Dresden. Während eines Protestes gegen NPD-Aktivitäten in der sächsischen Hauptstadt am Donnerstag Abend kam es zu Übergriffen von Polizeibeamten auf Neonazigegner, wie die »Undogmatische Radikale Antifa Dresden« mitteilte. Die Gegenveranstaltung zu einer NPD-»Mahnwache«, an der sich laut Veranstalter 120 Menschen friedlich beteiligt haben sollen, sei »aus dem Nichts« mit Pfefferspray, Tritten und Schlägen angegriffen worden. Dabei seien 15 Menschen verletzt worden, so die Veranstalter.
Quelle: www.jungewelt.de vom 30.03.13
In Tunesiens Hauptstadt Tunis geht am heutigen Samstag das diesjährige Weltsozialforum zu Ende. Rund 50000 Teilnehmer hatten sich bis Donnerstag nachmittag angemeldet. Zum Wochenende wurde ein weiterer Ansturm erwartet. Etwa 80 Prozent der Teilnehmer seien Einheimische, berichtet Mouhieddine Cherbib vom Organisationskomitee.Mit umgerechnet 50 Cent für Studenten, Rentner und Arbeitslose und 2,50 Euro für andere ist der Eintritt für die meisten erschwinglich, wenn auch nicht gerade billig. Der monatliche Durchschnittslohn beträgt in Tunesien 300 bis 350 Dinar (etwa 150 bis 175 Euro), der Mindestlohn liegt bei 246 Dinar (zirka 125 Euro). Tunesien hat die sogenannten Strukturanpassungsprogramme, die die Bundesregierung derzeit mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds Südeuropa aufzwingt, bereits hinter sich. Das Ergebnis ist eine hochgradig von Agrar- und Textilexporten in den Norden abhängige Wirtschaft, deren Handelsbilanzdefizit derzeit weiter wächst. Verhältnisse wie sie in vielfältiger Form auch auf dem Forum thematisiert wurden.
In einem gut besuchten, von ATTAC Deutschland organisierten Seminar diskutierten zum Beispiel Teilnehmer aus diversen nordafrikanischen und europäischen Ländern die Verhandlungen über ein neues Freihandelsabkommen, die die EU derzeit mit den sogenannten Aghir-Staaten Marokko, Jordanien, Tunesien und Ägypten führt. Die Kritik, so Said Salim von ATTAC, fängt damit an, daß die EU zwar ein einheitliches und sehr weitgehendes Abkommen mit diesen Ländern will, aber mit jedem einzeln verhandelt. Das schwächt natürlich die ohnehin prekäre Position dieser Länder gegenüber dem mächtigen Brüsseler Block zusätzlich.
Ziel der EU ist die Beseitigung aller Handelshindernisse wie Zölle oder störende örtliche technische Standards. Darüber hinaus wird auf umfassende Rechte für europäische Unternehmen gedrängt. Schon jetzt genießen diese, so Salim, durch bilaterale Abkommen Privilegien wie die zeitweise Befreiung von Steuern und Sozialabgaben oder besonders günstigen Zugang zu Land. Die örtlichen kleinen oder mittleren Unternehmer können hingegen von derlei nur träumen. Die Folgen dieser Politik scheint in Brüssel und Berlin niemand zu interessieren. ATTAC kritisiert an den Verhandlungen unter anderem auch, daß die EU nicht zunächst die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der bereits bestehenden bilateralen Verträge untersucht. Immerhin, so Salim, wird es nach dem Seminar auf dem Forum nun eine internationale Gruppe aus Vertretern sozialer Bewegungen von beiderseits des Mittelmeeres geben, die die weiteren Verhandlungen gemeinsam beobachtet und analysiert. Einige Freihandelsabkommen, wie das für den amerikanischen Kontinent geplante FTAA, konnten in der Vergangenheit durch massiven öffentlichen Widerstand verhindert werden.
Eine weitere Kritik von ATTAC an dem geplanten neuen Vertrag, wird auf dem Weltsozialforum sicherlich von den allermeisten geteilt. Faktisch geht es der EU darum, die südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer in einen einheitlichen Markt zu integrieren, ohne daß die Regierungen der Nicht-EU-Mitglieder dessen Regeln mitbestimmen und ohne daß sich die Bürger Nordafrikas und der Levante frei in ihm bewegen könnten. Freizügigkeit gibt es nur für europäisches Kapital und europäische Exportwaren. Die Behinderung der Migration und vor allem das aggressive und oft mörderische Grenzregime der EU an ihrer Südgrenze waren Gegenstand zahlreicher Debatten in Tunis. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte dazu vor überfüllten Zuhörerreihen ein Seminar, an dem auch mehrere Parlamentarier und Fraktionsmitarbeiter der Bundestags-Linken teilnahmen.
Von einem ganz besonderen Schicksal berichteten sudanesische und somalische Flüchtlinge aus dem Lager in Schuscha an der Grenze zu Libyen, die das Nachbarland aufgrund des Bürgerkrieges und der nachfolgenden Pogrome gegen Schwarzafrikaner verlassen mußten. Nach dem etliche 100 durch ein vom UN-Flüchtlingskommissariat, dem UNHCR, organisiertes Umsiedlungsprogramm in verschiedene Länder weiterreisen konnten, sind dort rund 230 Menschen gestrandet, für die sich keiner mehr zuständig fühlt. Betroffene berichten, ihnen sei die Umsiedlung verweigert worden. Im Juli wolle der UNHCR das Lager schließen, aber die Menschen wollen weder in Tunesien bleiben, noch können sie wegen der dort herrschenden Kriege in ihre Heimat im sudanesischen Dafur oder in Somalia zurück. In Tunesien aber, so berichteten sie in Tunis der Presse, leiden sie unter extremem Rassismus. Polizisten würden sie als »dreckige Sklaven« beschimpfen. Gleich nach der Errichtung des Lagers hatte es einem Überfall aus der einheimischen Bevölkerung gegeben, bei dem mehrere Menschen getötet und Zelte verbrannt worden seien.
Das Rechtsradikale bevorzugt populistische Themen aufgreifen, die breit im Bürgertum diskutiert werden, unter anderem das Thema „Kinderschänder“, hat sich ja mittlerweile herumgesprochen. Aber nur wenige achten darauf, dass Rechtsradikale das ebenso populäre Thema „Euro- bzw. Europa- bzw. Bankenkrise“ aufgreifen, in dem sie einen eher entpolitisierenden, nationalistischen oder völkischen oder einen anderen reaktionären Standpunkt einnehmen, in dem sie unter anderem Deutschland als „großen Zahlmeister Europas“ darstellen, statt zu verdeutlichen (zum Beispiel anhand der politischen Ökonomie der „Klassiker“!), dass diese und andere Krisen (auch die soziale, auch die ökologische) dem Kapitalismus immanent sind, dass diese Krisen nur die Phänoebene, also das äußere Erscheinungsbild des real existierenden Kapitalismus darstellen- aber keinesfalls (!) die wahre, eigentliche Ursache.
Mein Standpunkt in Kürze zusammengefasst: Die Ursache all dieser nationalen und internationalen Krisen ist der Kapitalismus „als solcher“. Diese Krisen beruhen in ihm, sind ureigene „Produkte“ des Kapitalismus. So deutlich sollten wir es überall kommunizieren! Als bessere Alternative zum Kapitalismus und zu einem nationalen oder gar nationalistischen Standpunkt strebe ich die sozialistische Demokratie an. Auch das Festmachen der Krisenerscheinungen an einzelne Personen (und da denke ich nicht nur an die Eurokrise, an die Bankenkrise) ist entpolitisierend, fördert eine politische Desorientierung. Weder Merkel noch ein anderer, einzelner Politiker oder eine andere Politikerin, auch nicht die „Bilderberger“, sind die eigentlichen Motoren oder gar die Verursacher der Krisen. Sie sind da eher die „Verwalter“, die ausführenden Organe einer äußerst Kapitalismus affinen, neoliberalen Lobby, die international handelt- auch über die Grenzen von Europa hinaus. Es ist die „Struktur“ des Kapitalismus, sein ökonomisches „Wesen“, das primär auf Ausbeutung, auf Unterdrückung, auf Konzentration des Kapitals und auf die Akkumulation des Kapitals, insbesondere auf der Über-Akkumulation des Kapitals, gründet, also auf einem Fundament, was ich als äußerst verbrecherisch bezeichne. Ganz abgesehen von der Tatsche, dass innerhalb des Kapitalismus die meisten Menschen weit unter ihren Möglichkeiten leben (müssen?). Das „Wesen“ des Kapitalismus „zwingt“ (angeblich!) Einzelpersonen und Parteien dazu, so zu handeln, wie sie handeln (unter anderem durch eine europaweite „Verordnung“ von brutalen Sozialabbaumaßnahmen). Sie, die „herrschende Elite“, die Politiker, die Besitzer der Massenmedien, diejenigen, die schon längst Frieden mit dem Kapital geschlossen haben – schon vor vielen Jahrzehnten – müssen aber nicht so handeln wie sie handeln. Sie können sich auch auf die „andere Seite der Barrikade“ schlagen. Nur: Dann wären sie nicht mehr an der Macht (falls sie das überhaupt faktisch jemals waren)! Sie, die Einzelpersonen und pro kapitalistischen Parteien, sind nur die Sprachrohre und die „finanztechnischen Ausführer“ der international agierenden Kapitalistenklasse- nicht mehr und nicht weniger. Deshalb weht der Partei DIE LINKE, allen antikapitalistisch und aufklärerisch ausgerichteten Parteien und Organisationen, ein scharfer Wind entgegen. Noch handelt es sich eher um ein „Windchen“- der eigentliche Sturm wird noch kommen, dann nämlich, wenn sich auch der progressivere Teil des Bürgertums, ein großer Teil der Mittelschicht, vom Kapitalismus abwendet und sich solidarisch mit denjenigen Kräften verbündet, die sich für all diejenigen Menschen engagieren, die sich nicht auf der Sonnenseite des Lebens befinden, die Opfer dieses verbrecherischen Systems geworden sind. Es wird die Zeit kommen, in der aus einer diffusen Empörung Wut und aus Wut konkrete Handlungen erwachsen. Wir sind darauf vorbereitet!
Düsseldorf. Das kriminelle Potential von Neonazis ist weitaus größer als bislang angenommen. Dies ergibt eine vom nordrhein-westfälischen Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Dienstag in Düsseldorf vorgestellte Statistik: Auf nahezu jedes politisch motivierte Gewaltdelikt von Neonazis kommen zwei weitere Straftaten aus der allgemeinen Kriminalität. Die Ermittler hätten es mit »sehr komplexen Tätern« zu tun, »die nicht nur auf Ausländer prügeln, sondern auch der Oma die Handtasche rauben«, sagte Jäger. Statt Neonazis lediglich politisch motivierte Delikte zuzuordnen, werden seit 2012 sämtliche Straftaten in der polizeilichen Kriminalstatistik für NRW ausgewiesen. Für 2012 erfaßten die Behörden im Bereich der politisch motivierten Kriminalität 192 Gewaltdelikte. Die Zahl der Straftaten der allgemeinen Kriminalität belief sich auf 349. Die Zahl der rechtsextremen Täter betrug 556. (dapd/jW)
Quelle: www.jungewelt.de vom 25.03.13
Was für die Bundesanwaltschaft offiziell noch immer nicht zur Debatte steht, scheint nun Gewißheit zu sein: Aus einem »geheimen« Bericht der Sicherheitsbehörden geht hervor, daß zum »engeren und weiteren Umfeld« des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) 129 Personen gehören. Dem NSU werden mindestens zehn Morde, darunter neun an Migranten, angelastet. Die Namen der Unterstützer stehen laut Bild am Sonntag auf einer Liste, die dem NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages zugegangen ist. Der Ausschußvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) sagte dem Blatt, jetzt müsse schnell geklärt werden, »ob es unter den Genannten Mitwisser der NSU-Verbrechen und weitere V-Leute gab«. Der Ausschuß hat nach Edathys Angaben beschlossen, daß die Bundes- und Landesregierungen die Liste auf bisher unentdeckte Zuträger des Verfassungsschutzes überprüfen sollen.
Als »harter Kern« der Untergrundgruppe gelten dem Bericht zufolge die vier Angeklagten, die neben dem mutmaßlichen NSU-Mitglied Beate Zschäpe ab dem 17. April vor Gericht stehen, sowie knapp ein Dutzend weiterer Beschuldigter, gegen die noch ermittelt wird. Dazu kämen zahlreiche Helfer und Helfershelfer.
Unterdessen sieht sich offenbar auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) genötigt, das Problem rechter Gewalt und von Neonazistraftaten stärker wahrzunehmen. Im Interview mit dem Tagesspiegel am Sonntag räumte er ein, deren Zahl sei 2012 weiter gestiegen. Nach vorläufigen Zahlen zeichne sich bei den politisch rechts motivierten Straftaten ein Anstieg um vier Prozent auf rund 17600 ab, sagte er der Zeitung. Bei den von Neonazis und anderen rechten Tätern verübten Gewaltdelikten sei ein Anstieg um zwei Prozent zu erwarten. Eine Zahl nannte Friedrich hier nicht, betonte aber: »Es gibt bei Neonazis ein Gewaltpotential, das wir nicht kleinreden dürfen.« Für das Jahr 2011 wurden in den offiziellen Statistiken 828 Fälle rechter Gewalt genannt.
Zur Diskrepanz zwischen den Zahlen der Regierung zu Todesopfern rechter Gewalt und den von Journalisten ermittelten sagte Friedrich, diese rühre daher, daß die Statistiken »einen unterschiedlichen Bezugspunkt« hätten. Die Zahlen der Behörden ließen bislang Delikte außen vor, wenn der Täter zwar »eine rechtsextreme Gesinnung hat, seine Tat aber nichts mit dieser Gesinnung zu tun hat«. Derzeit würden aber solche Fälle im Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus von Bund und Ländern noch einmal untersucht. Der Tagesspiegel hat bislang 152 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 registriert, die Bundesregierung nur 63.
Zum Verzicht der Bundesregierung auf einen eigenen NPD-Verbotsantrag sagte Friedrich, jedes Verfassungsorgan müsse für sich entscheiden und diese Entscheidung verantworten. Er selbst werde als Abgeordneter im Bundestag gegen einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht stimmen, wie ihn der Bundesrat beschlossen hat. Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der in zwei früheren Bundesregierungen das Innenressort geleitet hatte, äußerte erneut seine Ablehnung eines Verbotsverfahrens. Der Welt am Sonntag sagte der CDU-Politiker: »Wir laufen Gefahr, ein Problem erst wieder zu erzeugen, das sich gerade von alleine löst.« Die »Rechtsextremen« hätten sich in Deutschland »zu normalen Zeiten immer selbst erledigt«.
(mit Reuters, dapd, AFP)
Quelle: www.jungewelt.de vom 25.03.2013
Der Bundestagsausschuß zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) befaßte sich, wie bereits in der vorangegangenen Woche, am Donnerstag erneut mit dem sächsischen Verfassungsschutz. In dessen Zuständigkeitsbereich konnten die mutmaßlichen NSU-Terroristen ein sicheres Refugium finden: Mehr als zehn Jahre lebten sie im Freistaat, ohne enttarnt zu werden. Während dieser Zeit begingen sie mutmaßlich zehn Morde und verübten Anschläge, bei denen 22 Menschen schwer verletzt wurden. Die geballte Macht deutscher Geheimdienste will hilf- und ahnungslos gewesen sein: »Das ist mir auch völlig schleierhaft, wie sie das geschafft haben, trotz laufender Öffentlichkeitsfahndung«, sagte der Zeuge Olaf Vahrenhold vom Landesverfassungsschutz (LfV) Sachsen.
Zunächst ist es allerdings ein kleines Wunder, daß sich der Ausschuß überhaupt mit dem Wirken des sächsischen LfV befassen kann. Im Freistaat wurde nämlich gründlich gelöscht: »Nach fünf Jahren« würden die elektronischen Eintragungen regulär vernichtet, berichtete Joachim Tüshaus, der von 1993 bis 2004 die Abteilung 2, »Rechtsextremismus«, leitete. Auf Nachfrage der Obleute präzisierte der hochrangige Exgeheimdienstler, heute Leiter des Referats Polizeirecht im Landesinnenministerium: Nach fünf Jahren würde »erstmals geprüft«, ob gelöscht werden könne, wenn die betroffenen Personen »nicht mehr auffällig« geworden seien. Bei NSU-Unterstützern, wie beispielsweise dem Spitzel der Berliner Polizei und Terrorhelfer der ersten Stunde, Thomas Starke, ergab sich wohl stets »Unauffälligkeit«; zumindest gibt es keine Akten mehr. Allerdings kann der Ausschuß auf Papiere aus dem Nachbarland Thüringen zurückgreifen: Im Oktober letzten Jahres hatte sich der dortige Innenminister Jörg Geibert (CDU) zu einem radikalen Schritt entschlossen und die Aktenbestände seines LfV von 1991 bis 2002 komplett und ungeschwärzt, per Lkw-Transport über eine geheimgehaltene Route, nach Berlin schaffen lassen. Gegenüber dem Ausschußvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) sagte der Politiker damals, er habe befürchtet, daß Dokumente im »Sumpf« des Thüringer Amtes hätten verschwinden können. Zum kopieren der Akten wurden 80 Bereitschaftspolizisten abkommandiert, um Vertuschungsversuche durch Geheimdienstler zu verhindern.
Über Geibert waren damals Ministerkollegen, Nachrichtendienstler und Parteifreunde hergefallen: Von »Geheimnisverrat« war die Rede, der Aktentransport sollte noch auf dem Weg nach Berlin abgefangen werden – vergeblich, die Dokumente landeten im Geheimschutzraum des Bundestages. Ohne Geiberts Verzweiflungstat könnte das Kapitel Sachsen nicht mehr beleuchtet werden. So kamen unter anderem Aufzeichungen über eine Operation »Terzett« ans Tageslicht: Im Rahmen einer sogenannten »G10«-Maßnahme, mit der Nachrichtendienste das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bei befürchteten schwersten Straftaten wie terroristischen Anschlägen aushebeln können, sollte das engste NSU-Umfeld ausgeleuchtet werden: Betroffen waren – neben Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe selbst, deren Aufenthaltsort damals allerdings unbekannt war – Jan Werner und wiederum der Spitzel Thomas Starke. »Terzett« lief unter Thüringer Federführung, aber mit Beteiligung der Sachsen vom 5. Mai bis zum 5. August 2000. Drei Monate sind der längstmögliche Zeitraum für eine »G10«-Maßnahme; offiziell eingestellt wurde sie jedoch erst 2010. Ergebnisse: Angeblich keine. Als 2003 das Bombendelikt verjährte, wegen dem nach den späteren NSU-Gründern gefahndet worden war, wurden die Betroffenen informiert.
Die sächsischen Beamten konnten sich nicht mehr gut an all das erinnern. Immer, wenn die Obleute auf die allgegenwärtigen »V-Männer« zu sprechen kamen, ging der Geheimnisschutz vor. »Namen kann ich hier, glaube ich, nicht nennen«, beschied Zeuge Tüshaus den FDP-Abgeordneten Patrick Kurth. »Doch, können Sie ruhig, das ist durch ihre Aussagegenehmigung gedeckt«, parierte dieser. Doch da versagte ganz plötzlich das Gedächtnis des ehemaligen Geheimdienstlers: »Ich kann mich aber nun gar nicht mehr an diese Namen erinnern, muß ich zugeben«.
Quelle: www.jungewelt.de vom 23.03.13
Wenn man eine Liste der Skandale aufstellen wollte, die der Verfassungsschutz in Bund und Ländern verbrochen hat, stößt man unweigerlich auf ein zentrales Problem: Eine solche Liste wäre im wahrsten Sinn des Wortes endlos. Endlos zum einen, weil sie sehr lang ist. Das Amt hat seine Prägung durch die Altnazis, die es anfangs vereinte, bis heute nicht verloren. Der Hauptfeind stand und steht links (…). Endlos ist die Liste zum anderen deswegen, weil sie aufgrund des Charakters des Verfassungsschutzes als Geheimdienst zwangsläufig unabgeschlossen bliebe. Das Sicherste, das man über den Verfassungsschutz weiß, ist: Daß man nur einen Bruchteil von dem weiß, was er macht. Dieser Bruchteil ist allerdings schon so schlimm, daß ich sage: Dieser Dienst muß weg, er ist eine Gefahr für alle Demokratinnen und Demokraten. (…)
Herr Maaßen, ich habe mit großer Verwunderung im aktuellen Focus gelesen, wie Sie behaupten, die Arbeit Ihrer Behörde werde »vollständig von Parlament und Regierung kontrolliert«. Zumindest was das Parlament angeht, kann ich nur sagen, daß Ihre Aussage ein schlechter Witz ist. Die parlamentarischen Kontrollinstanzen sind weniger als zahnlose Tiger, sie sind allenfalls Streicheltiere. Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) tagt ein paar Mal im Jahr. Es tagt geheim. Kein Bürger, kein Journalist hat Zugang. (…) Die Mitglieder des Geheimgremiums sind selbstverständlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Sie dürfen über einen Skandal nicht reden, sie machen sich sonst strafbar. Ich meine: Kontrolleure, die über die Ergebnisse ihrer Kontrolle nicht reden dürfen, sind keine Kontrolleure. Sie so zu nennen, ist ein Etikettenschwindel. (…)
Herr Maaßen, Sie haben nach ihrem Amtsantritt in einem Interview mit Bild gesagt, das Bundesamt für Verfassungsschutz sei »so wichtig wie die Polizei oder die Feuerwehr«. Soll heißen: Die Feuerwehr will ja auch keiner abschaffen, wenn sie mal versagt und einen Brand nicht gelöscht hat. Ich muß sagen, ich finde diesen Vergleich regelrecht empörend und eine Beleidigung für Feuerwehrleute. Die Feuerwehr ist keine Geheimorganisation. Jeder kann nachfragen, wie viele Feuerwehrleute es gibt, wie viele Fahrzeuge usw. Die Arbeit der Feuerwehr ist nachvollziehbar, das Budget ist transparent. Von der Feuerwehr ist nicht bekannt, daß sie Leute, die Brände legen, mit Millionenbeträgen versorgt und ihnen praktisch die Benzinkanister noch in die Hand drückt. (…) Ich habe großen Respekt vor Feuerwehrangehörigen, weil sie teilweise unter Lebensgefahr versuchen, Brände zu löschen und Menschenleben zu retten. Während der Verfassungsschutz Verbrechern und Mördern aus der Naziszene noch dazu verhilft, sich mit falschen Pässen zu versorgen und weiterhin Straftaten zu begehen. (…)
Quelle: www.jungewelt.de vom 15.03.13
Ist das der Anfang vom Ende des Dramas in Spanien? Ein am Donnerstag veröffentlichtes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt den Richtern in Spanien künftig mehr Macht gegenüber den Gesetzestexten, um Zwangsräumungen von Wohnungen zu stoppen. Nach Ansicht der Richter in Strasbourg verstoßen die spanischen Gesetze gegen eine EU-Direktive zum Schutz der Verbraucher gegen mißbräuchliche Vertragsklauseln. Die Juristen hatten einen Fall behandelt, in dem ein Schuldner auf Betreiben der Bank aus seinem Haus vertrieben worden war, jedoch zugleich auf seinen Schulden sitzenblieb. Der Fall war von einem Gericht in Barcelona nach Strasbourg weitergeleitet worden. Die Richter dort hatten festgestellt, daß es ihnen gemäß der spanischen Gesetzgebung nicht möglich war, eine Zwangsräumung vorsorglich auszusetzen, obwohl es Indizien für betrügerische Klauseln in dem zugrunde liegenden Vertrag gab. Zudem können die Banken Räumungsklagen ab dem ersten Monat betreiben, in dem ein Schuldner seine Hypothekenzinsen nicht bezahlt. Diese »Expreßräumungen« sowie die Tatsache, daß die betroffenen Familien trotz des Verlusts ihrer Wohnungen weiter auf oft mehreren hunderttausend Euro Schulden sitzenbleiben, haben die Richter nun für unvereinbar mit den EU-Normen erklärt.
Die Zahl der Zwangsräumungen in Spanien wird seit Beginn der Krise 2008 auf 400000 geschätzt. Der Staat bietet den davon betroffenen Familien keine Alternativen an, so daß sich viele gezwungen sehen, leerstehende Immobilien zu besetzen, um nicht auf der Straße zu stehen. Zugleich stehen geschätzt sechs Millionen Wohnungen in Spanien leer. Bei diesen handelt es sich zumeist um Neubauten, für die Spekulanten und Bauherren zu ihren Konditionen keine Abnehmer finden.
Doch es gibt Widerstand. Seit 2008 hat die Plattform der Hypothekenopfer (PAH) mehr als 500 Räumungen durch Protestaktionen verhindern können. Die Aktivisten des Bündnisses sammelten mehr als 1,5 Millionen Unterschriften für eine Volksinitiative, die nun im Parlament behandelt werden muß. Darin fordert die PAH eine Gesetzesänderung, durch die Schuldner, die ihre belastete Wohnung der Bank übergeben, von der Schuldenlast befreit sind. Zudem sollen den Betroffenen Unterkünfte zu bezahlbaren Sozialmieten angeboten werden. Abgeordnete, die sich einer solchen Regelung widersetzen, haben in den vergangenen Tagen zu Hause wiederholt Besuch von Aktivisten bekommen, die ihnen in den eigenen vier Wänden von ihren persönlichen Geschichten berichteten.
Die Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy bereitet zwar ein neues Gesetz über die Räumungen vor, will darin jedoch keine generelle Schuldenstreichung bei Verlust der Wohnung aufnehmen. Wie der rechte Regierungschef am Donnerstag sagte, könnte eine solche Regelung für Unsicherheit bei den Finanzinstituten sorgen, die daraufhin ihre Kreditbedingungen verschärfen könnten. Justizminister Alberto Ruiz Gallardón fügte eilig hinzu, daß die vom Europäischen Gerichtshof beanstandeten Punkte aber natürlich berücksichtigt würden.
Unterstützung für die Opfer von Banken und Regierung kommt hingegen zunehmend von den Feuerwehrleuten Spaniens. Angesichts der offensichtlichen Ungerechtigkeit haben sich zuletzt unter anderem in Galicien, Madrid, Katalonien, Asturien oder dem Baskenland Feuerwehrleute geweigert, Häuser, die geräumt werden sollten, aufzubrechen.
Quelle: www.jungewelt.de vom 15.03.13
Der DGB protestiert gegen die Überwachung gewerkschaftlicher Veranstaltungen durch den Verfassungsschutz. Es sei ein Skandal, daß ein langjähriger Gewerkschaftskollege »extremistisch aufgefallen« und überwachungswürdig sein soll, weil er sich an einer Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Tübingen beteilligt hat, erklärte der dortige DGB-Kreisverband gegenüber junge Welt (siehe Spalte). »Wer gewerkschaftliches Interesse und Engagement überwacht, gefährdet die Demokratie und verstößt gegen verfassungsmäßig garantierte Grundrechte«, heißt es in einer Stellungnahme zur Dauerüberwachung des Tübinger Linken Gerhard Bialas.
Wie aus einem junge Welt vorliegenden Schreiben des baden-württembergischen Landesamtes für Verfassungsschutz hervorgeht, verortet der den Feind noch immer links. Überwacht werden vom Inlandsgeheimdienst selbst DGB-Kundgebungen und Beerdigungen. Schriftlich bestätigt worden ist das nach einem sogenannten Auskunftsersuchen, das Gerhard Bialas im Oktober 2012 beim Verfassungsschutz in Stuttgart gestellt hatte. Er wollte wissen welche Erkenntnis über ihn gespeichert sind. »ln der Vergangenheit sind Sie im Zusammenhang mit linksextremistischen Bestrebungen aufgefallen«, schrieb ihm die Behörde in einer vierseitigen Antwort, die Erstaunliches zu Tage förderte.
Ob CDU-regiert oder von Grünen und SPD, der 1931 in Tübingen geborene Bialas wird vom Ländle seit 1951 überwacht, da er »zunächst im Zusammenhang mit Aktivitäten in der ›Kommunistischen Partei Deutschlands‹ (KPD)« auffällig geworden sei und sich nach deren Verbot 1956 der Deutschen Friedensunion (DFU) und damit »einer als Tarnorganisation der KPD bewerteten Partei« angeschlossen habe. Dem aber nicht genug: Bialas habe im Januar 1969 die »Gründungsversammlung des Kreisausschusses Tübingen der wenige Monate zuvor neu gegründeten ›Deutschen Kommunistischen Partei‹ (DKP)« geleitet, welche die Behörde als »Nachfolgeorganisation der KPD« ausgemacht hat.
Neben dem bis heute andauernden Engagement für die DKP werfen die Baden-Württemberger Verfassungsschützer Bialas vor, am 13. Februar 2007 in Stuttgart an einer »Trauerfeier und Urnenbeisetzung eines verstorbenen DKP-Aktivisten« teilgenommen zu haben. Neben Friedhofsbesuchen hat der Inlandsgeheimdienst offensichtlich auch vom DGB organisierte Kundgebungen genauestens im Blick. So wird Bialas bescheinigt, am 1. Mai 2010 der Gewerkschaftskundgebung in Tübingen beigewohnt zu haben, »bei der auch linksextremistische Organisationen, u.a. die DKP, Infostände aufgebaut hatten« und an deren »organisatorischen Ablauf (Redebeiträge, Moderation)« auch »Linksextremisten beteiligt« gewesen seien.
Weitere Behördenerkenntnis: »In der Mitgliederzeitschrift AntiFa-Nachrichten der linksextremistisch beeinflußten ›Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten‹ (VVN-BdA) Baden-Württemberg« sei Bialas »namentlich aufgeführt«. Daß der Kommunist auch am Neujahrsempfang der Linkspartei im Januar 2012 teilnahm, haben die Stuttgarter Schlapphüte zwar registriert, jedoch stünde »diese Erkenntnis auf Grund der vom Innenministerium Baden-Württemberg am 7. Februar 2013 verfügten Einschränkung der Beobachtung der Partei ›Die Linke‹ zur Löschung an«.
Gegenüber junge Welt nannte Bialas die seit 1951 andauernde Überwachung seines demokratischen und antifaschistischen Engagements »unerträglich«. Die aus Tübingen stammende Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel (Die Linke) übte am Mittwoch harsche Kritik an der staatlichen Dauerschnüffelei. »So absurd die Bespitzelung von Gerhard Bialas ist und schon komische Züge trägt, so reaktionär ist die antikommunistische Grundhaltung dahinter.« Die Parlamentarierin bekräftige die Forderung ihrer Partei, daß »der sogenannte Verfassungsschutz aufgelöst werden« muß. »Die Überwachungspraxis der Geheimdienste zeigt klar und deutlich, daß linke Parteien bekämpft und kriminalisiert werden sollen. Da dies in den Innenministerien entschieden wird, sind die Dienste ein parteipolitisches Instrument, um diejenigen einzuschüchtern, die Sympathien für linke Ideen und ihre Parteien haben«, erklärte Hänsel gegenüber junge Welt. Der DGB in Tübingen fordert die grün-rote Landesregierung auf, die Überwachungspraxis »dringend« zu stoppen.
Mehr zum Fall Gerhard Bialas unter: kurzlink.de/Bialas