Die von der Bundesregierung geplante Neufestlegung der Hartz-IV-Leistungen verstößt nach Meinung des renommierten Sozialrechtlers Jürgen Borchert gegen das Grundgesetz. »Die Vorgabe des Verfassungsgerichts, den Regelbedarf transparent und nachvollziehbar zu ermitteln, wurde nicht erfüllt«, beklagte der Richter am Hessischen Landessozialgericht (LSG) gegenüber der Tageszeitung Die Welt vom Montag. Das Ministerium habe »wieder hinter verschlossenen Türen gerechnet«, werde der Entwurf in der vorgelegten Form Gesetz, dann laufe die »Regierungsmehrheit in Karlsruhe ins offene Messer«, prophezeite Borchert. Auch beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) hält man die Pläne für juristisch bedenklich. Er bilde »keine tragfähige Basis zur Vermeidung von Armut, insbesondere von Kinderarmut«, kritisierte der Gewerkschaftsdachverband.
Gestern befaßte sich der Bundestagsausschuß für Arbeit und Soziales in einer vierstündigen öffentlichen Expertenanhörung mit den von der Regierung angestrebten Änderungen bei der Ermittlung und Finanzierung der Hartz-IV-Regelsätze. Die Koalition aus Union und FDP präsentierte Ende September ihre neuen Modalitäten zur Bemessung der Ansprüche mit dem Ergebnis einer Erhöhung des Erwachsenbedarfs um kümmerliche fünf Euro. Das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe hatte im Februar die geltende Kalkulation als »willkürlich« verworfen und eine »transparente und nachvollziehbare« Berechung angemahnt.
Nach dem Urteil von Sozialrichter Borchert, der bei der Parlamentsanhörung am Montag als Sachverständiger geladen war, ist die Neuberechung so unplausibel wie zuvor. Vor allem mit Blick auf die Referenzgruppe, die als Maßstab für die Ermittlung des Bedarfs von ALG-II-Empfängern angelegt wird, zeigten sich »gravierende Verzerrungen«. Auch Wohlfahrtsverbände und Erwerbsloseninitiativen unterstellen den Verantwortlichen in diesem Zusammenhang Tricksereien. Demnach wurden sogenannte versteckte Arme – etwa prekär Beschäftigte – die ihre bestehenden Leistungsansprüche aus Scham oder Unkenntnis nicht geltend machen, nicht aus der Referenzgruppe aussortiert. Vor diesem Hintergrund erhebt Borchert den Vorwurf, die Regelsätze aus fiskalischen Gründen »passend« gerechnet zu haben.
Der Landessozialrichter opponiert stellvertretend für seine ganze Zunft gegen die Regierungsvorhaben. Am vergangenen Freitag hatten 330 Juristen auf dem Deutschen Sozialgerichtstag in Potsdam vor einer erneuten Klagewelle gewarnt, falls das Gesetz nicht überarbeitet werde und wie von Karlsruhe verlangt zum Januar 2011 in Kraft tritt. Insbesondere sei der pauschale Betrag des angekündigten Schulbedarfspakets von 100 Euro plus des monatlichen Betrags von zehn Euro für Bildung, Sport und Freizeit »völlig unzureichend belegt«, wurde moniert. Laut Borchert trifft dies auch für die Kinderbedarfe zu, die offenbar erneut »ins Blaue geschätzt« worden seien.
Der auch für den DGB zu niedrige Kinderregelsatz ist nach dessen Einschätzung durch eine »politisch motivierte, gesteuerte Auswertung« der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) zustande gekommen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund wurde gestern ebenso im Bundestag angehört wie 15 weitere Verbände und sieben Einzelpersonen. Das angewandte Verfahren sei »nicht in ausreichender Transparenz« und die Referenzgruppe auf »methodisch unzulässige Weise« gebildet worden, beanstandeten die DGB-Fachleute in einer vorab veröffentlichten 26seitigen Analyse. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach hat ferner darauf hingewiesen, daß die Regelsätze für schulpflichtige Kinder voraussichtlich frühestens in drei Jahren angehoben werden.
Quele: www.jungewelt.de vom 23.11.10
« Es ist an der Zeit, dass die Linken auf die Straße gehen. Interview mit Sevim Dagdelen, erschienen in der bulgarischen Zeitung „Duma“ am 28.10.2010. Von Lilija Tomowa – Ein neue Art des Kolonialismus!? »
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