Obwohl die Annexion der DDR bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten durchgesetzt worden ist, der Haß des bundesdeutschen Establishments auf den vormals sozialistischen Teil Deutschlands bleibt ungebrochen. In Zeiten des zunehmenden Sozialabbaus und der Militarisierung der Innen- und Außenpolitik werden vermehrt Hetzkampagnen gegen die ehemalige DDR angestimmt, die – trotz ihrer Schwächen – nicht nur Hunderttausenden ihrer Bürger über Jahrzehnte hinweg als politische Alternative zum Kapitalismus galt. Es sind die praktischen Auswüchse der vorherrschenden staatlichen Extremismusdoktrin, in deren Rahmen Faschisten mit ihren entschiedensten Gegnern – nämlich Sozialisten, Kommunisten und Demokraten gleichgesetzt werden. Sie wird herangezogen, wenn es gilt, die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu diskreditieren. Da es von der extremismuspolitischen Theorie bis zur antikommunistischen Praxis nicht weit ist, dürfte es kaum verwundern, daß vor allem rechtskonservative Politiker aus CDU und CSU und ihnen nahestehende »Leitmedien« sich aktuell in Forderungen überbieten, die sozialistische Geschichte zu diskreditieren bzw. gleich ganz vergessen zu machen.
So wurde ein Aufzug von rund zwei Dutzend ehemaligen DDR-Bürgern, die am Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über das faschistische Deutschland am 9. Mai in Uniformen der NVA am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow paradierten, genutzt, um ein Verbot von Symbolen der Arbeiterbewegung bzw. der DDR einzufordern. Betroffen davon wären dann wohl nicht nur das DDR-Staatswappen mit Hammer und Zirkel, sondern auch die Symbole von Organisationen des vormals sozialistischen Staates wie etwa des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) oder des Emblems der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Bereits jetzt ist das Tragen von FDJ-Hemden im Gebiet der alten BRD untersagt, da die Organisation dort bereits 1951 verboten worden war.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, hatte die schon zuvor von anderen CDU-Politikern erhobene Forderung bekräftigt, daß das »Tragen von DDR-Symbolen (…) gänzlich verboten werden« und im Strafrecht dem Tatbestand der »Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen« zugeordnet werden müsse. Damit würden sich DDR-Wappen und ähnliche Symbole in ihrer juristischen Einordnung auf gleicher Ebene wie das faschistische Hakenkreuz finden.
Springers Welt geht selbst ein Verbot von sozialistischer Symbolik nicht weit genug. Der Publizist Richard Herzinger sprach dieser Tage der maßgeblich von ehemaligen KZ-Überlebenden aufgebauten DDR selbst ihren antifaschistischen Charakter ab. »Zu den größten Propagandalügen der kommunistischen Herrschaftsapparate gehörte bis zuletzt die Legende von ihrem ›antifaschistischen‹ Ursprung«, meint Herzinger, der bisweilen auch für das vielen als links geltende Wochenblatt Jungle World schreibt. Schließlich sei in der DDR »in Wahrheit« und »unter der Ägide der marxistisch-leninistischen Ideologie jede wirkliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus unmöglich gemacht« worden, weiß Herzinger in seinem Beitrag »Warum wir die Symbole der DDR verbieten sollten« ganz faktenfrei zu berichten.
Fernab des medialen Begleitfeuers für die Verbotsdebatte steht zu befürchten, daß es schon in Kürze zu ersten Gesetzesinitiativen in dieser Sache kommt. So hatte sich CDU-Bundestagsfraktionschef Volker Kauder offen für derartige parlamentarische Initiativen gezeigt. Auch in einigen Landesparlamenten sind Anträge, die ein Verbot von sozialistischer Symbolik fordern, offenbar bereits in Arbeit.
Unter dem Titel »Getreten, geprügelt, mit Giftgas bekämpft« berichten Sie in einem »Erlebnisprotokoll« (siehe www.ethecon.org) über die Blockupy-Demo in Frankfurt am Samstag. Was haben Sie erlebt?
Das war ein schwarzer Tag in der Geschichte der Bundesrepublik. Ich bin 64 Jahre alt und war schon auf vielen Demonstrationen – ich bin empört, wie unverhohlen und öffentlich am Samstag die Verfassung und die Grundrechte gebrochen wurden, mit brachialer Polizeigewalt. Ein friedlicher Zug mit 15000 bis 20000 Menschen in zwar regenfester, aber doch vorsommerlicher Kleidung wurde von militärisch hochgerüsteten und vermummten Polizeieinheiten überfallen. Stundenlang wurden Tausende mit Prügeln, Reizgas, Fußtritten und Knüppeln malträtiert – ohne Rücksicht auf alte Menschen oder Kinder. Einem Kind soll sogar das Schlüsselbein gebrochen worden sein. Krankenschwestern und Ärzte haben sich auf der Demonstration spontan gemeldet, um die Flut von Verletzten zu versorgen. Auch ich humpele und mußte mir ein ärztliches Attest besorgen.Selbst Polizisten sollen entsetzt über die Gewalttätigkeit ihrer Kollegen gewesen sein …
Einzelne Beamte haben sogar mitten im Geschehen die Seiten gewechselt. Ein Polizist, der meiner Frau gegenüberstand, war angesichts der wahllosen Prügelei in Tränen ausgebrochen. Völlig erschüttert stammelte er: »Das sind doch hier alte Menschen!« Ein anderer hat meine Frau von seinen Kollegen weg aus der Prügelszene herausgezerrt. Immer wieder hat die Polizei verletzten Demonstranten die Hilfe verweigert – eine junge Beamtin hingegen hat zur Versorgung Wasserflaschen gereicht.Wie ist der Kessel überhaupt zustande gekommen?
Die Polizeibehauptung, es habe »Passivbewaffnung« vorgelegen, gab es erst Stunden nach Beginn des gewaltsamen Einsatzes. Journalisten, die permanent nachfragten, bekamen keine Antwort. Und plötzlich hieß es: »Passivbewaffnung«. Der Wetterbericht hatte »Starkregenereignisse« ankündigt – es ist nichts als Lüge, Hetze und Dreck, wenn die Polizei den vorsichtshalber eingesteckten Regenschirm dann als »Bewaffnung« bezeichnet.
In Wahrheit ging es darum, die Demonstranten nicht zur Europäischen Zentralbank durchzulassen. Das wollten das hessische Innenministerium und die schwarz-grüne Stadtregierung Frankfurt mit allen Mitteln verhindern. Deshalb gab es ja die gerichtlichen Auseinandersetzungen bis hoch zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Die haben sie zwar verloren, sich dann aber über diese Gerichtsurteile hinweggesetzt.Wer ist politisch dafür verantwortlich?
Ein Polizist hat es mir gegenüber auf den Punkt gebracht: »Ich hau dir die Birne zu Matsch, wenn du einen Schritt weiter gehst« – er hat so dem Ausdruck verliehen, was der hessische Innenminister Boris Rhein wollte: Bis hierher und keinen Schritt weiter! Um ihren offenen Rechtsbruch zu legitimieren, wollte die Polizeiführung eskalieren. Sie wollte zur Rechtfertigung Bilder »linker Gewalt« provozieren. Aber die Demonstranten haben diese Erwartung nicht erfüllt, keiner hat zurückgeschlagen.Gab es eine besondere Behandlung für die Linkspartei? Deren Bundes- und Landtagsabgeordnete hatten Polizeiketten trotz Parlamentsausweises oft nicht passieren können…
Offenkundig. Zum Beispiel haben Greiftrupps gezielt linke Bundestagsabgeordnete aus dem Kessel abgeführt, um dann ohne parlamentarische Zeugen hemmungslos drauflosprügeln zu können.Stimmen aus SPD und Grünen sind zu hören: Der Einsatz sei zu hart gewesen. Sie fordern die Absetzung des hessischen Innenministers Boris Rhein (CDU)…
Das wäre zu begrüßen: Dieser Innenminister muß weg, ein Untersuchungsausschuß muß eingerichtet werden – alles, was die Demokratie zu bieten hat, muß geschehen! Das entläßt aber SPD und Grüne nicht aus ihrer politischen Mitschuld. Sie kuscheln mit Kapital und Konzernen, sie haben Agenda 2010 und Hartz IV in die Welt gesetzt.Scheiben der Deutschen Bundesbank und einer anderen Bankfiliale in Frankfurt am Main gingen in der Nacht zum Montag zu Bruch. Wundert Sie das?
Können wir sicher sein, ob das nicht »Agents provocateurs« waren – Agenten der Polizei? Ich sagte bereits: Innenministerium und Polizeiführung brauchen Rechtfertigungen für ihre Gewaltexzesse und den Verfassungsbruch.
Die Polizeiattacke auf die Blockupy-Demonstration am Samstag in Frankfurt am Main wird Thema im hessischen Landtag. Die Fraktion Die Linke beantragte am Montag, die gewaltsamen Übergriffe von Polizisten auf Hunderte Demonstranten auf die Tagesordnung des Innenausschusses am Donnerstag zu setzen. Zur Debatte steht die Frage: »Erfolgte der Angriff auf die Blockupy-Demo nach einem Drehbuch der Polizeiführung oder aus dem Innenministerium?« Die politische Verantwortung für das Desaster müsse Innenminister Boris Rhein (CDU) übernehmen. Die Linke forderte Rhein auf, nicht »bis zum 22. September, dem Wahlsonntag in Hessen, zu warten«, sondern seine Sachen im Innenministerium bereits jetzt zu packen. »Wer am Wochenende vor Ort war, sich Bilder des Polizeieinsatzes anschaut«, Berichte des unabhängigen Ermittlungsausschusses und Zeugenaussagen lese, könne nur zu diesem Schluß kommen, so der Linke-Fraktionsvorsitzender Willy van Ooyen.
Der Einsatz am Samstag sei generalsstabsmäßig geplant gewesen, von großer Härte und Brutalität gekennzeichnet, begründete er die Forderung. Es gehe um die Aushebelung des Grundrechts auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Ihm dränge sich der Verdacht auf, daß »in Frankfurt am Main mittlerweile Neonaziaufmärsche eher geduldet und ermöglicht würden als Demonstrationen, die Alternativen zu Sozialabbau und Bankenrettung auf Steuerzahlerkosten aufzeigen«.
Am Montag rechtfertigten Innenminister Boris Rhein (CDU) und der Einsatzleiter der Polizei, Harald Schneider, auf einer Pressekonferenz den Großeinsatz, der zu Hunderten Verletzten führte (siehe Randspalte). Rhein beharrte darauf, angesichts der sogenannten »passiven Bewaffnung« des eingekesselten Blocks, in einer ähnlichen Situation alles wieder genauso machen zu wollen.
Dagegen protestieren Wissenschaftler, Lehrer und Sozialpädagogen, die an der Demonstration teilgenommen haben, in einem offenen Brief. Darin verwahren sie sich gegen zahlreiche Unterstellungen, die von dem CDU-Politiker geäußert worden seien.
Die Liste ist lang: Der angebliche »schwarze Block« sei bunt gewesen, heißt es im Schreiben. Die »Vermummung« habe vor allem aus Sonnenbrillen und Regenschirmen bestanden. Einziger Vorwand der Einkesselung von über 1000 Personen über neun Stunden sei das Abbrennen von drei bengalischen Feuern gewesen. Dies sei völlig unverhältnismäßig. Der Vorwurf der »passiven Bewaffnung« sei aberwitzig. Ein selbstgebasteltes Schild aus Styropor, wie es die Demonstranten mit sich geführt hätten, sei nur Schutz, keine Waffe. Im Blockupy-Bündnis habe erklärtermaßen ein Aktionskonsens bestanden, daß von den Demonstrierenden keine Eskalation ausgehen sollte. Entsprechend hätten sich diese verhalten – außerhalb wie innerhalb des Polizeikessels. Hingegen wären Polizisten »übergriffig« geworden und hätten Körperverletzungen in Kauf genommen. Wie schon am Freitag bei der Demonstration gegen Abschiebungen am Rhein-Main-Flughafen seien Polizeitrupps mehrfach in die Menge hineingestürmt, hätten Demonstranten überrannt und niedergeworfen. Ohne Vorwarnung und ohne daß eine Gefahrensituation vorgelegen hätte, sei Pfefferspray aus unmittelbarer Nähe direkt in Gesichter gesprüht worden. Wehrlose Demonstranten seien mißhandelt worden, indem ihnen etwa der Kopf nach hinten gezogen und Mund und Nase zugehalten worden seien. An Armen und Beinen seien sie zur Personalienfeststellung davongetragen und von Polizisten in die Seite und den Unterleib getreten worden. Hälse seien verdreht und Arme verrenkt worden. Ohne Vorwarnung hätten Polizisten mit schwarzen Handschuhen Faustschläge versetzt.
SPD und Grüne in Hessen fordern ebenso wie Die Linke den Rücktritt des hessischen Innenministers. »Selbst wenn diese inhaltlich nicht alle unsere Positionen teilen, müssen wir unsere künftigen Proteste auf eine breitere Basis stellen«, so Linke-Landesvorsitzender Ulrich Wilken. Es könne nicht sein, daß es künftig untersagt werde, an der europäischen Krisenpolitik in Deutschland Kritik zu üben.
Auch die Blockupy-Bewegung zieht ihre Konsequenzen: »Wir werden uns diese skandalöse Polizeigewalt nicht gefallen lassen und uns unsere Kritik an der europäischen Krisenpolitik nicht nehmen lassen«, so Pressesprecher Hanno Bruchmann. »Die große Solidarität der Demonstranten untereinander hat uns ermutigt. »Blockupy werde 2014 wieder dasein, und wir werden mehr sein!«, war der Tenor am Sonntag auf einer Abschlußpressekonferenz im Camp Anticapitalista auf dem Frankfurter Rebstockgelände.
Die ganze Stadt war zu diesem Zeitpunkt mit Polizeiketten abgesperrt, die EZB weiträumig mit Stacheldraht. Ein Demonstrant sei im Kessel kollabiert, habe ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, so Blockupy-Sprecher Hanno Bruchmann. Ein weiterer, der selbst einen Bluterguß unter dem Auge hatte, sagte am Samstag abend gegenüber junge Welt, er habe gesehen, wie mehrere andere Aktivisten ebenfalls auf den Kopf geschlagen worden seien. Auch die Pressefreiheit wurde zwischenzeitlich außer Kraft gesetzt. All das ging selbst der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu weit: Die berichtete am Samstag über ein hartes Durchgreifen der Polizei »ohne echten Grund, wie viele sagen« – unter den Verletzten sei offenbar auch ein Journalist gewesen. An der Neuen Mainzer Straße verwehrte die Polizei Medienvertretern den Zugang zum Kessel mit der Begründung, dort sei »gar nichts los«. Auf den Einwand von jW, daß man ja dann ruhig nachschauen könne, hieß es: »Die Presse darf nicht mehr durch: Anweisung von oben, der Polizeiführung in Wiesbaden«. Parlamentarische Beobachter wurden ebenfalls nicht respektiert: »Sie sind kein Abgeordneter! Der Ausweis ist gefälscht«, habe er sich anhören müssen, berichtete der Bundestagsabgeordnete Niema Movassat. »Ein schwarzer Tag für die Demokratie! Der Rechtsstaat wurde in Frankfurt begraben«, resümierte er.
Die Demonstranten des von der Polizei als gewaltbereit bezeichneten Blocks hätten sich auch noch kurz vor der Räumung am späten Nachmittag nicht »von den aggressiv vorrückenden Einheiten« provozieren lassen, so Elke Steven vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, das mit 20 Beobachtern vor Ort war. Die Polizei sei »mit äußerster Brutalität und Schmerzgriffen, die die körperliche Unversehrtheit verletzten« vorgegangen. Vor der Absperrung an der Hofstraße, wo Polizisten ohne Kampfmontur im Einsatz waren, gab es um 21.15 Uhr für dieses Vorgehen Claqueure, die den dortigen Polizisten sichtlich peinlich waren. Geschniegelte kurzhaarige Rechtsextreme freuten sich dort: »Gut, daß ihr denen mal so richtig auf die Fresse gebt, macht ruhig weiter«.
Das Blockupy-Presseteam faßte zusammen: Die Demonstranten hätten trotzdem kämpferisch protestiert und sich nicht spalten lassen, mehrere tausend seien aus Solidarität bis in die späte Nacht auf der Straße geblieben. Erst um 22.30 Uhr hatten die Veranstalter die Proteste mit einer Kundgebung gegen Polizeiwillkür und -gewalt beendet. Laut Ermittlungsausschuß waren insgesamt 2000 Personen im Rahmen der Aktionstage von Polizeimaßnahmen betroffen, 200 wurden durch Reizgas, Knüppel und Faustschläge verletzt.
Die Bilder prügelnder Polizisten in Istanbul und in Frankfurt gleichen sich – und sie gleichen den Knüppelorgien vergangener Monate in Madrid oder Athen. Die propagandistische Rechtfertigung der Gewalt gegen die Demonstranten übernahmen bisher die großen Massenmedien, wenn sie von »jugendlichen Randalierern« berichteten – und zum Beispiel im Fall Spaniens die Verhaftung streikender Gewerkschafter sowie die Einschränkung des Demonstrationsrechts und der Meinungsfreiheit totschwiegen. Am Wochenende zeigte man sich im Fernsehen empört über die exzessive Gewalt in der Türkei – und zugleich betont sachlich-distanziert in der Berichterstattung aus Frankfurt. Natürlich waren es vermummte Teilnehmer, die den Polizeieinsatz provoziert hatten – davon, daß die Sicherheitskräfte sich offensichtlich auf direkte Weisung aus Wiesbaden über die richterliche Erlaubnis der Demonstration hinweggesetzt haben, war wenig zu hören.
Doch immer mehr Menschen wird bewußt: Wenn es gegen die Kräfte geht, die den europäischen Kapitalismus tatsächlich beherrschen, endet die Demokratie. Die Friedensnobelpreisträgerin EU versteckt sich hinter ihren Uniformierten, um den sonst so oft beschworenen »Souverän« in die Schranken zu weisen.
Natürlich gibt es von Ort zu Ort eigene Gründe, auf die Straße zu gehen. Doch wie es in Istanbul längst nicht mehr um ein paar Bäume geht, die einem Einkaufszentrum weichen sollen, geht es auch anderswo längst um Grundsätzlicheres. Wo es keinen Unterschied mehr macht, ob eine Merkel oder ein Steinbrück in Berlin und in der EU das Kommando hat und Sozialabbau verordnet, werden herkömmliche Befriedungsstrategien brüchig.
Noch ist zu erwarten, daß demnächst wieder Ruhe einkehrt. Doch in den Glaspalästen von Frankfurt, in den Bürokratenbunkern von Brüssel und in den europäischen Hauptstädten ist man sich nicht mehr sicher, ob dies beim nächsten oder übernächsten Mal auch noch so sein wird. Das ist ein Grund für den Knüppelbefehl.Und das ist ein Grund für die Diskussionen um Bundeswehreinsätze im Inneren, Bundestrojaner, Ausbau der Kameraüberwachung öffentlicher Plätze usw. Sie wissen, was ihnen blühen könnte.
In der Türkei sind die Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende eskaliert. Inoffiziellen Angaben zufolge wurden fast 1000 Menschen verletzt und mindestens zwei getötet, als die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Hunderttausende Demonstranten vorging, die in Istanbul, Ankara und anderen Städten des Landes auf die Straße gingen. Trotzdem versammelten sich auch am Sonntag Tausende auf dem Taksim-Platz im Zentrum von Istanbul. Die dortigen Proteste gegen die Zerstörung eines Parks waren zum Auslöser der Proteste geworden.
Gegen das brutale Vorgehen der Polizei protestierten am Samstag und Sonntag auch mehrere tausend Menschen in mehreren deutschen Städten, darunter in Berlin, Stuttgart, Hamburg, Köln und Mannheim.
In der deutschen Bankenmetropole Frankfurt am Main hat die Polizei am Samstag mehr als 1000 Demonstranten für Stunden eingekesselt und damit die Hauptkundgebung der »Blockupy«-Aktionstage verhindert. Rund 200 Protestierende wurden verletzt (siehe: Fotostrecke). Das »Blockupy«-Bündnis will sich dadurch nicht unterkriegen lassen: »Daß unsere Proteste gegen die Kürzungspolitik hierzulande ebenso wie in anderen europäischen Ländern durch brutale Knüppeleinsätze der Polizei verhindert werden sollen, zeigt, daß wir einen Nerv treffen«, erklärte ATTAC-Aktivist Eberhard Heise am Sonntag. »Die autoritäre Krisenpolitik soll gegen jeden Widerstand durchgesetzt werden, koste es, was wolle – und sei es das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit«.
Tausende Menschen haben am Samstag in Spanien und Portugal gegen die Kürzungspolitik demonstriert. In Madrid zogen sie zur Vertretung der EU-Kommission, die sie für den Niedergang ihres Landes verantwortlich machen.In Lissabon (Foto) gingen ebenfalls Tausende auf die Straße. Für den 27. Juni ruft der größte portugiesische Gewerkschaftsbund CGTP zum Generalstreik auf.
Als ich Samstagmorgen in den Zug nach Frankfurt zur Blockupy-Demo stieg, ging ich davon aus, an einer ruhigen Latschdemo teilzunehmen. Doch ich hatte die Rechnung ohne die hessische Polizei-Einsatzleitungsbehörde gemacht. Denn in Hessen stehen bald Landtagswahlen an – und die CDU punktet gerne mit dem Thema „Innere Sicherheit“. Da heißt es Härte zeigen! Und so wurde die Polizei als Wahlkampfinstrument der hessischen CDU instrumentalisiert und zeigte kompromisslose, rechtsstaatswidrige Härte.
Demo nach 30 Minuten durch Polizei gespalten
Aber der Reihe nach! Kurz nach 12 Uhr setzte sich der Demozug in Bewegung. Etwa 20.000 Menschen waren gekommen, um gegen die Troika, die europäische Austeritätspolitik, Nahrungsmittelspekulation, steigende Mietpreise und den menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen zu demonstrieren. Doch nach nur wenigen hundert Metern war plötzlich Schluss. Die Demo stand. Denn sehr weit vorne war der „Antikapitalistische Block“ durch Einsatzhundertschaften der Polizei eingekesselt und die Demo geteilt worden. Der Vorwurf der Polizei: Vermummung einiger Demonstranten, Werfen von Böllern, passive Bewaffnung der Demonstranten (übrigens – die werteten Styroporpappen als Waffe! Jaaa – man weiß doch, dass jeden Tag unzählige Menschen durch Styropor sterben!).
Aber selbst wenn das so gestimmt hätte – es tat es nicht, jedenfalls nicht wie die Polizei es darstellt – war es absolut unverhältnismäßig wegen vielleicht drei Dutzend Demonstranten 1000 Menschen einzukesseln und die restlichen 19.000, die dahinter liefen, nicht weiterlaufen zu lassen auf der vom Verwaltungsgerichtshof Hessen (!) genehmigten Demonstrationsroute. Aber so ist das: Recht hat der, der es durchsetzen kann. Hier wurden die Vorgaben des Gerichts einfach von der Einsatzleitung der Polizei ignoriert. Bzw. ein eher harmloser Anlass (das Zünden von ein-drei Böllern – oh man was wäre an Silvester los, wenn die Polizei wegen drei Böllern Leute verhaften würde!) als Argument genommen, die gerichtliche Entscheidung vor Ort spontan außer Kraft zu setzen. Das Innenministerium wollte wohl Rache nehmen für die Niederlage vor dem Verwaltungsgericht.
Polizei wollte den Kessel und die Eskalation
Aber nun zu dem, wie es wirklich war: Die Polizei hat diesen Kessel gewollt. Sie hat ihm durch das entsprechende zusammenziehen der Einsatzkräfte schon früh vorbereitet. Und auf den Anlass gewartet, zuzuschlagen. Irgendeinen Anlass findet man bei nahezu jeder etwas größeren Demo. Es gibt immer ein paar, die sich vermummen (über die massive Vermummung der Polizei redet indes keiner) oder mal einen Böller zünden. Aber normalerweise ist dies kein Grund, eine ganze Demo zu sprengen. Dafür ist das Grundrecht des Art. 8 Grundgesetz viel zu konstituierend für eine Demokratie. Eine Demokratie lebt davon, dass Versammlungen zur Artikulation der politischen Meinungskundgabe möglich sind. Ohne Versammlungsfreiheit auch keine Demokratie. So einfach ist das. Denn wo keine kollektive, öffentliche Meinungsbildung- und kundgabe möglich ist, befindet man sich in einem diktatorischen System. Das wusste offensichtlich die Polizei in Hessen nicht (vielleicht schicken wir dem Innenminister einige Ausgaben des Grundgesetzes zu?).
Jedenfalls ging es der Polizei wohl darum, Verbindungen der Demonstranten zur M31-Demonstration am 31.Mai 2012 herzustellen und entsprechende Personen zu finden. Die vermutete man im „Antikapitalistischen Block“. Deshalb der Kessel – um an die Personalien zu kommen!
Polizei ohne Interesse an Kompromiss
Die eingekesselten Demonstranten machten einige Zugeständnisse an die Polizei. Sie wollten auf die Regenschirme (Achtung: Waffe) und Seitentransparente verzichten. Die Polizei bestand aber darauf, die Personalien aller Leute im Kessel, also auch die der Nicht-Vermummten, „Unbewaffneten“ (bewaffnet war ja niemand) usw. aufzunehmen. Die Polizei war mithin zu keiner Verhandlungslösung bereit, sie war kompromisslos. Diverse Versuche verschiedener Abgeordneter und der Anmelder, eine kooperative Lösung zu finden, wurden von der Polizei abgelehnt.
Am Ende wurde dann geräumt. Gewaltsam wurden Demonstranten aus dem Kessel geführt. Es gab einige Verletzte, vor allem auch durch die massiven Pfeffersprayeinsätze der Polizei, die es während der gesamten Zeit immer wieder hab. Diese fanden vor allem auch gegen die nicht-eingekesselten Demonstranten an der Rückseite des Kessels statt, die solidarisch mit den Gekesselten an Ort und Stelle blieben. Die Polizei wollte diese Demonstranten weg haben, um in Ruhe im Kessel abräumen zu können. Da machten die Demonstranten der Polizei einen Strich durch die Rechnung. Und die Mitarbeiter des Frankfurter Schauspielhauses (da war der Kessel), versorgten die Eingekesselten mit Wasser und Essen und zeigten so ganz praktische Solidarität. Journalisten wurden an der Arbeit gehindert und auch da gab es wohl Verletzte. Sanitäter wurden nicht zu Verletzten gelassen. Ich habe selbst eine entsprechende Situation erlebt, wo eine Einsatzhundertschaft aus NRW es ablehnte, einen Sanitäter durchzulassen. Erst nach massivem Druck und Diskussion durfte er mit erheblicher zeitlicher Verzögerung durch.
Bundestagspräsident Lammerts Unterschrift eine Fälschung
Abgeordnetenrechte interessierten die Polizei (natürlich) auch nicht. Wieso auch – offenbar herrschte rechtsfreier Raum in Frankfurt. So wurde mir zweimal durch zwei verschiedene Polizisten erklärt, dass mein Abgeordnetenausweis eine Fälschung und ich kein Abgeordneter sei. Auch der Hinweis auf die Unterschrift des Bundestagspräsidenten unter dem Ausweis brachte nicht zu recht weiter. Ich muss zugeben – so was habe ich das erste mal erlebt!
Die Krönung war allerdings, als eine Einsatzhundertschaft – wieder aus NRW –darauf bestand, meinen Rucksack durchsuchen zu wollen. Mein Verweis auf meine Abgeordnetentätigkeit und der damit verbundenen Rechtswidrigkeit einer Durchsuchung führte dazu, dass mir gesagt wurde, ich müsse jetzt eine Weile warten, bis ich weiter darf und das es merkwürdig sei, dass ich nicht freiwillig bereit bin, meine Sachen durchsuchen zu lassen. Nun, letztlich wurde ich nicht durchsucht. Eine andere Situation, diesmal eine Einsatzhundertschaft aus Sachsen (die vorher ordentlich Pfefferspray eingesetzt hat, mein Hals kratzt immer noch). Ich wollte den Einsatzleiter sprechen. Die Arroganz die mir daraufhin entgegenschlug und man nur noch als verbale Gewalt bezeichnen kann („Seien sie mal ruhig“, „es reicht jetzt“), war das Eine. Die andere Sache, dass man nicht mal den Einsatzleiter angefunkt hat.
Demokratieverständnis wie die türkische Polizei
Mein Resümee: Ein schwarzer Tag für Demokratie! Der Rechtsstaat wurde in Frankfurt begraben. Ich hatte das Gefühl, die Einsatzleiter wollten den Kollegen in Istanbul nacheifern in Sachen Gewalt, Überheblichkeit und Menschenfeindlichkeit. Sie zeigten zumindest ein ähnliches Demokratieverständnis. Man wollte die Eskalation. Die Demonstranten sind angesichts der massiven Provokation der Polizei dennoch friedlich geblieben.
Es gab auf der Straße einen interessanten Spruch in Richtung Polizei: „Marionetten fürs Kapital“. Und ja – die Polizei ist in Frankfurt nicht rechtsstaatsgemäß vorgegangen, sondern hat die Interesse der Konzerne und Banken umgesetzt. Sie hat sich zur Marionette gemacht. Jeder Polizist, der irgendwann mal auf das Grundgesetz vereidigt wurde, sollte sich fragen, was er oder sie da eigentlich macht.
Niema Movassat, MdB DIE LINKE., 01.06.2013
Frankfurt am Main, 6.30 Uhr. Vor der Europäischen Zentralbank halten Demonstranten Schilder hoch: »EZB – echt ätzend«. Um 10.30 Uhr gibt das kapitalismuskritische Blockupy-Bündnis am Freitag dann die Erfolgsmeldung heraus: Trotz strömenden Regens haben etwa 3000 Aktivistinnen und Aktivisten die Blockade der Europäischen Zentralbank (EZB) über vier Stunden gehalten. In der Tat ist das Bankenviertel am Freitag vormittag seit den frühen Morgenstunden gespenstisch menschenleer. Wie 2012 schon hatte zu dieser Aktion die Polizei selbst am meisten beigetragen. Einsatzkräfte, die sich teilweise mit Hunden, Helmen und Wasserwerfern rund um die EZB mit Absperrgittern eingeschlossen hatten, waren somit – wie von den Kapitalismusgegnern zuvor angekündigt – kreativ in die Proteste der Bewegung gegen die Verarmung der Bevölkerung und die Geschäftspolitik der Banken eingebunden.
Menschentrauben von Demonstranten drumherum hatten deren Anstrengungen im Grunde bloß noch verstärkt. Stadt im Ausnahmezustand: Selbst am Hauptbahnhof waren Ausgänge aus der U-Bahn-Station versperrt. Frankfurter Bürger müssen lange Umwege in Kauf nehmen oder nach Ausweiskontrollen umständlich durch Polizei-Absperrgitter klettern. Pressevertreter werden auf gleichem Wege mal durchgelassen, mal nicht und demzufolge mitunter in ihrer Arbeit behindert – je nachdem wie nervös die Polizisten gerade sind. An der Kaiserstraße, wo lautstark an den Absperrgittern geruckelt wird, ist letzteres beispielsweise der Fall. Dort setzen Polizeikräfte Pfefferspray gegen Demonstranten ein.
Eine Sprecherin der EZB teilte indes mit: Operative Geschäfte seien weitergelaufen – Details will sie junge Welt »aus Sicherheitsgründen« nicht verraten. Geheimniskrämerisch hatte sich auch ein Polizeisprecher auf die Nachfrage geäußert, warum fünf Busse aus Berlin am Donnerstag abend auf der Autobahn bis zu sechs Stunden festgehalten worden waren: »Auf Hinweisen und Erfahrungen beruhende Gefahrenabwehr«, hieß es. Dies obwohl der Hessische Verwaltungsgerichtshof im Vorfeld geurteilt hatte: Bloße Vermutungen seien nicht zulässig. Als »Beschneidung der freien Meinungsäußerung« kritisierte das Blockupy-Bündnis, daß ein Bus mit einer Gruppe des Berliner Refugee Camps auf dem Weg nach Frankfurt zur Umkehr gezwungen wurde. Blockupy-Sprecherin Ani Dießelmann: »Der Umgang deutscher Behörden mit Geflüchteten ist ein Skandal.«
Bei der Demo gegen den Abschiebe-Flughafen Frankfurt setzte die Polizei ihre harte Linie fort: Sie verweigerte bis Redaktionsschluß, sich an das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshof zu halten, und zumindest 200 Leute in den Flughafen zum Demonstrieren vorzulassen. Dies sei eine unmittelbare Folge der Agenda-Politik von SPD und Grünen, die die CDU/FDP-Bundesregierung fortgesetzt habe, erklärte der Fraktionsvorsitzende der Linken im hessischen Landtag, Ulrich Wilken. Behinderungen der Demonstration durch die schwarz-grüne Stadtregierung sowie das Abfangen von Bussen durch die Polizei habe den berechtigten Protest nicht unterbinden können. Attac-Sprecher Roland Süß ergänzt: Der Schritt zum zivilen Ungehorsam sei notwendig gewesen; Blockupy werde am Samstag mit einer lauten und bunten Demonstration fortgesetzt.
Quelle: www.jungewelt.de vom 01.06.13