Gern versucht Thilo Sarrazin, Kritiker seiner bereits 1,2 Millionen Mal verkauften Hetzschrift »Deutschland schafft sich ab« mit Verweis auf das umfangreiche in dem Buch enthaltene statistische Material Schachmatt zu setzen. Daß der Exfinanzsenator und Exbundesbanker es bei den Zahlen indes nicht immer so genau genommen hat, gab er gegenüber der Süddeutschen Zeitung bereits zu. Wenn man keine statistische Zahl habe, müsse »man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch«.
Doch auch dort, wo Sarrazin auf vorhandenes Zahlenmaterial zurückgreifen konnte, belegt dieses nicht seine Behauptungen über die angeblich gescheiterte Integration von Muslimen in Deutschland. »Für die letzten fünf Jahre sind relevante Fortschritte in der Integration statistisch meßbar und nachweisbar«, lautet das Ergebnis einer in dieser Woche veröffentlichten 70seitigen Studie »Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand«. Verfasser ist die an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelte Forschungsgruppe »Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle« (HEYMAT), in der Politologen, Sozial- und Islamwissenschaftler unter der Leitung der Politologin Naika Foroutan arbeiten. Sarrazin habe anders, als von ihm suggeriert, keineswegs wissenschaftliches Neuland betreten, sondern »auf Datenmaterial zurückgegriffen, das seit Jahren vorlag und das bereits in die alltägliche Arbeit der Verwaltungen, Sozialarbeiter und des Quartiermanagements eingeflossen« sei.
Bei sämtlichen Zuwanderergruppen mit muslimischem Hintergrund sei ein Anstieg der Bildung auszumachen, widerlegt die Studie Sarrazins Behauptung, es gäbe hier keine positive Entwicklung über die Generationen. Bei den von Sarrazin als besonders lernunfähig dargestellten Personen mit türkischem Migrationshintergrund ist seit der ersten Generation der »Gastarbeiter«, von denen lediglich drei Prozent die Hochschulreife erreichten, bis zum Jahr 2008, wo dies bereits 22,5 Prozent waren, ein 800 prozentiger Bildungsanstieg auszumachen.
Zwar beziehen mit 9,5 Prozent weit mehr türkischstämmige Bürger ihren überwiegenden Lebensunterhalt aus HartzIV als Bürger ohne Migrationshintergrund. Doch diese Zahl liegt weit unter den von Sarrazin behaupteten 40Prozent. Entgegen Sarrazins Wahrnehmung nimmt auch die Häufigkeit des Kopftuchtragens ab. 70 Prozent der Frauen mit muslimischem Hintergrund bedecken sich nicht.
Während Deutsche ohne Migrationshintergrund zu 92 Prozent ebensolche Partner heiraten, suchten sich 33,5 Prozent der muslimischen Männer 2008 eine nicht-muslimische Frau. Insbesondere Sarrazins These, wonach in Berlin 20 Prozent aller Gewalttaten von nur 1000 türkischen und arabischen Jugendlichen begangen würden, wird unter Verweis auf ein Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten zurückgewiesen. Lediglich 8,7 Prozent der Gewalttaten werden hier sicher dieser Gruppe zugeordnet.
Bei der Sarrazin-Debatte handle es sich nicht um eine Integrationsdebatte. »Vielmehr werden unter dem Stichwort Integration Ängste, Ressentiments und rassistische Abwehrreaktionen verhandelt«, meinen die Autoren der Studie. Sarrazin könne so als symptomatisch für jenen Teil der deutschen Gesellschaft angesehen werden, der derzeit mit dem Begriff »Wutbürger« charakterisiert wird. »Bürgerlich, konservativ und besserverdienend mit starker Tendenz zur Entsolidarisierung.« Unterdessen wurde am Wochenende bereits der siebte Brandanschlag auf eine Berliner Moschee seit Beginn der Sarrazin-Debatte bekannt.
Studie unter: www.heymat.hu-berlin.de
Quelle: www.jungewelt.de
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