Vieles von dem, was in diesen Tagen enthüllt wird, überrascht nicht: Etwa, daß große Firmen wie Google und Microsoft mit Geheimdiensten und Behörden bei der Ausspähung der Bürger zusammenarbeiten. Die Internetnutzer reagieren mit der Parole: Verschlüsseln! So wird seit Wochen zu sogenannten Cryptoparties eingeladen, auf denen in angenehmer Atmosphäre erklärt wird, wie man E-Mails und andere Texte verschlüsselt. Der Wert solcher Aktivitäten ist fraglich, weil die US-Regierung von Verschlüsselungsdiensten den Code verlangt. Und wer da nicht mitmacht, kann einpacken: Am Freitag wurde gemeldet, daß der E-Mail-Dienst Lavabit eingestellt wird, weil der US-Behörden den Zugriff auf verschlüsselte Daten nicht gestattet hat (siehe Seite 1). Lavabit-Chef Ladar Levison erklärte, er könne nur jedem dringend abraten, seine privaten Daten einem Unternehmen anzuvertrauen, daß direkte Beziehungen zu den Vereinigten Staaten habe. Bleibt hinzuzufügen: Oder bundesdeutschen, denn diese arbeiten reibungslos mit US-amerikanischen Behörden zusammen.
Geheimdiensttätigkeit hört nicht beim Zugriff auf verschlüsselte oder unverschlüsselte Daten auf. Es wird nicht nur gesammelt, es wird auch manipuliert. So fand der französische Inlandsgeheimdienst DCRI im April dieses Jahres einen Wikipedia-Artikel über eine militärische Funkstation im Departement Loire plötzlich unangenehm. Nachdem die Löschanfrage bei der US-amerikanischen Wikipedia-Zentrale (Wikimedia Foundation) wegen nicht ausreichender Begründung abgelehnt wurde, lud der Geheimdienst kurzerhand einen Mitarbeiter von Wikimedia France vor und zwang diesen mittels Strafandrohung, noch vor den Augen der Agenten den Artikel zu löschen. Zwar war der Wiki-Administrator dazu gar nicht berechtigt, und deshalb wurde der Artikel von der Zentrale wieder eingestellt, trotzdem zeigt der Vorgang, wie hemmungslos Geheimdienste Einfluß nehmen.
So nachvollziehbar ist das selten. Denn in der Regel agieren die Behörden subtiler. Es gab schon immer Mitarbeitende, die Informationen streuen, ergänzen, fälschen oder verhindern. So leben die Geheimdienstexperten der Zeitungen geradezu davon, daß ihnen gezielt Infos gesteckt werden. Selbstverständlich wird auch auf neue Medien Einfluß genommen. Das läßt sich leicht erahnen, wenn man zum Beispiel die Wikipedia-Einträge zur jungen Welt, zu deren Geschichte und die Diskussion auf Wikipedia anschaut. Wissen kann man das genauer, seit der US-amerikanische Informatikstudent Virgil Griffith 2007 die Software Wikiscanner entwickelt hat. Damit können Beiträge von nicht angemeldeten Benutzern durchsucht und deren IP-Adressen leichter zugeordnet werden. Damals konnte eine Reihe von Eingriffen durch Firmen und Behörden aufgedeckt werden. Seither wurden die Formen der Manipulation allerdings verfeinert. Die Geheimdienste schicken bezahlte Kräfte nicht nur in linke und rechte Organisationen, um dort Informationen zu sammeln. Und wer in ihrem Auftrag manipuliert, muß dazu ja nicht direkt im Amt sitzen. Jeder kann sich als ehrenamtlicher Mitarbeiter bei Wikipedia anmelden und ist dann sozusagen legalisiert. Und wenn die Einträge nicht mehr über das offizielle Firmen- oder Behördennetzwerk laufen, hilft auch der Wikiscanner nicht mehr weiter.
Auf jeden Fall wird eifrig und mitunter auch plump weiter manipuliert. Erst am Donnerstag dieser Woche wurde bekannt, daß der Wikipedia-Eintrag über den ehemaligen NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden direkt aus dem Senat in Washington verändert wurde. Im Wiki-Eintrag wurde Snowden als »Dissident« bezeichnet, dies wurde aus dem Kapitol heraus in »Verräter« umgeschrieben. Von der gleichen IP-Adresse konnten weitere Einträge auf Wikipedia registriert werden.
Was über die junge Welt geschrieben wird, können Behörden beeinflussen. Was in der jungen Welt geschrieben wird, nicht. Solange sich die Zeitung auf einer wirtschaftlich stabilen Grundlage bewegt. Und das heißt, solange die Leserinnen und Leser über Print- und Onlineabos die politische Unabhängigkeit der Zeitung auch ökonomisch untermauern.
Viele Jahre in isolierten, desolaten Massenunterkünften leben, ein Zimmer mit Fremden teilen. Dazwischen Kinder, Kranke, Traumatisierte. »So kann man nicht mit Menschen umgehen«, hatte sich Sachsen-Anhalts CDU-Innenminister Holger Stahlknecht vor einem knappen Jahr öffentlich entrüstet. Er meinte damit generell die miserablen Bedingungen Asylsuchender in seinem Bundesland. Migranten aus dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld sehen das genauso. Aber entgegen Stahlknechts Versprechen sei bis heute fast nichts besser geworden. Darum harren mehrere Flüchtlinge seit dem 1. August in der Bitterfelder Innenstadt in Zelten aus. Drei befinden sich seit Mittwoch im Hungerstreik.
Einer von ihnen ist Oumarou Hamani Ousman. »Ich habe nichts mehr zu verlieren«, sagt er. Vor elf Jahren floh er aus dem Niger und landete im Heim Friedersdorf. Ein Bett in der abgelegenen Baracke ist seitdem sein Zuhause. Als Geduldeter darf er weder arbeiten noch das Bundesland verlassen. Ousman fühlt sich seines Lebens beraubt. Nichts gehe voran, »obwohl ich alles tue, was man von mir will«. Er kämpft gegen kaputte Kochplatten und Sanitäranlagen für viel zu viele Menschen, gegen kalte Zimmer im Winter, gegen Gängelei, Langeweile und Enge. »Das macht jeden depressiv«, weiß er. Etwa 150 Menschen leben derzeit in der sogenannten Gemeinschaftsunterkunft, obwohl sie ursprünglich für 90 Personen ausgelegt war. Und Ousman hat das Gefühl, es werden immer mehr. »Es kommt vor, daß einer nach einigen Tagen Abwesenheit ins Heim zurückkehrt und sein Bett belegt ist.«
Auch Sina Alinia hat aufgehört zu essen. »Ich weiß keine andere Lösung«, erklärt er. Zurück in den Iran könne er nicht. Dort würde die Polizei den Regimekritiker töten, ist er sicher. Alinia zeigt Fotos aus Friedersdorf: Doppelstockbetten aus Metall vor kahlen Wänden, darauf zerschlissene Matratzen. Viele Menschen seien krank, aber die medizinische Versorgung schlecht. »Weil wir kein Geld für öffentliche Verkehrsmittel haben, müssen wir kilometerweit laufen, um Krankenscheine vom Amt zu holen und zum Arzt zu kommen«, erläutert er. Selbst in Notfällen rufe die Heimleitung oft keinen Krankenwagen. Dieser Praxis, glauben Alinia und Ousman, sei im April ihr Mitbewohner Cosmo Saizon zum Opfer gefallen. Laut Obduktionsergebnis starb der 33jährige an Herzversagen, verursacht durch eine zu spät entdeckte Entzündung. Der Tod von Adams Bagna im Lager Bernburg nur einen Monat später blieb dagegen ungeklärt. Die Flüchtlinge sagen, er sei trotz seines Asthmas lange Zeit nicht behandelt worden.
Problematisch sei, daß viele Migranten in Anhalt-Bitterfeld dauerhaft mit gekürzten Leistungen leben müßten. Obwohl ihnen laut Bundesverfassungsgericht der Hartz-IV-Regelsatz abzüglich der Sachleistungen zustünde, in Bitterfeld wären das 321 Euro, gewähre die Ausländerbehörde häufig nur 184 Euro pro Monat. »Begründet wird dies meist mit mangelnder Mitwirkung«, erklärt Carola Probst, die ehrenamtlich hilft. Oft seien Betroffene jedoch gar nicht in der Lage, geforderte Unterlagen zu erbringen.
Die Vorwürfe zur Situation der Flüchtlinge sind nicht neu, werden aber von den Behörden immer wieder bestritten. Der Dezernent für Ordnung und Sicherheit des Kreises, Bernhard Böddeker, sagte im Mai der Mitteldeutschen Zeitung, die Unterkunft in Friedersdorf sei »Standard«, die ärztliche Versorgung »zumutbar«. Auf jW-Nachfrage traf bis zum gestrigen Redaktionsschluß keine Antwort ein. Ein Sprecher verwies aber mündlich auf Gesetze und »die schwierige Lage«. »Das sind andere Kulturkreise, die machen vielleicht auch vieles nicht so sauber wie wir«, ergänzte er. Das Innenministerium wollte »aufgrund der komplexen Fragestellung« erst kommende Woche antworten.
In Bitterfeld werden die Hungerstreikenden derzeit »meist ignoriert oder angefeindet«. »Rassismus ist längst in der Mitte angekommen«, sagt Ousman. Deutlich macht dies auch die Kommentarflut unter einem am Mittwoch von der Mitteldeutschen Zeitung veröffentlichten Artikel: Die »unverschämten Ausländer« sollten »gefälligst froh sein, ein Bett und Essen zu haben«, ist man sich dort etwa einig. Der allgegenwärtige Rassismus sei nicht neu, doch werde er, so die Flüchtlinge, immer aufs neue politisch heruntergespielt.
Der SPD steht offenbar besonderer Besuch ins Haus. Am 17. und 18. August will die Partei ihr 150jähriges Bestehen am Brandenburger Tor in Berlin feiern und lädt dazu alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt zu einem »Deutschlandfest« ein. Zu den Feierlichkeiten erwartet werden außerdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Joachim Gauck sowie diverse Kulturschaffende und Musiker, wie etwa die Popband Die Prinzen und der Rapper Sammy Deluxe.
Schon jetzt zeichnet sich jedoch ab, daß sich nicht nur Parteimitglieder bei den Feierlichkeiten blicken lassen werden. So wird aktuell im Internet dazu aufgerufen, den Sozialdemokraten auf eine ganz besondere Art zu ihrem Geburtstag zu gratulieren.
Während die SPD-Strategen bei ihrem »Deutschlandfest« »150 Jahre – Fur Demokratie. Fur Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität« feiern wollen und suggerieren, daß mit dem Jubiläum der Partei der Fortschritt Geburtstag habe, bevorzugen einige Überraschungsgäste offensichtlich ein anderes Motto für die Party: Sie mobilisieren unter dem Slogan »150 Jahre SPD – Krieg, Abschiebung, Sozialabbau. Tradition verpflichtet!« auf verschiedenen Internetseiten zu den Feierlichkeiten der Sozialdemokraten.
»Wir wollen dieses Jubiläum gebührend feiern und organisieren eine Jubeldemo zum Fest. Für mehr engere Gürtel, weniger soziale Hängematten, Aufrüstung und restriktivere Asylgesetze«, heißt es im Aufruf der Überraschungsgäste, deren Demonstration am 17. August, 14 Uhr, am Mauerpark starten soll und direkt zum »Deutschlandfest« der Sozialdemokraten führt.
Die Organisatoren besagter Jubeldemo führen eine Reihe politischer Anlässe an, die sie ausgelassen und vor allem gemeinsam mit den Sozialdemokraten feiern wollen: Da wären etwa die faktische Abschaffung des Asylrechtes infolge der neofaschistischen Pogrome gegen Flüchtlinge in den 1990er Jahren oder die massive soziale Deklassierung der Bevölkerung durch das von der »rot-grünen« Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) beschlossene staatliche Verarmungsprogramm namens Hartz IV.
Auch wollen die »Jubeldemonstranten« die SPD an ihren Umgang mit einstigen Parteimitgliedern erinnern. »Nicht anpassungsfähige Mitglieder aus unserer früheren Geschichte wie Frau Luxemburg und Herrn Liebknecht konnten wir dank Kooperationen mit dem braunen Lager unwirksam machen – schließlich lassen wir uns nicht linken. Auch der Januaraufstand, den dieses bolschewistische Verräterpack angezettelt hatte, konnte durch fehlende Berührungsängste mit kaisertreuen militärischen Kontingenten abgewehrt werden«, heißt es diesbezüglich im Demonstrationsaufruf.
»Wird sind eigentlich nur geil auf Macht und einen Posten und hoffen, daß wir mit der Jubeldemo bei der SPD Eindruck schinden und danach zu viel Geld und Ruhm kommen«, kündigte Jacob Steinbrück, einer der Organisatoren der Demonstration, am Dienstag auf jW-Anfrage an.
Weniger nach Feierlaune hört sich indes an, was Martin Peters von der Kampagne »Rassismus tötet!« zu sagen hat: »150 Jahre SPD, das sind auch 20 Jahre faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl«, kritisierte er im Gespräch mit dieser Zeitung. Was die SPD mit ihren Feierlichkeiten betreibe, sei eine »einzige Märchenstunde«, weshalb man zum »Protest gegen diese Geschichtsklitterung« aufrufe, so Peters weiter.
150-jahre-spd.net
Quelle: www.jungewelt.de vom 08.08.13
Es war ein breites Bündnis unter Beteiligung von Politprominenz, das am Samstag in Bad Nenndorf nahe Hannover demonstrierte: Neonazis sind nicht erwünscht. Unter Anspielung auf deren Demonstrationsanlaß hieß es auf einem Transparent: »Gedenken? – Geh denken!«. Seit 2006 mobilisieren »Freie Kameradschaften«, unterstützt von der NPD, zu »Trauermärschen« in den niedersächsischen Kurort, um der »Kameraden« zu gedenken, die in der Stadt in einem 1945 von der britischen Besatzungsmacht als Verhörzentrum und Militärgefängnis für Nazis genutzten früheren Badehaus interniert waren und zum Teil mißhandelt wurden.
Am Samstag nachmittag kamen nach Veranstalterangaben rund 2000 Menschen zusammen, um den Rechten zu zeigen, daß sie in der Stadt unerwünscht sind. Zu den Protesten hatten das Bürgerbündnis »Bad Nenndorf ist bunt«, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und antifaschistische Gruppen aufgerufen. Begonnen hatten die Proteste mit einem Gottesdienst in der evangelischen St.-Godehardi-Kirche. Dort rief der schaumburg-lippische Landesbischof Karl-Hinrich Manzke zum Widerstand gegen die Rechten auf. Zu den Teilnehmern der Veranstaltung gehörte auch der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD).
Später sprachen auf der Kundgebung gegen die Neonazidemonstration Politiker und Gewerkschafter. Neben Sebastian Edathy (SPD), Vorsitzender des NSU-Untersuchungssauschusses im Bundestag, redeten u.a. der Spitzenkandidat der niedersächsischen Linkspartei zur Bundestagswahl am 22. September, Diether Dehm, Bad Nenndorfs Bürgermeister Bernd Reese und der IG-Metall-Bezirksleiter in Niedersachsen, Hartmut Meine. Letzterer forderte ein Verbot der NPD. Damit könnten Finanzquellen der Neonazis ausgetrocknet werden, so Meine. Bürgermeister Reese betonte: »Wer Unrecht duldet, stärkt es.«
Vor dem Wincklerbad hatten sich bereits 1800 Gegendemonstranten niedergelassen, um die Kundgebung der Rechten zu verhindern. Auch nach mehreren Aufforderungen durch die Polizei, den Platz zu räumen, blieben nicht nur Antifa-Aktivisten, sondern auch protestunerfahrene Bürger, insgesamt laut Polizei 400 bis 500, sitzen – trotz des Hinweises durch Beamte, wer nicht weiche, begehe eine Straftat. Sie wurden von Polizisten weggetragen, teils mit erheblicher Gewalt, wie zahlreiche Fotos belegen. Laut taz.de kam es zu Schlägen und Tritten, Menschen wurden rabiat weggeschleift. Doch vier Aktivisten hatten sich nach dem Vorbild der Aktionen gegen Castor-Transporte an eine Betonpyramide gekettet, drei weitere »Kleingruppen« schlossen sich nach Polizeiangaben »mit Fahrradbügelschlössern aneinander«. Die Neofaschisten erreichten dadurch nicht ihr Ziel und mußten ihre Kundgebung in einer Seitenstraße abhalten. Einem NDR-Bericht zufolge erklärten sie bereits gegen 19.15 Uhr ihre Veranstaltung für beendet. Angemeldet war die Demonstration bis 20 Uhr.
Die Polizei war mit einem Großaufgebot von 1800 Kräften aus Niedersachsen und anderen Bundesländern im Einsatz. Die Pressestelle der Polizeiinspektion Nienburg-Schaumburg erklärte am späten Samstag abend, trotz der hohen »Einsatzbelastung« für die Beamten habe es keine Verletzten gegeben. Gesamteinsatzleiter Frank Kreykenbohm zufolge mußten die »Identitäten« aller Blockierer festgestellt werden, da »Strafverfolgungszwang« bestehe.
Angaben über politische Szenen und regionale Schwerpunkte, in denen die 40 Interviewpartner ausgewählt werden, verweigert die Bundesregierung unter Berufung auf den Datenschutz. Vorwürfe, denen zufolge Projektmitarbeiter die »linksaffinen« Jugendlichen über den Hintergrund der Studie täuschen, sind mittlerweile weiter bestätigt worden.
Im Internet äußerte sich nach Erscheinen des jW-Artikels im April eine Journalistikstudentin der TU Dortmund: »Ohne es zu wissen, habe ich an einem Forschungsprojekt teilgenommen, das vom Familienministerium durchgeführt wird. Zwei Mitarbeiter der Universität Luxemburg haben mich dafür interviewt – und ich war nicht die einzige Aktivistin, die auf die harmlos klingenden Mails der Forscher hereingefallen ist.« Die Bundesregierung betont hingegen, die Uni-Mitarbeiter seien gehalten, umfassend über das Projekt aufzuklären.
Auf die Frage der Linksfraktion, inwiefern die Befragung linker Jugendlicher die Demokratie stärken soll, flüchtet sich die Regierung in den allgemeinen Hinweis, junge Menschen müßten »stark gemacht werden gegen jede Form des politischen Extremismus«. Daß die Studien darauf abzielen, dem Verfassungsschutz Hintergründe zu seinen Beobachtungsobjekten zu liefern, bestreitet die Regierung.
Während das Projekt an der HWR nach persönlichen Hintergründen fragt, will der FU-Verbund SED-Staat »das die Demokratie gefährdende Potential des Linksextremismus erforschen«. Zu seinen Zielen gehört laut Bundesregierung auch, »die inhaltliche Ausrichtung von Begrifflichkeiten wie z.B. Linksextremismus« zu beschreiben. Damit reagiert die Regierung offenbar auf ein Manko, das ihr vielfach vorgeworfen wird: die bis heute nicht vorhandene wissenschaftliche Definition dessen, was »Linksextremismus« überhaupt sein soll. Die Linksfraktion wirft der Regierung in einer Presseerklärung vor, es gehe ihr nicht um die Stärkung der Demokratie, sondern darum, »den von ihr genutzten Kampfbegriff Linksextremismus pseudowissenschaftlich untermauert zu kriegen, um ihn noch stärker gegen antifaschistische und antimilitaristische Politik einsetzen zu können«.
Das menschliche Gedächtnis ist eine rätselhafte Sache: Die Erinnerung an zeitliche Abläufe, auch an optische oder akustische Eindrücke ändert sich, je länger ein Ereignis zurückliegt. Die Wahrnehmung ist, gerade in Streßsituationen, höchst subjektiv – vor Gericht ist das bekannt, Zeugenaussagen gelten deshalb als schwacher Beweis. Vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG), das die Taten des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) verhandelt, sagten am Mittwoch Zeugen zu einem Mord aus, der mittlerweile zwölf Jahre zurückliegt: Ende August 2001 wurde Habil Kilic, ein Münchner Lebensmittelhändler, in seinem Geschäft in der Bad Schachener Straße erschossen. Zwischen den Aussagen, die die Polizei damals aufnahm, und den Auskünften der Zeugen vor Gericht klaffen teilweise erhebliche Widersprüche.
Doch nicht immer ist die menschliche Psyche Schuld, manchmal kann es auch an Schlampigkeit oder gar an Vorsatz liegen. Eine Anwohnerin, die im August 2001 zwei Männer mit Fahrrädern vor ihrem Fenster diskutieren und dann in Richtung von Kilics Geschäft fahren sah, hatte laut Polizeiprotokoll von 2001 nur Stunden nach ihrer Beobachtung erzählt, beide Männer seien möglicherweise »türkischer Abstammung« gewesen. Eine zweite Vernehmung aus dem Jahr 2005 verzeichnete »Westeuropäer«, am Mittwoch vor Gericht war sich die Frau nun absolut sicher, »Osteuropäer« gesehen zu haben. Das damalige Protokoll sei nicht richtig: »Das habe ich nie gesagt, das kann nicht sein.« Schließlich sei sie als Leiterin in einer Gebäudereinigung tätig gewesen, und da habe man viele Osteuropäer beschäftigt: »Die Hautfarbe, die ist etwas dunkler gewesen, und die hohen Wangenknochen«. Die von ihr beobachteten Männer hätten »nicht so ausgesehen, wie wir uns deutsche Menschen vorstellen«. Auch mit den Pressebildern der mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten die Radfahrer keinerlei Ähnlichkeit gehabt: »Das waren die nie, das auf den Bildern, das kann nicht sein.«
Hat die Polizei nachgeholfen und die »türkische Abstammung« selbst ins Protokoll eingefügt, um die Aussage an ein bestehendes Vorurteil, einen vorformulierten Verdacht anzupassen? Oder ist das Gedächtnis der mittlerweile 67jährigen Zeugin nach all den Jahren lückenhaft geworden? Für letzteres sprechen etliche weitere Unklarheiten in ihrer Aussage: So soll sie der Polizei im Jahr 2001 gesagt haben, sie habe nie in Kilics Geschäft eingekauft. Vor Gericht meinte die Frau nun, sie sei dort regelmäßig Kundin gewesen. Auch an ein Headset, das ihr laut Protokoll der damaligen Aussage bei einem der Radfahrer aufgefallen sein will, konnte sie sich nicht mehr erinnern: »Das habe ich nicht gesagt, ich kenne so etwas nicht.« Die Polizei ermittelte in der sogenannten Ceska-Mordserie mit Feuereifer und bevorzugt gegen türkische Migranten, ohne den geringsten Beweis. Wäre der Mord an Habil Kilic aufgeklärt worden, hätten etliche weitere Taten wohl verhindert werden können. Nicht zuletzt deshalb wiegt der Verdacht manipulierter Polizeiprotokolle so schwer.
Habil Kilic, der gemeinsam mit seiner Frau den Laden betrieb und nebenbei noch auf dem Großmarkt Gemüse verkaufte, hatte sich mit Fleiß und Ausdauer ein bescheidenes Auskommen erarbeitet. Der Laden lief gut, seit Frau Kilic eine kalte Theke im Laden betrieb. Am 29. August 2001 fand eine Passantin, die mit ihrem Sohn dort einkaufen wollte, den sterbenden Ladenbesitzer hinter dem Tresen, in einer riesigen Blutlache. Habil Kilic lebte noch, aber ihm konnte nicht mehr geholfen werden. Ihr achtjähriger Sohn habe »hundertprozentig« nichts von der Tat mitbekommen und auch den Sterbenden nicht gesehen, so die Zeugin am Mittwoch vor Gericht. Doch laut Vernehmungsprotokoll von 2001 habe der Anblick des blutüberströmten Mannes ihren Sohn traumatisiert. Sie sei mit ihm beim Kinderarzt gewesen, weil er von einem »blutigen Gesicht träume«, soll die Zeugin damals den Beamten gesagt haben. Auch ein Postbote, der Habil Kilic erste Hilfe leisten wollte, bestätigte die Anwesenheit des Kindes in seiner Aussage vor dem OLG. Heute bestreitet die Zeugin vehement, daß ihr Sohn etwas mitbekommen habe. Auch das ist eine Eigenschaft menschlichen Erinnerns: Traumatische Erfahrungen auszublenden. Um weiterleben zu können.
Nach wie vor steht der Feind für die bundesdeutschen Inlandsgeheimdienste links. Auch nach den verschiedenen Enthüllungen über Verstrickungen der Verfassungsschutzämter in das mörderische Treiben des neofaschistischen Terrornetzwerkes »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) bleiben sich die Behörden treu und beobachten auch weiterhin ausgerechnet engagierte Antifaschisten. Silvia Gingold, Tochter der mittlerweile verstorbenen antifaschistischen Widerstandskämpfer und Kommunisten Etti und Peter Gingold, hatte sich am 16. Oktober 2012 an das Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen gewandt und um Auskunft gebeten, welche Informationen zu ihrer Person gespeichert seien. Am 8. November hatte die Behörde geantwortet, daß sie »seit dem Jahre 2009 im Bereich Linksextremismus gespeichert« sei. Gingold wird unter anderem vorgeworfen, daß sie »am 15. Oktober 2011 im Rahmen der GegenBuchMasse im Themenspektrum Antifaschismus für die Vorstellung der Autobiographie von Peter Gingold als Referentin angekündigt« gewesen sei (siehe Spalte).
Da die Behörde sich aufgrund eines vermeintlich »öffentlichen lnteresse(s) an der Geheimhaltung der Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen« weigerte, über die in dem an Gingold gerichteten Schreiben enthaltenen Informationen hinausgehende Auskünfte zu erteilen, legte die Antifaschistin Widerspruch gegen den Bescheid der Behörde ein. Dieser wurde nun weitestgehend zurückgewiesen.
Zwar sah sich der hessische Inlandsgeheimdienst offensichtlich gezwungen, den Eintrag über die Lesung Gingolds aus der Autobiografie ihres Vaters zu löschen. Jetzt nimmt der Geheimdienst ein junge Welt-Interview vom 28. Januar 2012 zum Vorwand, um der enagierten Antifaschistin vermeintliche »linksextremistische« Aktivitäten wie etwa ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) nachzuweisen, die – so heißt es im Bescheid der Behörde – »vom LfV Hessen als linksextremistisch beeinflußte Organisation beobachtet« werde. Daher könne auch dem »Löschungsbegehren«, welches Gingold geltend gemacht hatte, »nicht weiter entsprochen werden«.
Die Betroffene kritisiert den Bescheid scharf. »Ich empfinde es als ungeheuerlich, daß meine antifaschistischen Aktivitäten als Konsequenz aus den Erfahrungen meiner Familiengeschichte, die Lesungen aus der Biographie meines Vaters sowie mein Engagement für die Rehabilitierung der vom Berufsverbot Betroffenen der 70er Jahre eine Überwachung und Speicherung durch den Verfassungsschutz zur Folge haben und als linksextremistisch stigmatisiert werden«, konstatierte Silvia Gingold am Dienstag im Gespräch mit junge Welt. »Der Aufwand, der hier bei der Überwachung derjenigen betrieben wird, die im Sinne der Verfassung alles tun, um das Erstarken von Neonazis zu verhindern, während Geheimdienste bei der Aufdeckung des mörderischen Neonaziterrors versagt haben, zeigt, wie prägend für dieses Amt der aus der Nazizeit hinübergerettete antikommunistische Geist ist.«
Zwar steht zu befürchten, daß auch diese Aussagen der Antifaschistin den hessischen Verfassungsschutz erneut zur Speicherung »neuer Erkenntnisse« veranlassen wird. Silvia Gingold will sich jedoch davon keineswegs einschüchtern lassen. »Die Behörde wird mich nicht daran hindern, in der Tradition meiner Familie weiterhin aktiv zu bleiben«, bekräftigte sie gegenüber junge Welt.
»Obwohl der Neoliberalismus ideologisch abgewirtschaftet hat, hat er Prozesse in Gang gesetzt, die nach wie vor wirksam sind wie die Zulassung von riskanten Finanzinstrumenten oder das Setzen auf die Privatisierung der Daseinsvorsorge. Auch in der Krise wird nur mehr von der falschen Medizin verabreicht.«, sagte Thomas Eberhardt-Köster vom ATTAC-Koordinierungskreis. (…)
Jutta Sundermann, ebenfalls Mitglied im ATTAC-Koordinierungskreis: »Während die Krisenpolitiker brutale Sparprogramme verordnen, blüht das Geschäft der Steueroasen. (…) Wir werden den Druck auf die Bundesregierung und die Europäische Union erhöhen – die müssen endlich handeln.« Eine Woche vor der Bundestagswahl legt das von ATTAC mitinitiierte Bündnis »Umfairteilen – Reichtum besteuern« mit zwei großen Demonstrationen nach. Bei Protestaktionen in Bochum und Berlin am 14. September wird die künftige Regierung aufgefordert, große Vermögen zu besteuern und Steueroasen zu veröden um die Finanzierung des Gemeinwesens sicherzustellen. (…)