Die Hintergründe des Todes von Florian Heilig beschäftigen in dieser Woche erneut den NSU-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages. Die Parlamentarier sollen das Agieren der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) im Ländle und die Umstände des Todes der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter aufklären, die 2007 in Heilbronn erschossen wurde. Sie gilt als zehntes und letztes Opfer des NSU. Wenige Stunden, bevor ihn Beamte des Landeskriminalamtes dazu befragen konnten, soll sich der Neonaziaussteiger Heilig am 16. September 2013 in seinem Auto selbst verbrannt haben. So jedenfalls die offizielle Darstellung.
Im Untersuchungsausschuss kommen erste Details der »Aufklärungsarbeit« ans Licht. Im Rahmen des Todesermittlungsverfahrens wollten die Polizeibeamten bei der Staatsanwaltschaft das beantragen und durchführen, was in solchen Fällen zum Standardprogramm gehört: die Durchsuchung des Zimmers von Florian Heilig im Lehrlingswohnheim, die Sicherstellung der Kommunikationsdaten (Handy- und Ortungsdaten) und die Sicherstellung und Auswertung des Laptops, der sich im Kofferraum befand. Was eigentlich kaum der Rede wert sein sollte, stieß in diesem Fall auf »unerklärlichen« Widerstand. Obwohl die zahlreichen Spuren noch nicht ausgewertet worden waren, auch kein Brandgutachten vorlag, hat Staatsanwalt Dr. Stefan Biehl, Mitglied der politischen Abteilung 1 der Staatsanwaltschaft Stuttgart, noch am selben Tag angewiesen, den Fall als Suizid zu behandeln. Das hatte zur Folge, dass die von der Polizei erwünschten weiteren strafrechtlichen Ermittlungen abgelehnt, also unterbunden wurden.
Begründet hat Staatsanwalt Biehl diese Entscheidung zur Unterlassung vor dem Stuttgarter Untersuchungsausschuss am Montag damit, dass ihm konkrete Hinweise auf andere Straftaten, wie etwa Nötigung oder Bedrohung von Florian Heilig, gefehlt hätten. Dabei hatte es offensichtlich genügend »Hinweise« gegeben. Denn die Ermittlungen wurden sofort ans LKA abgegeben und dort lag alles in einer Hand: »Wir waren uns der Brisanz des Falls bewusst«, sagte einer der angehörten Polizisten dem Ausschuss. Es war also kein normaler Fall, sondern »Chefsache«: »Die Polizei setzte eine Ermittlungsgruppe ein, bei der Obduktion war der Staatsanwalt dabei – Dinge, die in normalen Todesermittlungsverfahren unüblich sind«, betonte der Erste Kriminalhauptkommissar Helmut Hagner.
Nennen wir nur drei Gründe dafür, die für den Fall von einem »normalen Todesermittlungsverfahren« abheben:
1. Wenn ein ehemaliger Neonazi Aussagen (gegen ehemalige Kameraden) macht und aus diesem Grunde im Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart ist, ist er gefährdet und muss mit Bedrohungen und Angriffen rechnen. Das weiß sogar ein Staatsanwalt. Dr. Biehl hatte zu diesem Zeitpunkt kein Motiv, das für ein »persönliches Drama« sprechen würde. Er wusste jedoch um die Gefährdung des nun toten Zeugen. Diese war nicht abstrakt, sondern sehr konkret.
2. Wenn man im und um den ausgebrannten Wagen herum keinen Autoschlüssel findet, dann darf sich auch ein Staatsanwalt fragen, wie ein Todeswilliger das Fahrzeug fahren und abstellen konnte. Da es alles, nur nicht selbstmordtypisch ist, die Auto- und Wohnungsschlüssel unauffindbar wegzuwerfen, bevor man sich umbringt, muss der Wahrscheinlichkeit nachgegangen werden, dass sich eine »zweite Person« in den Besitz der Schlüssel gebracht hat.
3. Wenn Zeugen, die tatsächlich befragt wurden, eine Person auf dem Fahrersitz, eine Person auf dem Beifahrersitz, eine Person vor dem Auto gesehen haben, dann ist nicht auszuschließen, dass es sich eben nicht um ein und dieselbe Person gehandelt hat. Genau das war und ist den Zeugenaussagen auch nicht zu entnehmen.
Jeder Staatsanwalt weiß, dass bereits einer der genannten Punkte allein Grund genug ist, der Möglichkeit eines Mordgeschehens nachzugehen. Dass Dr. Biehl weder aus persönlichem Eigensinn noch aus Willkür so handelte, sollte man ihm nachtragen: Er ist weisungsgebunden, also dem Justizministerium unterstellt. Dort wird er erfahren haben, warum er nichts finden durfte, das eine normale Ermittlung in alle Richtungen nach sich hätte ziehen müssen.
Staatsanwalt Biehl kann auch ganz anders, wenn man ihn lässt und es erwünscht ist: Gegen Antifaschisten kann er alles auffahren, was seine Kompetenzen und Möglichkeiten hergeben. Auch Hausdurchsuchungen bei Journalisten bereiten ihm keine Probleme – so war es etwa 2011, als er nach Beweismitteln gegen Linke suchte. Durch die Stuttgarter Zeitung auf die strafprozessual vollkommen unnötige Aktion angesprochen, erwiderte Biehl trocken: »Wenn Beweisverlust droht, muss man eben schnell handeln.«
Im Zuge einer Demonstration gegen das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21« am 20. September 2010 wurden u. a. Wasserwerfer eingesetzt. Es kam zu schweren Verletzungen, ein Demonstrant ist seitdem blind. Dieser brutale Polizeieinsatz ging als »Schwarzer Donnerstag« in die Geschichte der S-21-Bewegung ein. Staatsanwalt Biehl stand mit Rat und Tat den beschuldigten Beamten bei und riet ihnen, in Zukunft Reizgas einzusetzen: Denn das wäre »rechtmäßig gewesen« und hätte »weniger Verletzte« gefordert (siehe: »Die guten Tipps vom Staatsanwalt Biehl«, in: Kontext, Ausgabe 179 vom 3. September 2014).
Biehl hat all das nicht geschadet. Man kann vielmehr – mit Fug und Recht – sagen, dass er dafür belohnt wurde: Laut Südwest Presse wechselte er zur Bundesanwaltschaft.
Politischer Mordanschlag ist nicht gleich politischer Mordanschlag, zweifelhafte Ermittlungen sind nicht gleich zweifelhafte Ermittlungen: Das Europaparlament hat eine »unabhängige internationale Untersuchung« der Todesschüsse auf den früheren russischen Vizepremier Boris Nemzow in Moskau gefordert. Dazu könnten die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Europarat und die Vereinten Nationen beitragen, hieß es in einer Entschließung der Abgeordneten am Donnerstag. Weiter machten die Parlamentarier »systematische Verstöße« gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in Russland aus. Grundsätze für faire Gerichtsverfahren und die Unabhängigkeit der Justiz würden von der Staatsführung missachtet. Der 55jährige Nemzow war am 27. Februar auf einer Brücke im Zentrum der russischen Hauptstadt hinterrücks erschossen worden. Medien und Politiker in der EU machten umgehend den Kreml für den Mord an dem Kreml-Kritiker verantwortlich – so wie bei Terroranschlägen in der Vergangenheit grundsätzlich eine Beteiligung des russischen Geheimdienstes unterstellt wurde.
Die Verwicklung von deutschen Geheimdiensten in politisch motivierte Morde wird dagegen als »Verschwörungstheorie« abgetan. Die rechte Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) wird für eine Mordserie an Migranten in den Jahren 2000 bis 2006, mehrere Sprengstoffanschläge sowie den Polizistenmord von Heilbronn im Jahr 2007 verantwortlich gemacht. Auf Anweisung staatlicher Stellen wurden gezielt Akten vernichtet, die eine Verwicklung von Geheimdiensten in die Terrorserie belegen könnten. Ein früherer Landesinnenminister hält schützend seine Hand über einen früheren Verfassungsschutzmitarbeiter, der an einem der Tatorte zur Tatzeit zugegen war. Ein Staatsanwalt bringt binnen Stunden das Todesermittlungsverfahren im Fall eines im Auto verbrannten Neonaziaussteigers zum Ende und legt sich auf »Suizid« fest …
Mindestens zehn Menschen haben die NSU-Terroristen ermordet: Enver Şimşek (9. September 2000 in Nürnberg), Abdurrahim Özüdoğru (13. Juni 2001 in Nürnberg), Süleyman Taşköprü (27. Juni 2001 in Hamburg), Habil Kılıç (29. August 2001 in München), Mehmet Turgut (25. Februar 2004 in Rostock), İsmail Yaşar (9. Juni 2005 in Nürnberg), Theodoros Boulgarides (15. Juni 2005 in München), Mehmet Kubaşık (4. April 2006 in Dortmund) und Halit Yozgat (6. April 2006 in Kassel) sowie Michèle Kiesewetter (25. April 2007 in Heilbronn).
Die Abgeordneten des Europaparlaments sind in den vergangenen Jahren nicht einmal auf die Idee gekommen, in diesen Fällen eine »unabhängige internationale Untersuchung« zu fordern. Die Tatorte waren zu weit weg vom Kreml.
Quelle: www.jungewelt.de vom 13.03.15
« Die interventionistische Linke Bielefeld macht in einer Pressemitteilung vom Montag darauf aufmerksam, wie der lokale Staatsschutz versucht, die Blockupy-Proteste in Frankfurt am Main zu kriminalisieren: – Dreister geht es immer. NSU-Prozess: Ex-»Blood & Honour«-Sektionschef will nie V-Mann gewesen sein. Mittlerweile benehmen sich die Neonazis vor Gericht, wie es ihnen beliebt. Von Claudia Wangerin »
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