Kommunistischen Plattform« innerhalb der Partei? Könnten sich die Angehörigen dieser neu geschaffenen Partei, die um Weg und Ziel noch ringt, nicht eher und besser darauf verständigen, daß in ihren Reihen Platz für radikale Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten ist, sofern sie die Zielvorstellung akzeptieren, die als demokratischer Sozialismus bezeichnet und gemeinsam entwickelt und vereinbart wird? Was eigentlich ist gegen Leute einzuwenden, die glauben, darüber eines fernen Tags noch hinaus gelangen zu können, die meinen, daß sich ein menschliches Zusammenleben in Gleichheit und Freiheit erreichen läßt, wie es sich Kommunisten vor und mit Marx vorstellten, ohne Nötigung oder Vergewaltigung, unter strikter Ablehnung des Grundsatzes, daß der gute Zweck die schlechten, womöglich verbrecherischen Mittel heilige?

Es gibt ein absehbares Stück Zukunft, in das sich hinein sehen läßt. Es erscheint als Resultat und Folge des bisherigen und momentanen Tuns und Lassens von Menschen. Von diesem Wegstück läßt sich mit Vorsicht und unter Vorbehalten sagen, welche Bewegungsmöglichkeiten und Handlungsalternativen sich Menschen in ihm bieten, zwischen welchen sie also wählen können. Darüber wird ungeachtet aller Widerstände der Satten, Zufriedenen, Gleichgültigen weiter nachgedacht und gestritten werden. Dahinter beginnt dann die Glaubenszone.

Quelle: www.jungewelt.de vom 12.01.11

Hungerrevolten. Tote und Verletzte bei sozialen Protesten in Algerien und Tunesien. Krisensitzung der Regierung in Algier. Von Karin Leukefeld

Dienstag, 11. Januar 2011 von Huste

In den nordafrikanischen Staaten Tunesien und Algerien dauerten die sozialen Proteste auch am Montag an. Die Zahl der Todesopfer in Tunesien ist auf 23 angestiegen, in Algerien starben drei Menschen und über 800 wurden verletzt. Die Proteste richten sich gegen hohe Arbeitslosigkeit und hohe Lebensmittelpreise. Nach Meinung politischer Beobachter sind die Proteste Ausdruck grundsätzlicher Revolten gegen die politischen Eliten.

In Algerien fordern die Demonstranten Wohnungen, Bildungschancen und bessere Gesundheitsversorgung, berichtete Dalila Hanache vom algerischen Internetportal Echorouk. Die Preiserhöhungen seien nur der Auslöser gewesen, der die Wut zum Ausbruch gebracht habe. Die Regierung ignoriere die Bedürfnisse der Bevölkerung seit langem, sagte auch Mohamed Ben Madani von der Maghreb Review im arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira. »Die Jugendlichen wollen, daß die Regierung sie am Reichtum des Landes teilhaben läßt.« Der ehemalige Botschafter Algeriens in Libyen, Mohamed Zitout, sprach von einer »möglichen Revolution unterdrückter Menschen, die in einem sehr reichen Land seit 50 Jahren auf Wohnungen, Arbeit und ein würdiges Leben warten.« Die »sehr reiche herrschende Elite« kümmere sich nicht darum, wie es im Land aussehe.

Die Arbeitslosenquote in Algerien wird offiziell mit zehn Prozent angegeben, andere Quellen sprechen von bis zu 25 Prozent. Nach Angaben der Einzelhandelsgewerkschaft waren die Preise Ende 2010 um bis zu 30 Prozent gestiegen. 75 Prozent der algerischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre, und mindestens 20 Prozent der Jugendlichen sind ohne Arbeit. Seit einem schweren Erdbeben 2003 fehlt für die Bevölkerung zudem eine Million Wohnungen.

In den letzten Tagen sollten bei Protesten in verschiedenen Städten Algeriens mindestens drei Menschen getötet worden sein. Einer wurde von der Polizei erschossen, als er angeblich eine Polizeistation stürmen wollte, ein anderer starb durch eine Tränengaskartusche, die in seinem Gesicht explodierte. Eine dritte Person starb in einem Hotel, das bei den Protesten in Brand gesetzt worden war. Das Innenministerium bezeichnete die Demonstranten als »Kriminelle« und behauptete, von den 400 Verletzten seien drei Viertel polizeiliche Einsatzkräfte, die die Unruhen stoppen sollten. Bei einer Krisensitzung wollte sich die algerische Regierung Anfang der Woche mit den steigenden Preisen und Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit befassen, hieß es. Als erste Maßnahme soll die Gewinnspanne bei Zucker und Speiseöl eingefroren werden. Die Preise waren Anfang Januar in die Höhe geschossen. Das Handelsministerium hatte zuvor auf die weltweit ansteigenden Preise für Nahrungsmittel verwiesen.

Laut Welternährungsorganisation (FAO) sind Nahrungsmittel derzeit so teuer, wie seit 30 Jahren nicht mehr. Im Dezember 2010 waren demnach die Preise für Fleisch- und Milchprodukte um 25 Prozent höher als 2009. Die Preise für Weizen, Mais und Reis stiegen um 39 Prozent. Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit müßte hungern, so die FAO.

In Tunesien sollen am Wochenende nach Angaben verschiedener Medien bei Protesten in Tala, Kasserine und Rgeb 14 Menschen getötet worden sein. Gewerkschaften berichteten von sechs Toten in Tala, 200 Kilometer südwestlich von Tunis. Dort hatte die Polizei das Feuer auf eine Demonstration eröffnet. Die Regierung rechtfertigte das Vorgehen mit der Gewalt, die von den Demonstranten ausgegangen sei, und sprach von Steinen und Molotowcocktails. Die Unruhen in Tunesien waren ausgebrochen, nachdem ein Student sich Mitte Dezember aus Protest gegen die Preiserhöhungen angezündet hatte. Der Schwerverletzte starb am 5. Januar, was neue Proteste auslöste, an denen sich auch Vertreter der Mittelschicht beteiligten. Journalisten und Rechtsanwälte protestierten dabei gegen die massive Behinderung ihrer Arbeit.

Tunesiens Präsident Zine Al-Abidine Ben Ali kritisierte derweil die Proteste als »inakzeptabel« und sagte, sie schadeten den nationalen Interessen des Landes, das Investoren und Touristen ins Land bringen wolle.

Quelle: www.jungewelt.de vom 11.01.11

Instrumentalisierte Meinungsfreiheit. Der Verlauf der Sarrazin-Debatte zeigt den Erfolg einer rechten Kampagnenpolitik. Von Thomas Wagner

Dienstag, 11. Januar 2011 von Huste

Eine besonders unerfreuliche Folge der ohnehin in nicht gerade wenigen Aspekten desaströs verlaufenden Debatte um Thilos Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« ist der Umstand, daß sie der radikalen Rechten die Genugtuung verschaffte, einige der wichtigsten ihrer – bis dahin weitgehend als menschenverachtend bewerteten – Auffassungen akzeptiert und noch dazu auf allen Kanälen der öffentlich-rechtlichen und der privaten Medien verbreitet zu finden. Ausgesprochen reaktionäre Ansichten über die Natur des Menschen, die vermeintliche Notwendigkeit sozialer Ungleichheit und das angebliche Konkurrenzverhältnis der Nationalitäten zueinander werden seitdem auf öffentlichen Foren ernsthaft debattiert, ohne daß irgend­einem Diskutanten dabei noch die Schamesröte ins Gesicht stiege. Quasi über Nacht scheint ein Gedankengut gesellschaftsfähig zu werden, das lange Zeit als rassistisch, nationalistisch und herrschaftsgläubig geächtet war.
Deutsche Zustände
Wie konnte das passieren? Die aktuelle Studie eines Bielefelder Forscherteams, veröffentlicht unter dem Titel »Deutsche Zustände«1, führt die insbesondere in den oberen Einkommensgruppen signifikant sinkende Bereitschaft, schwächere Gruppen zu unterstützen, auf die Art und Weise zurück, wie die Wirtschaftskrise im Bürgertum verarbeitet wird. Abstiegsängste und die Sorge um den sozialen Statuserhalt (auch dem der eigenen Kinder) machten selbst in kulturellen Fragen liberal eingestellte Schichten für sozialrassistische Thesen und Steuerabschaffungsphantasien zugänglich, wie sie von Sarrazin und Peter Sloterdijk formuliert worden sind. Die zunehmende Akzeptanz rechter Thesen in einem bürgerlichen Spektrum, das nach wie vor um Veranstaltungen der NPD einen großen Bogen machen würde, hat aber auch damit zu tun, daß sie immer im Verbund mit liberalen und demokratischen Vorstellungen präsentiert werden. So ist man nicht gegen das Kopftuch, weil man etwas gegen Ausländer hätte, sondern weil es ein Symbol der Unterdrückung der Frau sei. Man ist zwar nicht mit allem einverstanden, was Sarrazin äußert, findet es aber einen skandalösen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit, daß ihm angeblich der Mund verboten werden soll usw.

Bei näherer Betrachtung entpuppt sich der bürgerliche Aufstand gegen eine vermeintlich repressive Political Correctness auch als das Ergebnis einer beharrlich verfolgten Diskursstrategie rechter Politstrategen und Publizisten. In immer neuen Kampagnen pochen sie seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für ihre reaktionären Vorschläge auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, das ihnen vom angeblich alles dominierenden linksliberalen Establishment in Politik und Medien verwehrt worden sei. Der einflußreiche Schweizer Verleger Roger Köppel brachte noch am 7. September in der FAZ zum Ausdruck, wie sich die intellektuellen Rechtsausleger gewöhnlich in Stellung bringen, indem er die zu diesem Zeitpunkt im Ergebnis noch offene Sarrazin-Debatte in Frageform kommentierte: »Wieviel Meinungsäußerungsfreiheit verkraften die deutschen Eliten in Medien und Politik?«

Wie unbegründet die Sorge des Pressezaren um das Schicksal Sarrazins in Wirklichkeit war, zeigen zwei mittlerweile erschienene Bücher zur Debatte. »Deutschland hat allen Grund, Sarrazin dankbar zu sein«, lautet gleich der erste Satz in dem von der »Deutschlandstiftung Integra­tion« gezeichneten Vorwort zu der Artikelsammlung »Sarrazin. Eine deutsche Debatte«. Denn Sarrazin habe »eine breite Diskussion über das Für und Wider von Migration und Migranten ausgelöst«. Auch Patrick Schwarz, seines Zeichens stellvertretender Ressortleiter Politik der Zeit und Herausgeber des Sammelbandes »Die Sarrazin-Debatte. Eine Provokation – und die Antworten«, resümiert: »Ob Unterstützer oder Gegner, wir sind durch die Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins Thesen klüger geworden.« Warum das so sei, begründet Schwarz wie folgt: »Der frühere Berliner Finanzsenator und das spätere Vorstandsmitglied der Bundesbank hat in den Diskurs gezogen, was sonst meist unter dem Radar der Medien bleibt und zu oft auch unter dem Radar der Politik.« Thilo Sarrazin hält er außerdem zugute, »das Anliegen der Migrationskritiker in ihre stärkste Form gebracht zu haben.«
Ersehnter Dammbruch
Im politischen Spektrum rechts von der Union bewertet man den Verlauf und das Ergebnis der Sarrazin-Debatte als jenen seit langem ersehnten Dammbruch, in dessen Folge die eigene Sicht der Dinge endlich zumindest annähernd in dem ihr gebührenden Maße zur Geltung komme. Von den Blättern anarchokapitalistischer Friedrich-Hayek-Jünger bis zu den Publikationsorganen der völkischen Nationalisten und den politischen Strategen der NPD ist man sich bei allen sonstigen Unterschieden zumindest darin einig. »Es ist eine Tür zu einer freieren politischen Debatte aufgestoßen. Jetzt gilt es sie offenzuhalten«2, kommentierte beispielsweise Dieter Stein, Gründer und Chefredakteur der wöchentlich erscheinenden Rechtspostille Junge Freiheit, den aus seiner Sicht hocherfreulichen Vorgang.

In der Fernsehtalkshow »Anne Will«, so Stein weiter, habe der Philosoph Norbert Bolz das Buch von Sarrazin als »Geschichtszeichen« einer historischen Wende gedeutet. »Sarrazin war der Katalysator«3, konstatierte das der Jungen Freiheit nahestehende Institut für Staatspolitik (IFS) in seiner Studie über die Debatte. »Binnen weniger Wochen hat die Sarrazin-Debatte den Rahmen des Sagbaren in einem Ausmaß erweitert, das zu Beginn der Kampagne kaum zu erwarten war«4, frohlocken die anonym bleibenden Autoren. Ganz ähnlich bewertete André F. Lichtschlag das Phänomen. »Der Fall Sarrazin markiert eine Zeitenwende«, schrieb der Parteigänger eines von allen sozialstaatlichen Schranken entfesselten Kapitalismus im Editorial des von ihm herausgegebenen Magazins eigentümlich frei.

Die rechten Autoren haben allen Grund, den im Zuge der Sarrazin-Debatte erfolgten Dammbruch als ideologiepolitischen Erfolg zu verbuchen. Die publizistische Strategie der Jungen Freiheit besteht seit vielen Jahren darin, ihre radikalen Inhalte unter dem Deckmantel des Kampfes für die Meinungsfreiheit zu verbreiten. Götz Kubitschek, der Chronist dieser Zeitschrift und einer der wichtigsten jüngeren Ideologen von rechts, umriß deren Selbstverständnis wie folgt: »Aufgabe der Jungen Freiheit war und ist es, die Normalität rechtsintellektuellen (oder meinethalben auch konservativen) Denkens einzufordern, durchzusetzen und zu verteidigen. Wohlgemerkt die Normalität dieses Denkens, die grundrechtlich beschriebene Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse für Publizisten und Redakteure jeden Alters rechts einer wie auch immer definierten politischen Mitte.«5 Chefredakteur Dieter Stein faßte das politisch-publizistische Nahziel wie folgt zusammen: »Über die JF, über das, was wir schreiben und denken, muß in Deutschland völlig normal diskutiert und berichtet werden können.«6
Prominente Unterstützer
Stichwortgeber für Rassisten: Sarrazins Thesen werden im re
Stichwortgeber für Rassisten: Sarrazins Thesen werden im rechtsradikalen Milieu gerne aufgegriffen (Kundgebung von »Pro Deutschland« in Berlin, 23.Oktober 2010)
Foto: dapd
Gelegenheiten, bei denen sich die Blattmacher als Verteidiger der Pressefreiheit in eigener Sache in Stellung bringen konnten, gab es genug. Sie fochten einen juristischen Kampf gegen die Beobachtung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen aus, der darin mündete, daß die Zeitschrift nach eigener Aussage seit 2006 in keinem Verfassungsschutzbericht mehr erwähnt wurde. Einen an den damaligen Ministerpräsidenten gerichteten »Appell an die Pressefreiheit« unterzeichneten auch Prominente wie der Journalist Franz Alt oder der Maler Wolfgang Mattheuer. Auch gegen ihren von der Messeleitung ungeschickt eingefädelten Ausschluß von der Teilnahme an der Leipziger Buchmesse im gleichen Jahr mobilisierten sie 300 Unterstützer. Auch diese Kampagne führte schließlich zum Erfolg. Das heißt, die Junge Freiheit durfte ihren Messestand betreiben und bekam ein gehöriges Maß an medialer Aufmerksamkeit geschenkt.

Durch Auseinandersetzungen wie diese eher gestärkt als geschwächt, gelang es der Zeitschrift unter der Fahne der Meinungsfreiheit, auf eindrucksvolle Weise von der Defensive in die Offensive zu kommen. Ihre publizistischen Interventionen und Kampagnen zielten immer darauf, für ihre »tabubewehrten Themen« Akzeptanz zu schaffen und »die Aufnahmebereitschaft für notwendige Härten oder eine völlig neue Sichtweise der Dinge« zu erhöhen7. Heute haben die Schlagworte der JF-Kampagne für Meinungsfreiheit längst außerhalb des engeren Kreises der Zeitschrift Früchte getragen. »In unserem Land ist zunächst einmal die Meinungsfreiheit wiederherzustellen«, fordert der Schriftsteller Richard Wagner8 im Kontext der Sarrazin-Debatte, und sein Kollege Thor Kunkel hat jüngst sogar den Versuch unternommen, den Begriff der engagierten Literatur im Sinne der JF-Kampagne umzudeuten9. Ginge es nach Kunkel, dann sollen Schriftsteller sich künftig nicht den Kampf gegen gesellschaftliche Mißstände auf die Fahne schreiben, sondern den Widerstand gegen eine angeblich überall vorherrschende Political Correctness und für die Freiheit, Dinge anders zu sehen.
Völkische Überzeugungen
Eines jener Felder, auf denen sich die von rechts gewünschte Normalisierung radikaler Positionen im Gefolge der Sarrazin-Debatte gerade zu vollziehen scheint, ist die Bevölkerungsdiskussion. Götz Kubitschek hält die Art und Weise, wie die Junge Freiheit die »Demographische Frage« seit Ende der achtziger Jahre thematisiert und »mit der Ausländerproblematik, der Massenzuwanderung, der nationalen Identität und der Dekadenz«10 verklammert habe, schon vier Jahre vor der Sarrazin-Diskussion für exemplarisch für ihre publizistische Strategie: »Angestoßen wird, was Thema werden könnte.«11

Als die Zeitschrift vor über 20 Jahren vor einer von ihr so genannten Volkskatastrophe zu warnen begonnen habe, die Deutschland angesichts der weitverbreiteten Kinderlosigkeit bevorstünde, seien die damals von ihr zum Beleg herangezogenen Experten aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen worden. »Wissenschaftler, die damals Alarmsignale sandten, tanzten selbst dann, wenn sie bloß Fakten referierten und eins und eins zusammenzählten, auf Messers Schneide. Denn spätestens bei der Frage, ob denn nicht die massenhafte Zuwanderung geburtenfreudiger Ausländer die deutsche Lendenlähmung kompensieren könnte, konnte sich kein Demograph mehr ins rechtwinklige Gehäuse seiner Statistiken zurückziehen: Entweder, er fand die Idee einer Auffüllung leerer Grundschulen mit anatolischen Kindern genauso toll wie der Fragesteller: dann war alles in Ordnung, weil er eine korrekte Antwort gegeben hatte. Oder aber er legte dar, warum Menschen nicht nur Ziffern, Ausländer keine Deutschen und Identität kein Hobby, sondern neben der bloßen Kinderzahl ebenfalls ein entscheidendes Zukunftsthema sei: dann traf ihn die Faschismuskeule mit voller Wucht.«12

Damals habe man beispielsweise den Wissenschaftler Robert Hepp mundtot gemacht. Der Soziologe und gelegentliche Autor der Jungen Freiheit war Mitglied des rechtsextremen Schutzbundes für das Deutsche Volk und hatte 1988 mit einem Buch die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versucht, das er »Die Endlösung der Deutschen Frage« nannte. Nun, im Jahre 2006, sehe das Meinungsbild freilich schon deutlich anders aus: »Die Erkenntnis, daß es bei der Diskussion über den Nachwuchs nicht um eine Zukunft an sich geht, sondern auf eine deutsche Zukunft ankommen muß, eine als deutsch identifizierbare Bevölkerung und keinen multikulturellen Rentenzahlerverband also, ist zaghaft, aber dennoch in den Feuilletons großer Zeitungen angekommen«, resümierte Kubitschek die bereits damals erreichte Akzeptanz der völkisch-nationalistischen Ideen in der Medienlandschaft des geeinten Deutschland13. Damit war der Boden bereitet für Thilo Sarrazins beispiellosen publizistischen Siegeszug. In einem Sarrazin-Sonderheft der vom rechten Institut für Staatspolitik herausgegebenen Theoriezeitschrift Sezession freut sich der Publizist Markus Abt darüber, daß Sarrazin »die demographische Katastrophe – die zuvor lediglich Teil der Rentendiskussion war – als Frage nach dem Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes« angesprochen habe«.14

Aber auch außerhalb des Themas Bevölkerungspolitik erkennen rechte Ideologen in Sarrazins Buch viele Gemeinsamkeiten mit dem nominellen Sozialdemokraten. Darin gebe es »zahlreiche Spitzen gegen Linke im Allgemeinen und Gutmenschen im Speziellen«15, begeistern sich die ungenannt bleibenden Autoren des IFS in ihrer Studie zur Sarrazin-Debatte. Sarrazins Argumentation fuße auf einigen gemeinsamen Grundüberzeugungen. Als da wären: ein gesunder Selbstbehauptungswille als Nation, um überleben zu können, die Notwendigkeit von politischer Hierarchie und sozialer Ungleichheit sowie die Anerkennung von Unterschieden zwischen Völkern und Rassen. »Einen gravierenden Tabubruch hat Sarrazin mit der Beleuchtung der Intelligenzfrage vollzogen: Er stellt damit rundheraus das Dogma der Gleichheitsideologie in Frage«16, begrüßt Markus Abt die entsprechenden Äußerungen Sarrazins. In die gleiche Kerbe schlägt André F. Lichtschlag. Sarrazins großer Verdienst bestehe in dem Hinweis, daß »das immer dreistere Wegnehmen durch die Krake Sozialstaat« zu »furchtbaren ökonomischen und menschlichen Verwerfungen« führe. »Werden die sozialstaatlichen Ansätze konsequent beschnitten, so könnten viele derer, die jetzt auf Kosten anderer leben, entweder selbst wieder eigenverantwortlich ihren Lebensunterhalt erarbeiten und sich nicht zuletzt dadurch integrieren – oder womöglich dann doch lieber andernorts ihr Glück versuchen.«17
Türöffner Sarrazin
Die Mehrzahl rechter Autoren schätzen Sarrazin als Türöffner, der ihren Ideen eine breite Akzeptanz in den Medien verschafft hat. Bei aller Gemeinsamkeit geht er ihnen aber längst nicht weit genug, da er das in ihren Augen »unerreichbare Ziel der Integration unter veränderten Bedingungen noch für realisierbar hält«18. Symptomatisch für diese Denkweise ist die folgende Äußerung von Martin Lichtmesz: »Selbst ein assimilierter und aufgeklärter ›Deutschländer‹-Türke wird gegenüber den Kopftuchmädchen, Islampredigern und Straßengangjungs gewisse familiäre Gefühle hegen, die er den angestammten Deutschen nicht entgegenbringen kann.«19 Spätestens in Krisenzeiten würden sich daher vermeintliche Integrationsfortschritte in Luft auflösen, glaubt Markus Abt zu wissen. »›Wir‹ und ›Nicht-Wir‹ sind in Konfliktsituationen sofort und wirkungsvoll auseinandersortiert.«20 Solche Einschätzungen ziehen die entsprechenden politischen Lösungsansätze nach sich. Michael Paulwitz forderte in der Jungen Freiheit, »daß es bei der Aufnahme und Eingliederung von Einwanderern um Völker, Kulturen und Identitäten gehen muß und nicht allein um Problemstellungen des Sozialin­genieurwesens.«21

Die Entwicklung einer politischen Kraft, die dieser Sichtweise auch im politischen Gefüge zum Durchbruch verhelfen könnte, hält er angesichts des nun erreichten »Mehr an Meinungsfreiheit« für rechte Positionen nur für eine Frage der Zeit. »Das mit Pfeifen im Walde vorgetragene Credo, eine freiheitlich-konservative Neugründung hätte traditionell in Deutschland keine Chance, könnte sich als Fehlspekulation erweisen. In zwei Sarrazin-Debatten ist auch die NS-Keule morsch geworden, die bisher stets erfolgreich gegen jeden neuen Versuch rechts der Union geschwungen wurde. Zerfällt die CDU, oder steigt ein deutscher Geert Wilders auf, den wir vielleicht noch gar nicht kennen? Mag sein, daß die kritische Masse noch nicht erreicht ist, daß die Zahl der Dissidenten aus Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Politik, die eine politische Reformbewegung stützen könnten, noch wachsen muß – doch auch dieser Nachtmahr wird die etablierten Parteizentralen noch heimsuchen, wenn die Erregung über Sarrazins Thesen längst wieder abgeklungen ist. Der Geist der Freiheit ist aus der Flasche und will freiwillig nicht mehr zurück.«22

Ähnlich sieht es der in den letzten Jahren selbst weit nach rechts gedriftete Medienwissenschaftler Norbert Bolz: »Die erste Aufgabe einer anspruchsvollen politischen Rechten wäre, zu sagen, was die Politische Korrektheit der Medienlinken zu sagen verbietet. Mehr noch als Ideen braucht man dazu Mut, denn in unserer Öffentlichkeit herrscht keine Waffengleichheit.«23 Als ein etwas verspäteter Trittbrettfahrer der Sarrazin-Debatte entpuppte sich zu guter Letzt auch der Journalist Jürgen Elsässer, als er Sarrazin im Kern recht gab. Er könne in dessen Thesen »nichts Rassistisches und nichts Antiislamisches erkennen«24, schrieb der ehemalige Antideutsche auf seinem Blog und lud nur wenig später seine rechten Kollegen Dieter Stein und André F. Lichtschlag zu einem Podiumsgespräch über die Chancen einer neuen Volkspartei ein.

Anmerkungen

1 Wilhelm Heitmeyer Hg.: Deutsche Zustände. Folge 9. Berlin, Suhrkamp 2010

2 Dieter Stein: »Der Bann ist gebrochen«, in: Junge Freiheit (37/2010), 10.September 2010, 1

3 Institut für Staatspolitik (Hg.): Der Fall Sarrazin. Eine Analyse, Albersroda 2010, S. 26

4 Institut für Staatspolitik (Hg.): Der Fall Sarrazin. Eine Analyse, Albersroda 2010, S. 30

5 Götz Kubitschek: 20 Jahre Junge Freiheit. Idee und Geschichte einer Zeitung, Schnellroda 2006, S.8

6 Kubitschek, a.a.O., S. 168

7 Kubitschek, a.a.O., S. 218

8 Richard Wagner: »Ist die freie Meinungsäußerung eine Provokation? Ein Lösungsansatz zur Reform der politischen Klasse« , in: eigentümlich frei (10/2010): Schwerpunkt: Zirkus Sarrazino. Dompteur Thilo bringt Medien und Politik zum Tanzen, S. 35

9 Thor Kunkel: »Schweigen ist Gold. Zwischenruf aus dem Reservat: Warum die Schriftsteller sich kaum mehr zu Wort melden«, in: Junge Freiheit 43/2009, 16. Oktober 2009

10 Kubitschek, a.a.O, S. 220

11 Kubitschek, a.a.O, S. 224

12 Kubitschek, a.a.O., S. 220

13 Kubitschek, a.a.O., S. 222

14 Markus Abt: »Sarrazin verschärfen – eine Präzisierung«, in: Sezession (10/2010): Sarrazin lesen. Was steckt in Deutschland schafft sich ab?, S. 14

15 Institut für Staatspolitik, a.a.O., S. 5

16 Abt, a.a.O., S. 15

17 André F. Lichtschlag: »Worum es wirklich geht. Über Gene, Religion und ökonomische Anreize«, in: eigentümlich frei (10/2010): Schwerpunkt: Zirkus Sarrazino. Dompteur Thilo bringt Medien und Politik zum Tanzen, S. 40ff.

18 Abt, a.a.O., S. 17

19 Martin Lichtmesz: »Deutschland, ein Alptraum«, in: Sezession (10/2010): Sarrazin lesen. Was steckt in Deutschland schafft sich ab?, S. 39)

20 Abt, a.a.O., S. 16

21 Michael Paulwitz: »Der Wind dreht sich«, in: Junge Freiheit (37/2010), 10.September 2010, 1

22 Paulwitz, a.a.O.

23 www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/die-politische-rechte-steht-fuer-buergerlichkeit/1902294.html

24 juergenelsaesser.wordpress.com/2010/10/27/sarrazin-hat-im-kern-recht/#more-2546

Quelle: www.jungewelt.de vom 11.01.11

Kapitalismus kein Weg. Von Claudia Wangerin

Dienstag, 11. Januar 2011 von Huste

Vor rund 800 Gästen hat die Führungsspitze der Linkspartei am Montag beim politischen Jahresauftakt im Berliner Kongreßzentrum Geschlossenheit demonstriert. Gutgelaunt begrüßte die kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Luc Jochimsen, alle Anwesenden – und mit Blick auf die Verbotsforderungen von CSU-Politikern gegen ihre Partei auch »die Herren vom bayerischen Verfassungsschutz« die sich vielleicht auf den hinteren Plätzen niedergelassen hätten.

Die Parteivorsitzende Gesine Lötzsch sagte, Die Linke habe vor einem Jahr eine schwere Krise erlebt, aber im Jahr 2010 auch Erfolge errungen. Viel zu wenig sei bisher der Wahl­erfolg in Nordrhein-Westfalen gewürdigt worden. Über das neue Parteiprogramm sei sehr konstruktiv und umfassend diskutiert worden. Über 1000 Stellungnahmen und Änderungsanträge seien bereits eingegangen.

Zur Frage, ob Die Linke in diesem Jahr sieben Wahlkämpfe erfolgreich bestreiten und gleichzeitig ein solides Parteiprogramm beschließen könne, sagte die Parteichefin: »Wenn es uns gelingt, selbstbewußt unsere kurzfristigen Ziele klug mit unseren langfristigen Zielen zu verbinden, dann werden wir erfolgreich sein.« In der Programmdebatte könnten aber nicht alle grundsätzlichen Fragen, ausdiskutiert werden. »Wir werden sehr, sehr klar unsere mittelfristigen Ziele formulieren und bei den langfristigen Zielen mit Unschärfen leben müssen und können.«

In ihrem jungeWelt-Artikel über »Wege zum Kommunismus« habe sie »die Frage nach einer neuen Gesellschaft extrem zugespitzt«, sagte Lötzsch. »Wir dürfen nicht die alltägliche Illusion verbreiten, daß wir im Kapitalismus die grundlegenden Probleme der Menschheit lösen können. Wir brauchen eine andere Gesellschaft.« Auch das beste Wahlprogramm stehe im Kapitalismus unter »Systemvorbehalt«.

Der Kovorsitzende der Linkspartei, Klaus Ernst, sagte zum Jahresauftakt, der Begriff Kommunismus tauche weder im alten noch im neuen Parteiprogramm auf. »Wir wollen keine Diktatur, auch nicht die des Proletariats«, betonte Ernst.

Lötzsch berichtete, auf ihren jW-Artikel habe sie »im wesentlichen drei unterschiedliche Reaktionen per Mail, Post oder Telefon erhalten. Erstens: Zustimmung mit dem Grundtenor ›Endlich reden wir wieder über grundsätzliche Inhalte‹. Zweitens: Kritik mit dem Grundtenor ›Der Beitrag ist im Superwahljahr 2011 eine Steilvorlage für unsere Gegner‹. Drittens: Ablehnung mit dem Grundtenor ›Geh doch nach Nordkorea.‹« Wer so etwas vorschlage, werde aber sowieso nie zu den Wählerinnen und Wählern der Linken gehören. Zu der Aussage von SPD-Chef Sigmar Gabriel, mit der Linken sei jetzt auf Bundesebene keine Koalition mehr möglich, sagte Lötzsch: »Das ist doch lächerlich. Als ob Herr Gabriel jemals eine Koalition mit uns in Erwägung gezogen hätte.«

Der Chef der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, gab der Parteivorsitzenden Rückendeckung und stellte klar, er habe sich nie gegen die Verwendung des Begriffs »Kommunismus« ausgesprochen. Er habe ihn nur nicht als Ziel der Partei bezeichnet. Außerdem wies er auf den Unterschied zwischen der Grundidee des Kommunismus und deren Lesart unter Stalin hin. In seiner 40minütigen Rede zählte Gysi die kurz- und mittelfristigen Ziele der Linken auf und forderte eine Steigerung der Löhne, Renten und Sozialleistungen von bis zu zehn Prozent noch in diesem Jahr.

Quelle: www.jungewelt.de vom 11.01.11

Gesine Lötzsch will zum Kommunismus – ICH BEGLEITE SIE! Von Thies Gleiss

Dienstag, 11. Januar 2011 von Huste

Die Idee einer klassenlosen Gesellschaft von freien Menschen, ohne ökonomische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne Krieg, ohne politische und kulturelle Unfreiheit, ohne sexuelle Unterdrückung und frei von Rassismus, Sexismus, Nationalismus und Bürokratismus – das ist die faszinierendste Idee in der Geschichte der Menschheit. Millionen haben dafür gekämpft und gelitten, sind gefoltert und umgebracht worden oder haben Jahre in Kerkern und Lagern verbracht. Diese Idee ist unausrottbar! Solange es Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung gibt, wird die kommunistische Idee leben und Milliarden Menschen Hoffnung geben.

Die bürokratische Sowjetunion wie auch die DDR waren von der Verwirklichung dieser Utopie meilenweit entfernt. Sie haben die Idee verraten und in ihrem Namen Verbrechen größten Ausmaßes begangen. Das verurteilt die dafür Verantwortlichen, nicht aber den Kommunismus. Sollen wir die Ideale der christlichen Solidarität, wie sie zum Beispiel in der Bergpredigt zum Ausdruck kommen, verurteilen, weil die christliche Kirche Millionen Menschen verfolgt, gedemütigt und umgebracht hat? Sollen wir die Ideale der bürgerlichen Revolution nach Freiheit und Gleichheit verdammen, weil in ihrem Namen ein barbarisches Weltsystem namens Kapitalismus herrscht, das sich bis heute eine Milliarde hungernder Menschen, Kriege und Massenvernichtungswaffen unvorstellbaren Ausmaßes leistet und das drauf und dran ist die ökologischen Grundlagen der Menschheit auf Dauer zu vernichten? Nein und nochmals nein.
Lasst uns über Kommunismus reden! Gesine Lötzsch will zum Kommunismus. Ich auch, ich begleite sie.

WER NOCH?

Bitte unterzeichen und an jede Rathaustür, jeden Kirchturm, jeden Schulraum, jede Universität,jedes Betriebstor jeden Internetblog nageln.

Quelle: www.scharf-links.de vom 10.01.11

Anmerkung von Wolfgang Huste zu diesem Beitrag: Thies Gleiss hat diesen Artikel spontan als Reaktion auf eine Veröffentlichung in der Jungen Welt formuliert.

Hess-Natur in die Hände der Belegschaft und Kunden! Globalisierungskritiker entwickeln Alternativen zu Verkauf an Carlyle

Montag, 10. Januar 2011 von Huste

Die bundesweite Attac-Arbeitsgruppe „Solidarische Ökonomie“ und das
Netzwerk Solidarische Ökonomie (SÖ) arbeiten gemeinsam an einem neuen
Konzept für das Ökotextilunternehmen Hess-Natur. Am Montag trafen sich
erstmals Mitarbeiter und Kunden von Hess-Natur mit Mitgliedern der
Attac-AG und des Netzwerkes in Frankfurt. Im Anschluss an das Treffen
kündigten die Attac-AG und das Netzwerk SÖ eine gemeinsame Kampagne für
die Umwandlung von Hess-Natur in eine Genossenschaft an. Dafür werden
die Aktivisten Absichtserklärungen von Mitarbeitern, Kunden und
Interessierten sammeln, die einer späteren Genossenschaft beitreten
wollen. Der Betriebsratsvorsitzende von Hess-Natur, Walter
Strassheim-Weitz, kündigte am Montag zudem an, der Betriebsrat werde die
wirtschaftlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten juristisch prüfen lassen.

„Wir arbeiten seit Jahren intensiv an Modellen, wie Beschäftigte, Kunden
und Lieferanten ein Unternehmen in eigener Regie weiterführen können“,
sagte Dagmar Embshoff, Mitglied des Netzwerkes SÖ sowie der Attac-AG.
„Sei es, dass ein Unternehmen kurz vor der Insolvenz steht oder ihm wie
im Fall von Hess-Natur die Übernahme durch einen Investor droht, der nur
auf kurzfristige Gewinne aus ist – es gibt kooperative Alternativen.“

Bei dem Treffen stellte Hans Gerd Nottenbohm vom Netzwerk ÖS anhand der
Geschäftszahlen von 2009 ein erstes Alternativ-Konzept für das
Ökounternehmen vor. Ziel wäre die Umwandlung der Hess-Natur-Textil-GmbH
in eine Genossenschaft. Für diese würde der Grundsatz „ein Mitglied,
eine Stimme“ gelten, wobei so genannte investierende Mitglieder laut
Genossenschaftsgesetz nur eingeschränkte Gestaltungsrechte erhalten.
„Hess-Natur steht bereits für eine ökologische und faire
Unternehmenspolitik. Eine Fortführung als demokratischer Betrieb wäre
die konsequente Weiterentwicklung hin zu einem wirklich alternativen
Wirtschaften“, sagte Hans-Gerd Nottenbohm.

Die Anwesenden, darunter fünf Betriebsratsvertreter von Hess-Natur,
beteiligten sich an der Diskussion mit großem Interesse. „Wir haben
heute eine Alternative kennen gelernt, die wir so bisher noch nicht im
Blick hatten. Wir befürworten auf jeden Fall eine weitere Diskussion in
diese Richtung. Ein solches Konzept kann für alle Beteiligten Gewinn
bringend sein“, sagte Betriebsratsvorsitzender Walter Strasheim-Weitz.

Auch die Arbeit gegen eine Übernahme durch Carlyle geht weiter. Im
Dezember hatte Attac die drohende Übernahme des Ökotextilunternehmens
durch den Private-Equity-Fonds und Rüstungskonzern Carlyle öffentlich
gemacht. Seitdem haben mehr als 4.000 Menschen angekündigt, Hess-Natur
im Falle eines solchen Verkaufs zu boykottieren. Im Februar werden die
gesammelten Erklärungen öffentlichkeitswirksam übergeben. Jutta
Sundermann vom Attac-Koordinierungskreis: „Unser Protest ist bereits
erfolgreich. Eigentlich kann Carlyle sich jetzt nur noch zurückziehen.
Der Schaden für Hess-Natur wäre sonst zu groß.“

Attac engagiert sich seit vielen Jahren gegen das Geschäftsmodell der
Private-Equity-Fonds. Carlyle gehört zu den größten dieser Fonds und ist
eng mit der US-amerikanischen Rüstungsindustrie verbunden.

Im Internet:

* Attac-Seite „Carlyle stoppen“ mit Unterschriftenaktion:
http://www.attac.de/carlyle-stoppen

* Netzwerk Soldidarische Ökonomie:
http://www.solidarische-oekonomie.de

10.01.11

Dringende Warnung vor Kommunismus

Montag, 10. Januar 2011 von Huste

Wegen der akut erhöhten Kommunismusgefahr verstärkt die Bundesregierung ihre Sicherheitsbemühungen. Es gebe »sichtbare und nicht sichtbare Maßnahmen zur Kommunismusabschreckung und -vorbeugung«, sagte ein Regierungssprecher. Deutschland müsse »sehr genau aufpassen, wer derzeit einreise, ausreise, hierbleibe und wegbleibe«. Hintergrund der Vorkehrungen ist eine »neue Lage«, die seit den Äußerungen der Vorsitzenden der Linkspartei entstanden sei. Es gebe konkrete Ermittlungsansätze und konkrete Spuren zu kommunistischen Gefährdungen. Deshalb wollen sich die Innenminister auf ihrer nächsten Konferenz mit dem Thema Kommunismusprävention beschäftigen. Vorerst werden »öffentlich Räume und bestimmte Örtlichkeiten und Ereignisse« verstärkt kontrolliert. So sollen mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten vor Parlamentsgebäuden, auf Bahnhöfen und Flugplätzen patrouillieren, um kommunistische Gefährder abzuschrecken.

»Auf einer Gefahrenskala von eins bis zehn liegen wir momentan bei neun«, sagte ein Kommunismusexperte und plädierte dafür, mutmaßlichen Kommunisten die Benutzung von Handys und Computern zu untersagen und ihre Bewegungen mit elektronischen Fußfesseln zu kontrollieren. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, stärker auf verdächtige kommunistische Gegenstände und Personen zu achten. Man wolle keinen Generalverdacht aussprechen, »aber wenn wir in der Nachbarschaft irgendetwas wahrnehmen«, sagte ein Kommunismusbeobachter, »dass da plötzlich drei womöglich kommunistisch aussehende Menschen eingezogen sind, die nur Kommunistisch oder eine andere Fremdsprache sprechen, die wir nicht verstehen, dann sollte man, glaube ich, schon mal gucken, dass man die Behörden unterrichtet, was da los ist.« Besonders achten solle man auf sogenannte Schläfer, die jahrelang nicht kommunistisch aufgefallen sind, nun aber aktiviert werden könnten.

Die Bundeskanzlerin rief indessen die Menschen dazu auf, an ihrer westlichen Lebensweise festzuhalten. »Wir wollen in Deutschland frei und ohne Angst leben, und keine kommunistische Bedrohung wird uns davon abbringen.« (wh)

Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/188130.dringende-warnung-vor-kommunismus.html

Dünne Informationen zur Dioxin-Verseuchung. Von Uwe Koopmann

Montag, 10. Januar 2011 von Huste

Als „anonyme Tester“ untersuchte die DKP Gerresheim in Filialen von ALDI-Süd und LIDL-Deutschland das Spannungsverhältnis von Profiterwartung und Verbraucherschutz. Der „Untersuchungsgegenstand“: die dioxinverseuchten Eier. Das Ergebnis: ein Eiertanz der Informationspolitik.

Dem „Feldversuch“ war die Untersuchung der Verlautbarungspolitik vorausgegangen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung übte beschwichtigend die Quadratur des Kreises: „Keine gesundheitliche Gefahr für Verbraucher“. Aber gleichzeitig hieß es, dass die überhöhten Dioxin-Werte „nicht gut“ seien. (Die UZ berichtete in ihrer letzten Ausgabe)

ALDI-Süd berichtete, dass sich „nach aktueller Sachlage keine Produkte mit erhöhtem Dioxingehalt im Verkauf befinden“. Gleichwohl werden „weitere umfangreiche Maßnahmen zur Qualitätsprüfung und -sicherung unserer Produkte eingeleitet“. Auch LIDL-Deutschland formuliert sehr vorsichtig: „Nach derzeitigem Kenntnisstand hat Lidl Deutschland keine Produkte mit erhöhtem Dioxingehalt im Verkauf.“ Die „aktuelle Sachlage“ und der „derzeitige Kenntnisstand“ sind nicht unbedingt Zusagen für die weitere Entwicklung.

In den Filialen der Discountsupermarktkette gab es keine weitergehenden Informationen als die Vorgaben aus der Konzernzentrale. Da wurde wie bisher unterschieden zwischen Käfighaltung, Bodenhaltung und Freilandhaltung. Die umstrittene Käfighaltung war an der ersten „1“ auf dem Eierstempel zu erkennen, allerdings wohl nicht von allen Kunden. Bei den Lidl-Eiern war das anders: Da gab es welche, die hatten nur einen kaum lesbaren Stempel, dafür aber den Aufdruck auf der Verpackung „Gut Frielingshof“ und „aus Freilandhaltung“ sowie „Herkunft siehe Stempel auf dem Ei.“ Im Internet findet sich der Hinweis, dass Gut Frielingshof“ eher eine Phantasiebezeichnung ist. Der Eier-Code 1-IT-4005801 steht für den Betrieb „Azinde Agricola Manfredi de Blasiis“ in 30020 Fossalta di Piave bei Venedig, Italien. Der Transport geht dann in die Niederlande nach Beekhuis zur Firma „Ovocare B.V.“. Ein weiteres Ziel: Inter-Ovo GmbH in Remseck. Diese Hinweise auf die Eier-Transportwege finden sich nicht auf der Verpackung. Wohl aber deutliche Hinweise auf „Güteklasse 1“ und „Kontrollierte Freilandhaltung KAT-Q“. Die Packstellennummer NL 499 ist allerdings fast nur mit der Lupe zu lesen.

Die DKP kommt zu dem Schluss: Durch verbesserte Kontrollen – ähnlich wie bei den Steuerprüfungen in den Konzernen – ließen sich bessere Ergebnisse ermitteln. Konsequente Kontrollen wären allerdings ein Eingriff in die freie der Profitmaximierung verpflichteten kapitalistischen Wirtschaft. Für wirksame Kontrollen bedarf es einer hinreichenden Zahl von Kontrolleuren. Die sind allerdings nicht eingestellt worden. Dieses „Versäumnis“ ist für die Futtermittelindustrie und ihre Gewinnmargen von Vorteil. Da mag die Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) über „Hochkriminelle“ unter den Futtermittelherstellern schwadronieren. Ein Arzt aus dem Münsterländischen hat bereits Anzeige wegen versuchten Mordes gestellt. Vermutlich käme dann für Ilse Aigner „unterlassene Hilfeleistung“ und gar „Beihilfe“ in Betracht.

Quelle: www.scharf-links.de vom 09.01.11

Gesine Lötzsch. Ich bin demokratische Sozialistin! Rede von Gesine Lötzsch, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der Berliner Urania

Sonntag, 09. Januar 2011 von Huste

Ich werde hier nicht meinen „junge-Welt“-Artikel vortragen, wie einige Zeitungen geschrieben haben, sondern ich werde einige Fragen beantworten. Ich würde mich natürlich freuen, wenn möglichst viele meinen Artikel lesen und sich nicht in den Diskussionen auf unseriöse „Spiegel“-Artikel beziehen würden. Jetzt komme ich zu den sechs Fragen:

1. Frage: Wer bin ich?

Mein Name ist Gesine Lötzsch. Ich bin demokratische Sozialistin! Ich wurde seit 1990 immer direkt in das Berliner Abgeordnetenhaus und in den Deutschen Bundestag gewählt; bei der Bundestagswahl 2009 mit fast der Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Ich habe von meinen Wählerinnen und Wählern den Auftrag bekommen, ihre Interessen in den Parlamenten zu vertreten. Im Mai 2010 bin ich mit über 93 Prozent zur Vorsitzenden der Partei DIE LINKE gewählt worden.

Wenn jetzt einige Politiker der Meinung sind, dass ich keine Demokratin bin und nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehe, dann ist das eine Unverschämtheit! Besonders die Politiker, die völkerrechtswidrige Kriege gegen die Mehrheit der Bevölkerung beschlossen haben, sollen mir nicht erklären, was Demokratie ist!Weder meine Wählerinnen und Wähler aus meinem Wahlkreis noch meine Genossinnen und Genossen auf dem Bundesparteitag haben mir irgendwelche Denk- oder Sprechverbote erteilt. Daran und nur daran halte ich mich! Ich bin mit Haut und Haar Demokratin.

Keine Partei in diesem Land nimmt die Demokratie so ernst wie die Partei DIE LINKE.

Ich bin immer wieder entsetzt, wie CDU/ CSU und FDP mit dem demokratisch gewählten Bundestag umgehen. Das beste Beispiel ist die Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke. Selbst der Präsident des Deutschen Bundestages beschwerte sich öffentlich über das undemokratische Verfahren der Bundesregierung im Umgang mit dem Bundestag und dem Bundesrat.

DIE LINKE ist eine demokratische Partei und wird mit demokratischen Mitteln dieses Land grundsätzlich verändern!

2. Frage: Warum bin ich hier?

Ich wurde von der Zeitung „junge Welt“ eingeladen, in einem Artikel über eine zukünftige Gesellschaft nachzudenken. Das habe ich getan. Ich komme in dem Artikel zu dem Schluss, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist und dem demokratischen Sozialismus die Zukunft gehört. So steht es auch im Programmentwurf unserer Partei.

Es wurde ein enormer Druck auf mich ausgeübt, diese Konferenz nicht zu besuchen, doch ich lasse mir nicht von unseren politischen Gegnern vorschreiben, welche Konferenzen ich besuche. Der Genosse Gregor Gysi würde sagen: „Ja, wo leben wir denn?“

In dieser Gesellschaft werden jeden Tag Menschen ausgegrenzt, ob Arbeitslose, Kinder, politisch Andersdenkende oder einfach nur Bürgerbewegte, die die Nase voll haben von Prestigeprojekten wie den Stuttgarter Bahnhof oder das Berliner Schloss. Ich will eine andere Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der Menschen nicht ausgegrenzt werden. Das schließt Stalinismus und autoritären Sozialismus grundsätzlich aus.

Nein, ich habe nicht die Opfer des Stalinismus und des autoritären Sozialismus vergessen, natürlich nicht, wie kann ich denn? Ich habe alle Veröffentlichungen, die unsere Partei und die Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte publiziert haben, zusammenstellen lassen. Es sind fünf laufende Meter!

Wir haben schon 1990 auf unserem Gründungsparteitag mit dem Stalinismus gebrochen und uns bei den Opfern entschuldigt. 20 Jahre lang haben wir nicht nur Artikel und Bücher geschrieben, sondern sehr intensiv mit unserer Geschichte gerungen. Viele Genossinnen und Genossen haben deshalb unsere Partei verlassen. Wer also immer noch behauptet, wir hätten unser Geschichte nicht aufgearbeitet, der ist entweder ignorant oder böswillig.

Beim Schreiben meines Artikels für die „junge Welt“ habe ich natürlich an die Opfer des Stalinismus gedacht und vor allem an die vielen Kommunisten und Sozialisten, die umgekommen sind. Aber gerade deshalb wäre es falsch, den Mantel des Schweigens über der Idee des Kommunismus auszubreiten.

Jeder, der es wissen will, weiß, dass die Partei DIE LINKE aus Sozialisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Pazifisten, Kommunisten und Christen besteht. Das ist kein Geheimnis!

Ich lass mir doch nicht von meinen politischen Gegner vorschreiben, mit wem ich gemeinsam diese Gesellschaft ändern will, das wäre ja lächerlich. Hätte Nelson Mandela Herrn Seehofer fragen sollen, ob er im ANC zusammen mit Kommunistinnen und Kommunisten die Apartheid stürzen darf? Wohl kaum. Wenn es nach der CSU gegangen wäre, würde es die Apartheid noch heute geben, und bayerische Konzerne würden immer noch unmenschliche Extraprofite auf Kosten der Mehrheit der Südafrikanerinnen und Südafrikaner erzielen. Gut, dass Mandela auf solche Ratschläge verzichtet hat!

Gregor Gysi wies kritisch darauf hin, dass unter dem Begriff Kommunismus die Menschen an Stalin und die Mauer denken. Da hat er Recht, deshalb müssen wir Aufklärungsarbeit leisten! Gregor Gysi hat aber nicht Recht, wenn er meint, dass man den Begriff Kommunismus nicht mehr verwenden darf. Der Begriff Kommunismus wird doch jeden Tag von unseren politischen Gegnern verwendet, und in jedem Landtagswahlkampf warnen CDU/CSU und FDP vor der Einführung des Kommunismus durch die Partei DIE LINKE. Ich erinnere an den käuflichen Herrn Rüttgers (CDU), der nur mit Hilfe der LINKEN in NRW abgelöst werden konnte.

Die Hoffnung, dass uns der Kommunismus nicht um die Ohren gehauen wird, wenn wir den Begriff nicht in den Mund nehmen, ist erstaunlich. Sollen Sie uns den Begriff um die Ohren hauen, doch für viele Menschen in der ganzen Welt ist die Idee des Kommunismus nicht nur Blut, Mord, Verfolgung, sondern auch Hoffnung, Faszination und Leidenschaft. Selbst Opfer des Stalinismus, die schlimmste Demütigungen erlitten haben, haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir eines Tages eine gerechte Gesellschaft aufbauen werden.

Die uralte Idee des Kommunismus wurde missbraucht, das ist schändlich, doch das ändert nichts daran, dass immer mehr Menschen eine Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft verspüren, die wir demokratischen Sozialismus nennen.

Übrigens bemerkt der Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ in einem Kommentar unter dem Titel „Armselige Debatte“ über den Vorwurf einiger Kritiker, dass ich mich nicht ausreichend über die Opfer des Stalinismus in dem Artikel geäußert hätte: „Das kann man vereinbaren – wenn fortan auch das Wort Christentum nie mehr gebraucht wird, ohne dessen blutige Spur der Brandmorde an Hexen und Ketzern, der Kreuzzüge und der Kumpanei des Vatikan mit dem Hitler-Faschismus einen Viertelsatz zu widmen.“

3. Frage: Wer ist Kommunistin, wer ist Kommunist?

Wer Kommunist ist und wer nicht, das wird in dieser Gesellschaft durch Medienkonzerne festgelegt. Wer gestern noch als Reformer galt, kann schon morgen als Kommunist beschimpft werden. Präsident Obama erlebte es gerade am eigenen Leibe. Wenn man die Stichwörter „Obama“ und „Kommunist“ bei Google eingibt, dann bekommt man 92.600 Einträge. Ist Obama ein Kommunist, weil er eine Krankenversicherung für alle Menschen will? Sicherlich nicht, doch er wird dazu gerade – gegen seinen Willen – von radikal fundamentalistischen Politikern, die mir wirklich Angst machen, gemacht.

4. Frage: Warum reagiert das Establishment so hysterisch auf meinen Artikel?

Ich weiß aus vielen Mails, Anrufen und Internetforen, dass das Interesse an den Ideen und Visionen von einer gerechten Gesellschaft überwältigend ist. Die hysterischen Reaktionen einiger Politiker und Medienvertreter auf meinen Artikel kann ich mir nur so erklären, dass die Unsicherheit in den Reihen der Neoliberalen dramatisch zugenommen hat. Vor der Finanzkrise hätte dieser Artikel wahrscheinlich nur eine geringe Aufmerksamkeit gefunden. Heute habe ich mit diesem Beitrag in ein Wespennest gestochen. In einer Pressemitteilung der Linksjugend des Hamburger Landesverbandes zu meinem „junge-Welt“-Artikel steht: „In der kapitalistischen Gesellschaft hungert heute jeder siebte Mensch auf der Erde. Laut den G8-Staaten besitzen über 1,3 Milliarden Menschen keine angemessene Gesundheitsversorgung, etwas die selbe Zahl Menschen lebt in absoluter Armut.“

Doch auch in den Zentren des Kapitalismus erleben viele Menschen, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet und wir in einer Klassengesellschaft leben. Ist es nicht Ausdruck einer Klassengesellschaft, wenn Herr Zumwinkel, der Jahrzehnte Millionen an Steuern hinterzogen hat, auf Bewährung freigesprochen wird und gleichzeitig Obdachlose, die ohne Fahrkarte erwischt wurden und ihre Strafe nicht zahlen können, im Gefängnis sitzen? Ist es da verwunderlich, dass Menschen von einer klassenlosen Gesellschaft träumen, in der vor dem Gesetz alle gleich sind?

Nicht das Nachdenken über eine gerechtere Gesellschaft, sondern der Kapitalismus ist ein Skandal! Jeder Gedanke an eine andere Gesellschaft wird von den Herrschaften als Bedrohung empfunden. Denkverbote werden ausgesprochen, und der Einsatz des gesamten Repressionsapparates wird angedroht. Doch das schreckt immer weniger Menschen. In Anbetracht der Finanzkrise gibt es ein großes Bedürfnis über eine neue Gesellschaft zu diskutieren. Im Juni 2010 gab es sogar eine Konferenz in der Volksbühne über die „Idee des Kommunismus“. In Krisen denken die Menschen über gesellschaftliche Alternativen intensiver nach. Der Verkauf des „Kapital“ von Karl Marx stieg während der Finanzkrise sprunghaft an. Wir erleben täglich, dass diese Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, Grundprobleme zu lösen, da ist es doch legitim über eine andere Gesellschaft nachzudenken.

5. Frage: Warum lehnt die Partei DIE LINKE Terrorismus zur Erreichung ihrer Ziele ab?

Es gibt Menschen, die in Deutschland aufgewachsen und bereit sind, sich als Terroristen in Pakistan ausbilden zu lassen und ihr Leben zu opfern. Das ist furchtbar! Unsere Gesellschaft muss sich endlich ernsthaft mit Terrorismus auseinandersetzen. Die Frage, was Terrorismus ist, hat Oskar Lafontaine kurz und präzise in einer Bundestagsrede beschrieben: „Für die Linken ist Terrorismus das Töten unschuldiger Zivilisten zum Erreichen politischer Ziele.“ Wenn die NATO in Jugoslawien Brücken und Kirchen bombardierte und die NATO heute in Afghanistan versucht, gegen den Willen der Afghanen, die Demokratie herbeizubomben, dann ist das für mich Staatsterrorismus. Deshalb fordert die Partei DIE LINKE einen sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan! Und ich füge hinzu: Das ist auch das Beste für die Soldaten der Bundeswehr.

Unsere Stärken als Partei DIE LINKE sind Transparenz und Offenheit. Nur so können wir die Menschen gewinnen und überzeugen und im Kontakt mit den außerparlamentarischen Bewegungen bleiben.

6. Frage: Warum der demokratische Sozialismus mit demokratischen Mitteln erreichbar ist?

DIE LINKE lehnt Terrorismus als politisches Mittel ab. Wir sind von unseren Ideen so überzeugt, wir halten sie für so bestechend und einleuchtend, dass wir davon ausgehen, dass wir Mehrheiten für diese Ideen in der Gesellschaft erlangen können.

Wir haben viele Jahre versucht, unsere Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus in homöopathischen Dosierungen den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln. Ich bin der Auffassung, dass uns nicht die Zeit bleibt, unsere Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus in dieser Dosierung weiter zu verbreiten. Der Bundesregierung ist der freie Markt – oder nennen wir es doch Kapitalismus – aus den Händen geglitten. Sie ist nicht mehr Herr der Lage und lässt sich von Lobbyisten auf der Nase herumtanzen. Deshalb ist es absurd, dass sie bei jeder Gelegenheit unter der Bevölkerung Kompetenzillusion verbreitet. Wir müssen aufpassen, dass wir von den Menschen nicht mit den Herrschenden in eine Topf geworfen werden, weil wir bewusst oder unbewusst den Eindruck vermitteln, wir wüssten, wie diese Gesellschaft krisenfrei gesteuert werden könnte. Unsere praktischen Vorschläge zur Bewältigung der Finanzkrise sind besser als alle Vorschläge von sogenannten Experten, von der Bundesregierung ganz zu schweigen, doch wir dürfen nicht die Illusion vermitteln, als hätten wir Lösungen für die gravierenden Probleme Menschheitsprobleme im Rahmen dieser Gesellschaft. Deshalb sind wir der Meinung, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist und dem demokratischen Sozialismus die Zukunft gehört!

Quelle: http://die-linke.de/nc/die_linke/nachrichten/detail/artikel/ich-bin-demokratische-sozialistin/

08.01.11

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