»Einwanderung nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit zu betrachten, ist zynisch und menschenfeindlich. Die Autoren der Studie haben sich vor den Karren der deutschen Wirtschaft spannen lassen, die mittels Fachkräfteeinwanderung Ausbildungskosten sparen und die Beschäftigten weiter spalten will.« Dagdelen weiter: »Immer wieder wird der ›Umbau‹ des Sozialstaates mit der Anpassung an die veränderten demographischen Bedingungen gerechtfertigt. In der Realität sinkende Renten, längere Wochen- und Lebensarbeitszeiten und die Pflicht zur privaten Vorsorge für Krankheit und Alter sind die Folge. Doch nicht die Alterung der Gesellschaft und damit der Rückgang der arbeitsfähigen Bevölkerung sind das Problem. Sie sind durch Produktivitätssteigerungen leicht zu bewältigen. Das eigentliche Problem, von dem die Studie der Bertelsmann-Stiftung abzulenken versucht, ist die Verteilungsungerechtigkeit sowohl in Deutschland als auch im weltweiten Maßstab. Was tatsächlich fehlt, sind eine soziale Umverteilung von oben nach unten und gleiche soziale und politische Rechte für alle hier lebenden und einwandernden Menschen.«
Am gleichen Tage, zur gleichen Stunde versammelten sich in Berlin im Lustgarten, in Rostock am Universitätsplatz, in Schwerin am Alten Garten, in Cottbus vor der Oberkirche, in Magdeburg auf dem Domplatz, in Leipzig auf dem Karl-Marx-Platz, in Dresden auf dem Theaterplatz und an zentraler Stelle in sieben weiteren Bezirksstädten der DDR Menschen, um gegen die sie Regierenden zu protestieren. Es handelte sich nicht um eine der heutzutage gern beschriebenen Demonstrationen vom Herbst 1989, die inzwischen – als Präludium zur deutschen Einheit eingeordnet – ihren Weg in die bundesdeutschen Schulbücher gefunden haben.
Das Datum dieser Kundgebungen war vielmehr der 5. April 1990. Diejenigen, gegen die sich im September und Oktober die Proteste der Demonstrierenden gerichtet hatten, waren längst abgetreten. Nach den Wahlen vom 18. März stand die Bildung einer vom Ost-CDU-Vorsitzenden Lothar de Maizière geführten Koalitionsregierung unter Ausschluss der SED-Nachfolgepartei PDS unmittelbar bevor. Die Proteste sollten sich laut dem Aufruf der Gewerkschafter »gegen die Empfehlung der Bundesbank und führender BRD-Politiker« richten, »die DDR-Mark im Verhältnis zwei zu eins umzutauschen«. Diese Empfehlung, hieß es in dem Aufruf des FDGB, des Dachverbands der Einzelgewerkschaften in der DDR, vom 4. April, »sei nicht nur Wahlbetrug, sondern ein unzumutbares Spiel mit den Erwartungen und Ängsten vieler Menschen.« Dem Aufruf des FDGB schlossen sich innerhalb von 24 Stunden mehr als 20 Organisationen und Parteien an. Die DDR-Bürger erschienen in Massen.
Am Abend des 5. April demonstrierten im Berliner Lustgarten und auf dem Marx-Engels-Platz über 100.000 Menschen gegen die Umtauschpläne, was einer Halbierung der Einkommen und der Vermögen im Falle der von der Bonner Regierung propagierten Währungsunion zwischen beiden Staaten gleichgekommen wäre. Die Tageszeitung Neues Deutschland veröffentlichte ein Foto von einer großen Menschenmenge, die sich um 17 Uhr zwischen Altem Museum, Dom, Palast der Republik, Staatsratsgebäude und Spreeufer versammelt hatte. Die Kundgebungsteilnehmer trugen handgefertigte Plakate. »2:1 ist Wahlbetrug!« war darauf zu lesen. Oder auch »Kohl, wie wär’s mit einer Halbierung Deines Gehalts«. Die Schauspielerin Käthe Reichel vom Berliner Ensemble schilderte den Demonstranten die Konsequenzen der bekanntgewordenen Umtauschpläne: »Wir haben jetzt die einmalige Chance, zum Hinterhof und Armenhaus der BRD zu werden.«
Eine solche Lösung der Währungsunion, das wurde auch von den Demonstranten auf den Plätzen und Straßen in den 14 Bezirksstädten verkündet, komme nicht in Frage. Man wusste sehr wohl, worum es nach dem Ausgang der Wahlen vom 18. März ging: Die Ostdeutschen kämpften gegenüber der westdeutschen Führung um ihre finanzielle Situation beim Start in die sich demnächst erweiternde Bundesrepublik. Auch in den Bezirksstädten war die protestierende Menge dementsprechend groß: Die Teilnehmerzahl wurde in Dresden auf 70.000 und in Leipzig auf 50.000 geschätzt. Weitere 10.000 gingen in Cottbus, Rostock, Halle, Magdeburg und Gera auf die Straße.
Auch in diesen Städten trugen die Demonstranten Transparente mit Forderungen wie »Ein Neubeginn mit Wahlbetrug? Mit uns nicht!« und der Losung »Ohne 1:1 werden wir nicht eins«. Der Protestzug in Leipzig nahm bewusst jenen Weg durchs Stadtzentrum, den im Herbst 1989 die Montagsdemonstrationen gewählt hatten. In Halle protestierten 20.000 Gewerkschafter mit dem Ruf: »Wir sind keine halben Deutschen!«
Da diese Massendemonstrationen, denen bereits einige kleinere vorausgegangen waren und in den nächsten Tagen noch weitere folgen sollten, so gar nicht in die offizielle deutsche Geschichtsschreibung über die von Bundeskanzler Helmut Kohl genial herbeigeführte »Wiedervereinigung« passten, werden sie kaum erwähnt, ja regelrecht verschwiegen. Deshalb sind einige erläuternde Bemerkungen zum Anlass der Kundgebungen angebracht.
Am 29. März hatte der Zentralbankrat der Bundesbank – in Anwesenheit von Bundesfinanzminister Theodor Waigel – für die Währungsunion, der nach dem Sieg der »Allianz für Deutschland« bei den Wahlen vom 18. März in der DDR kein politisches Hindernis mehr im Wege stand, und für einen Umstellungskurs der DDR- in D-Mark von zwei zu eins plädiert. In einem Schreiben des Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl vom Folgetag an den Kanzler begründete er diese Entscheidung so: »Eine Umstellung zwei zu eins ist vor allem im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der DDR notwendig. Ein Umstellungssatz eins zu eins würde die Wirtschaft der DDR dem internationalen Wettbewerb mit einem Kostenniveau und einer Verschuldung aussetzen, dem die meisten Betriebe nach unserer Auffassung nicht gewachsen wären. Die Folge wäre möglicherweise ein dramatischer Anstieg der Arbeitslosigkeit in der DDR mit allen Konsequenzen.« Auch finanzpolitisch ließe sich, so Pöhl, ein Umtauschsatz eins zu eins nicht verantworten.
Der Bundesbankpräsident war sich in dieser Hinsicht einig mit dem prominenten Banker und Sprecher des Vorstandes der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, der auf die Frage, welche Meinung er zu den Auseinandersetzungen um den »richtigen« Umtauschsatz habe, in einem Interview und bezogen auf die notwendige Umstellung der Schuldverhältnisse der Betriebe erklärte: »Wenn Sie alle Schuldverhältnisse eins zu eins umstellen, dann schadet man der DDR-Wirtschaft, dann gibt es bald keine Arbeitsplätze mehr. Selbst ein Kurs zwei zu eins ist beinahe schon abenteuerlich.«
Bereits am 30. März war die Empfehlung des Zentralbankrats für den Zwei-zu-eins-Umtauschsatz durch eine Indiskretion bekanntgeworden. Wie der Generalsekretär der Ost-CDU, Martin Kirchner, berichtete, gingen nur Stunden, nachdem der Beschluss durchsickerte, in der CDU-Parteizentrale in Berlin »zahlreiche Anrufe besorgter Bürger ein, in denen von Wahlbetrug die Rede war, da viele DDR-Bürger die CDU in der Hoffnung auf eine schnelle Wirtschafts- und Währungsunion und einen Umtauschkurs eins zu eins gewählt hätten«. Während die Führung der DDR-CDU sich ungeachtet dessen nach außen bedeckt hielt, meldeten sich Vertreter von anderen Parteien, Bürgerbewegungen und Gewerkschaften zu Wort und kritisierten den Beschluss. Sie forderten die unverzügliche Rücknahme der Empfehlung. Der Generalsekretär der Deutschen Sozialunion (DSU), Peter-Michael Diestel, bestand öffentlich auf einem Kurs von eins zu eins für den Währungsumtausch. Diese Forderung, begründete er für seine Partei, die Bestandteil der in den Wahlen siegreichen »Allianz für Deutschland« war, habe die DSU schon im Wahlkampf aufgestellt und sei dabei von Kohl und Waigel unterstützt worden.
Der Bundeskanzler war über die heftige Resonanz auf den Beschluss des Zentralbankrats verwundert und beunruhigt zugleich. Er hatte zwar bei seinen Auftritten auf Kundgebungen der Ost-CDU in Leipzig und anderen Städten eine Vielzahl blumiger Versprechungen gegeben, damit die Wähler für die »Allianz für Deutschland« stimmten, sich aber zu keiner konkreten Umtauschrate bekannt. Das half ihm allerdings wenig, nachdem die vom Zentralrat der Bundesbank vorgeschlagene konkrete Umtauschrelation publik geworden war, und er sah sich zum Teil heftigen Vorwürfen ausgesetzt. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, warnte den Kanzler in einem Schreiben vom 27. März davor, dem vom Zentralbankrat verlangten Umtauschsatz zuzustimmen und argumentierte dabei – sicherlich darüber informiert, dass die Bruttolohn- und Gehaltssumme in Ostdeutschland nur ein gutes Drittel des vergleichbaren westdeutschen Niveaus betrug – folgendermaßen: »Die Menschen in der DDR müssten krasse Einbußen gegenüber ihrem bisherigen, ohnehin niedrigeren Lebensstandard hinnehmen; dies gilt insbesondere für Rentner, Familien und Arbeitslose. Millionen Menschen würden unter die Sozialhilfeschwelle geraten. (…) Aller Voraussicht nach würde das mit der Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion verfolgte Ziel gefährdet, die Menschen zu bewegen, in ihrer Heimat zu bleiben, denn das Wohlstandsgefälle würde nicht kleiner werden, sondern wachsen.« Blüms Fazit: Kohl möge nicht auf die Bundesbank hören. »Ich bin der Überzeugung, dass ein Umstellsatz, der unter der Relation eins zu eins liegt, zu tiefgreifenden sozialen Verwerfungen sowie zu destabilisierenden politischen Folgewirkungen führen könnte.«
Auch de Maizière, der von der Volkskammer am 12. April zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt wurde, ließ gegenüber Kohl keinen Zweifel daran, dass es »unser Ziel ist, die Gehälter und Löhne im Verhältnis eins zu eins in einer Währungsunion zu behandeln. Von diesem Ziel haben wir keinerlei Abstriche im Moment zu machen.« Damit lag der Vorsitzende der DDR-CDU ganz auf der Linie seines Generalsekretärs Kirchner, der den Zwei-zu-eins-Beschluss als »unzumutbar und unaushaltbar« bezeichnet hatte.
Der Bundeskanzler war vor eine schwerwiegende Entscheidung gestellt, da die Argumente beider Seiten gut fundiert waren. Blüms dringliche Bitte an seinen Kanzler, sich für einen Umtauschsatz von eins zu eins einzusetzen, war sozial und politisch begründet, während der Zentralbankrat unter Pöhl seinen Standpunkt mit ebenso guten Argumenten, vor allem ökonomischen, untermauert hatte. Gab es keine für alle akzeptierbaren finanzpolitischen Kriterien, die beim Finden der »richtigen« Umtauschrelation hätten helfen können?
Ein Blick in die Währungsgeschichte seit Kriegsende zeigte: Es war so gut wie unmöglich, einen ökonomisch gerechtfertigten Umtauschkurs zu bestimmen. Zwischen der Mark der DDR, die 1948 in der sowjetischen Besatzungszone als Deutsche Mark (DM Ost) die Reichsmark abgelöst hatte und zeitweilig als Mark der Deutschen Notenbank (MDN) zirkulierte, und der DM West gab es keinen offiziellen Wechselkurs. Die bilateralen Abkommen von 1949 und 1951, einst geschlossen zur Gewährleistung des Interzonen- bzw. des sogenannten innerdeutschen Handels, legten ein Verrechnungsverhältnis von eins zu eins zwischen beiden Währungen zugrunde. Dieses sagte über den Wert der DDR-Mark aber genau so wenig aus wie die Relation vier zu eins bzw. fünf zu eins des im Westberlin der fünfziger Jahre üblichen Schwarzmarktkurses oder das Umtauschverhältnis DM zu Mark der DDR in privaten Wechselstuben, das zwischen November 1989 und Juni 1990 zwischen drei zu eins und elf zu eins schwankte. Die von der DDR in den siebziger und achtziger Jahren intern benutzten Devisenertragskennziffern und Richtungskoeffizienten, die dazu gedient hatten, beim Warenexport West den Valutawert der Mark der DDR zu berechnen, erreichten 1989 den Wert 4,4 zu eins. Um ein echtes Kursverhältnis handelte es jedoch auch in diesem Fall nicht, da sich die Berechnung nur auf »handelbare Waren« bezog, Dienstleistungen, die einen günstigeren Devisenertragswert aufwiesen, aber ausklammerte.
Eher als durch den Außenwert wurde der Wert der DDR-Mark sicherlich durch die Binnenkaufkraft des Geldes bestimmt. Diese war in den siebziger und achtziger Jahren und bis zuletzt nach den sehr gründlichen Berechnungen des in Berlin-Zehlendorf beheimateten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung etwa mit der der DM gleich bzw. lag leicht über der der D-Mark. Sich an historischen Wechselkursen zu orientieren wäre für die mit Einführung der DM in der bevorstehenden Umtauschaktion demnach wenig sinnvoll gewesen.
Helmut Kohl, seitens führender Vertreter des BRD-Establishments in der Wechselkursfrage mit ganz unterschiedlichen Vorschlägen konfrontiert, entschied sich zunächst – wie er es bei anderen kniffligen politischen Problemen bereits erprobt hatte – für das Abwarten und Aussitzen. Der Bundeskanzler lavierte und verständigte sich erst einmal telefonisch mit dem designierten DDR-Ministerpräsidenten de Mazière dahingehend, »dass noch keine Entscheidung über den Umtauschkurs getroffen worden sei«. Die Modalitäten sollten in den folgenden Monaten in Verhandlungen der beiden deutschen Regierungen festgelegt werden.
Doch für derartige Vertröstungen erwiesen sich die entrüsteten Ostdeutschen nicht zugänglich. Nach den Protesten vom 5. April musste das auch Kohl begreifen. Drei Tage später erklärte er in einem Interview mit der Illustrierten Bunte, er halte an seinem Ziel fest, die Währungsunion bis zum Sommer zu verwirklichen. Zugleich versicherte er, Bonn werde sich für »die normalen Sparer um einen Umtauschkurs bemühen, der eins zu eins beträgt«. Bundeswirtschaftsminister Helmut Haussmann (FDP) schränkte die Versicherungen des Kanzlers aber noch am selben Tage mit der Bemerkung ein, lediglich »ein wichtiger« Teil der ostdeutschen Guthaben werde eins zu eins getauscht werden können. Am 19. April 1990 unternahm Haussmann mit dem neuernannten Wirtschaftsminister der Regierung de Maizière, Gerhard Pohl (CDU), in einer gemeinsamen Erklärung vor der Presse in Berlin einen Versuch, die Eins-zu-eins-Regelung erneut in Frage zustellen. Tags zuvor hatte die FDGB-Vorsitzende Helga Mausch in einemSpiegel-Interview weitere Streiks, ja einen Generalstreik in der DDR nicht ausgeschlossen, wenn die Regierung den mit dem Zwei-zu-eins-Umtausch geplanten »Ausverkauf der DDR« nicht verhindere.
Nun gab Kohl seine Verzögerungstaktik auf und bekannte sich in aller Eile zur Eins-zu-eins-Regelung, noch bevor die neue DDR-Regierung überhaupt Zeit gefunden hatte, sich abschließend zu konstituieren.
Neben Demonstrationen und Streikdrohungen hatte Kohl eine andere Tatsache zum Umdenken bzw. – wie seine Wirtschaftsberater meinten – zum Einknicken gebracht. In den ersten beiden Aprildekaden war es zu einem erneuten Ansteigen der Übersiedlerzahlen aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen, die, seitdem sich das Kabinett in Bonn Anfang Februar für eine baldige Währungsunion ausgesprochen hatte, zurückgegangen waren. Der Bundeskanzler beschloss angesichts dessen, den seit Jahresanfang von Demonstranten auf Plakaten mitgeführten Spruch »Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr« wieder sehr ernst zu nehmen. Im Herbst 1990 standen Bundestagswahlen an. Und Kohl war sich dessen bewusst, dass der erneute Zustrom von »Zonenflüchtlingen«, der schon im Januar, vor der Verkündung der Wirtschafts- und Währungsunion, bei der westdeutschen Bevölkerung für Unmut gesorgt hatte, erneut seinem politischen Hauptgegner, dem SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, Stimmen von Unzufriedenen zuführen könnte. Waren Politiker der konkurrierenden Oppositionspartei doch sowieso schon eifrig bemüht, den bekanntgewordenen Umtauschsatz gegen den Kanzler auszunutzen und die Vernünftigkeit der Politik der CDU-geführten Bonner Regierung in Frage zu stellen. Nach den im Wahlkampf geäußerten Versprechungen stehe die Bundesregierung nun »in der Pflicht, die Substanz ihrer Ankündigungen umzusetzen«, schrieb Schleswig-Hosteins Ministerpräsident Björn Engholm (SPD) in der Welt. Der SPD-Wirtschaftsexperte Wolfgang Roth bezeichnete im Bonner General-Anzeiger einen Kurs von eins zu eins bei Löhnen und Renten als selbstverständlich, weil es sonst in der DDR zu Massenarmut käme. Der Regierende Bürgermeister von Berlin (West), Walter Momper, charakterisierte einen Umtauschkurs von zwei zu eins und damit halbierte Ostgehälter als »ökonomischen Schwachsinn«.
Die Machtfrage war damit, so sah es Kohl, in der Bundesrepublik wiederum gestellt. Da es um die Fortsetzung seiner Kanzlerschaft in den ersten Jahren des neuen Jahrzehnts ging, zeigte er sich in der Umtauschfrage risikobereit. Seine nunmehr endgültige Entscheidung für den Eins-zu-eins-Umtausch bei Löhnen und Gehältern sowie für Spargelder bis zu einer bestimmten Höhe widersprach zwar eindeutig dem ökonomischen Sachverstand. Das Argument der »Rechner«, Bundesbankpräsident und Bundesfinanzminister, dass »das Risiko eines Wirtschaftszusammenbruchs der DDR mit jedem Schritt näher zur Parität steigen musste«, wurde im Interesse der politischen Befriedung der erneut militant gewordenen DDR-Bürger hintangestellt. Die – von Bundesbankpräsident Pöhl in seinem Brief an Kohl exakt beschriebenen – unvermeidlichen negativen ökonomischen Folgen dieser Entscheidung ignorierte der Bundeskanzler im Interesse der Sicherung und zukünftigen Ausdehnung seiner Macht (auf ganz Deutschland).
Der rein politisch motivierten Entscheidung Kohls beugten sich letztlich auch die Vertreter der ökonomischen Sichtweise. Am 20. April akzeptierte die Bundesbank den Umtauschkurs eins zu eins »voll und ganz«. Am 26. April 1990 bekannten sich beide deutsche Regierungen offiziell zur Währungsparität. Den endgültigen Umtauschkurs bestimmten die Regierungen Kohl und de Maiziere dann am 18. Mai 1990. Zustande kam ein Kompromiss: Artikel 7 des Staatsvertrags zur Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion legte eine Umtauschrelation von zwei zu eins für Guthaben und Schulden aller juristischen Personen, d. h. von Betrieben, Banken und sonstigen Institutionen fest. Der Staatsvertrag bestimmte weiter, dass Löhne, Gehälter, Stipendien, Renten, Mieten und Pachten im Verhältnis eins zu eins umzutauschen seien, alle persönlichen Vermögen dagegen zwei zu eins. Ausgenommen davon war lediglich jener Teil der Bankeinlagen, der in bestimmtem Umfang, altersgemäß gestaffelt, eins zu eins umgestellt werden sollte. Sparer zwischen 14 und 59 Jahren durften ihre Guthaben bis zu einer Höhe von 4.000 DDR-Mark eins zu eins umtauschen, Kinder unter 14 Jahren bis 2.000 Mark und über 59jährige bis zu 6.000 Mark zum gleichen Satz. Über diese Beträge hinaus war nur ein Umtausch von einer Mark der DDR für 50 Pfennig West möglich. Diese Bestimmungen liefen insgesamt für die Guthaben der Bevölkerung auf eine Relation 1,48 zu eins hinaus.
Damit folgten die beiden deutschen Regierung in nicht geringem Grade den Forderungen der Demonstranten von Anfang April. Die Folge: Die Proteste ebbten ab und hörten auf. Die DDR-Bürger sahen erwartungsvoll dem 1. Juli 1990 entgegen, dem Tag, an dem die DM zu ihnen kommen sollte. Zu einer Wiederbelebung der Herbstrevolution von 1989 im Frühjahr 1990 kam es deshalb nicht.
Immerhin: Gegen die in der heutigen Geschichtsschreibung weit verbreitete Auffassung, dass die Masse der DDR-Bürger 1990 jede sie betreffende Entscheidung, die ihnen aus dem Westen vorgegeben wurde, akzeptierte, zeugen die Demonstrationen auf den Straßen und Plätzen der ostdeutschen Städte davon, dass »das Volk« in der DDR häufiger als gedacht in der Lage war, den seitens der Bonner Regierung mit Macht vorangetriebenen Vereinigungsprozess, bei dem es eigentlich um den Anschluss der DDR an die BRD ging, zu beeinflussen. Aufgabe einer redlichen Geschichtsschreibung ist es, dafür zu sorgen, dass diese Momente nicht der Vergessenheit anheimfallen.
Jörg Roesler analysierte zuletzt auf diesen Seiten am 11.3.2015 das Jointventure-Gesetz der Regierung von Hans Modrow. Seine Bücher und Broschüren sind im jW-Shop erhältlich.
Quelle: www.jungewelt.de vom 30.03.15
Das dürfte einiges mit dem bisherigen Vorgehen der Polizei zu tun zu haben. Die beschränkt seit Wochen das Demonstrationsrecht von Antifaschisten und richtet es den Rechten sehr kuschelig ein. Von Seiten der Neonazis ist der Polizei deshalb auch schon mehrfach ein Lob ausgesprochen worden.
Sie haben der Polizei jüngst vorgeworfen, sie ignoriere rechte Gewalt aus dem Umfeld der Dügida-Demonstranten. Über welche Erkenntnisse verfügen Sie?
Die Dügida-Aufmärsche finden bereits seit mehreren Wochen regelmäßig statt. Seitdem ist es vermehrt zu gewalttätigen Angriffen von Neofaschisten auf vermeintliche Linke gekommen. Und bei den Aufmärschen der Rechten wurden Journalisten, Nachbarn und Gegendemonstranten bedroht, ohne dass Beamte eingegriffen hätten. Es kam zu Anschlägen, beispielsweise auf das Wahlkreisbüro der Linke-Bundestagsabgeordneten Sahra Wagenknecht. Erst in der vergangenen Woche erreichte uns außerdem die Information, dass 15 vermummte Neonazis und Hooligans mit Baseballschlägern eine Gruppe von Menschen attackiert haben sollen, weil sie sie für Antifaschisten hielten.
Zu all dem äußert sich die Polizei nicht, geschweige denn dass sie Täter dingfest macht oder Aufmärsche wegen Gewalttätigkeiten abbricht, was sie problemlos könnte.
Wie erklären Sie sich das Verhalten der Beamten?
Wir sehen die Verantwortung für diese Zustände beim Düsseldorfer Polizeipräsidenten Norbert Wesseler (SPD). Bis vor einem Jahr hatte er dasselbe Amt in Dortmund inne. Dort konnte sich in den letzten Jahren – unter seiner Ägide und der seiner Vorgänger – eine äußerst militante Neonaziszene etablieren. Die Dortmunder Polizei beließ es bei markigen Allgemeinplätzen, ging jedoch nicht entschlossen gegen die Rechten vor. Nachdem Wesseler schon in Dortmund auf voller Linie versagt hat, setzt er seine Politik des Wegduckens nun offenbar in Düsseldorf fort.
Sollte das so beibehalten werden, drohen uns die bundesweit bekannten und berühmt-berüchtigten »Dortmunder Verhältnisse« – zumal die Polizei zugleich sehr aggressiv gegen Nazigegner vorgeht. Mehrfach haben die Beamten in letzter Zeit Schlagstöcke und Pfefferspray gegen Antifaschisten eingesetzt. Einem Mann wurde Ende Januar sogar ein Arm von den Beamten gebrochen, und erst am vergangenen Montag wurden die Opfer eines Neonaziangriffs festgenommen und ohne den von ihnen geforderten Kontakt zu ihrer Anwältin über Stunden festgehalten. Es gab wegen solcher Vorfälle in den letzten Wochen zahlreiche Strafanzeigen gegen Polizeibeamte, schauen wir mal, was daraus wird.
Optimistisch sind Sie diesbezüglich nicht?
Nein. Erfahrungen mit der Justiz haben wir in der Vergangenheit zur Genüge sammeln dürfen. Nur wenn der öffentliche Druck stark genug ist, gehen die Gerichte gegen Polizisten vor.
Wie reagiert die sogenannte Zivilgesellschaft Düsseldorfs auf diese Entwicklung?
Ein großer Teil schweigt dazu. Der DGB hat sich jedoch mittlerweile unserem Bündnis »Düsseldorf stellt sich quer!« angeschlossen. Gemeinsam werden wir uns auch in den nächsten Wochen Neonazis und Rassisten in den Weg stellen. Diejenigen, die sich zurückgezogen haben, sollten sich immer bewusst machen: Wenn Rechte ungestört durch Proteste durch die Stadt marschieren könnten, würden sie das als Machtgewinn und als Sieg wahrnehmen. Parolen wie »Wir springen nicht über jedes Stöckchen, das die Nazis uns hinhalten« können schnell zum Bumerang werden.
Die extrem rechte Splitterpartei »Pro NRW« hat bereits eine Kundgebung in Düsseldorf am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, angemeldet. Ich kann nur an die Verantwortung von Organisationen der sogenannten Zivilgesellschaft, aber auch an manche Gewerkschaftsgliederungen appellieren, das nicht zu ignorieren. Es darf nicht bei Sonntagsreden bleiben! Wir müssen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Häufung von rechter Gewalt und Neonaziaufmärschen schnellstmöglich ein Ende findet, auch wenn dazu persönliches Engagement nötig ist.
Heute (30. März): Antifaschistischer Protest, 18.30 Uhr, Düsseldorf Hauptbahnhof
Quelle: www.jungewelt.de vom 30.03.15
Seit die Liberalen bei der Bundestagswahl 2013 aus dem Parlament geflogen sind, geht es mit ihrer Partei ökonomisch bergab. Daran vermögen auch kleine Zwischenhochs wie der Wiedereinzug in die Hamburgische Bürgerschaft oder günstige Prognosen wie die jüngste von Emnid (fünf Prozent im Sonntagstrend) vorläufig nichts zu ändern. Kurzum: Der FDP fehlen nicht nur die Gelder aus der Wahlkampfkostenerstattung, auch die Spenden seitens großindustrieller und anderer Gönner, die sich noch 2012 auf sechs Millionen Euro beliefen, bleiben aus.
In Ermangelung neuer Ideen ist es vor allem Symbolpolitik, die die FDP retten soll. Pfiffige PR-Kampagnen, um das Wahlvolk mit den neuen Parteifarben bekanntzumachen (und die alten Gesichter wieder ins Gedächtnis zu rufen), sind allerdings nicht umsonst zu haben. So verfiel die Führung auf die Idee, einen »Solidarfonds« für die angeschlagene Partei ins Leben zu rufen. Derzeit diskutierten die Liberalen über eine befristete Sonderumlage, um die politische Arbeit und die Wahlkämpfe in den Ländern intensivieren zu können, bestätigte Bundesschatzmeister Hermann Otto Solms am Samstag. Presseberichten zufolge soll jedes der rund 57 000 FDP-Mitglieder in den Jahren 2015, 2016 und 2017 neben dem normalen Mitgliedsbeitrag jährlich 25 Euro extra zahlen. Eine Entscheidung darüber soll an der Basis, beim Parteitag Mitte Mai in Berlin fallen. Ob dieser Appell an den Gemeinsinn beim neoliberalen Klientel verfängt, wird sich zeigen. Möglicherweise erkennen die vereinigten Zahnärzte, Apotheker und Steuerberater, dass Solidarität eine Waffe ist. Auch im Kampf gegen sozialen Fortschritt. (shu)
Quelle: www.jungewelt.de vom 30.03.15
Die Dortmunder Polizei ist am Sonnabend wieder einmal ihrem Ruf gerecht geworden, Neofaschisten gewähren zu lassen, und hat rund 500 von ihnen einen Aufmarsch durch die Straßen der Ruhrgebietsmetropole ermöglicht. Unter ihnen befanden sich auch rund 100 Anhänger des rassistischen Netzwerks »Hooligans gegen Salafisten« (»Hogesa«), die in der Vergangenheit versucht hatten, sich als vermeintlich unpolitisch zu präsentieren. Im Anschluss an ihren Umzug veranstalteten die Rechten unter freiem Himmel ein Konzert mit verschiedenen Neonazibands in der Nähe des Dortmunder Westfalenstadions. Auf Twitter reagierte der Fußballklub BVB umgehend: »Unser Stadion ist keine Kulisse für ein Nazikonzert! Wir machen das Licht aus. Borussia verbindet – gemeinsam gegen Rassismus! #nonazisdo«.
Insgesamt mehrere tausend Beamte aus verschiedenen Bundesländern, Wasserwerfer und Räumfahrzeuge hatte hingegen die Polizei aufgeboten, um die neuerliche Provokation der extremen Rechten abzusichern. Um den Neofaschisten einen störungsfreien Ablauf ihres Aufmarsches zu ermöglichen, hatten die Beamten außerdem darauf verzichtet, im Vorfeld der Proteste die Demonstrationsroute der Nazis zu veröffentlichen. Derlei Geheimniskrämerei war auf harsche Kritik seitens antifaschistischer Organisationen gestoßen.
Am Sonnabend selbst wurden sämtliche Versuche von insgesamt etwa 2.000 Nazigegnern, in unmittelbarer Nähe des Aufmarsches der Neofaschisten zu protestieren, unterbunden. Einzig einigen wenigen »bürgerlich-gemäßigten« Demonstranten wurde dies – wie bereits bei ähnlich gelagerten Aufmärschen in den Vorjahren – von den eingesetzten Beamten ermöglicht. Die bisher von der Polizei praktizierte Trennung in tolerierbare und vermeintlich gefährliche Gegendemonstranten wurde somit auch am Sonnabend erneut durchgesetzt. Antifaschisten, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Aufmarsch der Nazis effektiv zu blockieren, wurden an verschiedenen Orten im Dortmunder Innenstadtbereich eingekesselt. Mehrfach kam es dabei auch zum Einsatz von Schlagstöcken durch die Polizei.
Vor allem die Wahl des Aufmarschdatums hatte bei den Nazigegnern für Entsetzen gesorgt: Am Sonnabend jährte sich die Ermordung des Punks Thomas Schulz, genannt »Schmuddel«. Dieser war vor genau zehn Jahren vom mehrfach verurteilten Gewalt- und neofaschistischen Überzeugungstäter Sven Kahlin am Dortmunder U-Bahnhof Kampstraße erstochen worden (jW berichtete).
An einer Gedenkkundgebung für Schulz am damaligen Tatort hatten am Sonnabend über 300 Menschen teilgenommen. Aufgerufen dazu hatte unter anderem das Bündnis »Dortmund gegen Rechts«. Dessen Sprecherin Ula Richter erinnerte in ihrem Redebeitrag an den Umgang der Nazis mit dem Mord. Die hatten die Tat unter anderem mit den Worten kommentiert: »Die Machtfrage wurde gestellt und für uns befriedigend beantwortet. Dortmund ist unsere Stadt.« Erneut sprach sich Richter für ein Verbot der Partei Die Rechte aus, die den Aufmarsch organisiert hatte und zumindest in Nordrhein-Westfalen als Sammelbecken für Anhänger und Funktionäre der 2012 vom dortigen Innenminister Ralf Jäger (SPD) verbotenen militanten »Kameradschaften« gilt.
Während die Dortmunder Polizei am Ende ihres Einsatzes vor allem Straftaten »gewaltbereiter Linksautonomer« ausgemacht haben wollte und einige Nazigegner in Gewahrsam nahm, konnten die Nazis bei ihrer Abreise offenbar erneut ungestört Jagd auf Antifaschisten und Punks machen. So kam esjW-Informationen zufolge in mehreren Regionalzügen zu Angriffen von abreisenden Faschisten auf vermeintliche Gegner.
Kritik am Vorgehen der Beamten kam hingegen vom Antinazibündnis »BlockDO«: »Zunächst hielt die Polizei die Demoroute der Nazis geheim, um keine Gegenproteste zuzulassen, dann sperrte sie ein ganzes Stadtviertel ab, um die Nazis ungestört laufen zu lassen. Und dass die Polizei davon ausgeht, das Westfalenstadion sei eine erträgliche oder auch nur irgendwie geeignete Kulisse für ein Rechtsrockkonzert, ist einfach nur unglaublich«, kritisierte dessen Sprecher Lennart Zumholte.
Weitere Großaufmärsche von NPD und »Die Rechte« sind unterdessen für den Arbeiterkampftag am 1. Mai in Mönchengladbach und Essen geplant.
Die Stadt Dortmund mag vieles sein, eine »Stadt des Widerstands« gegen die extreme Rechte, wie es Vertreter aus etablierter Politik und sogenannter Zivilgesellschaft behaupten, ist sie sicherlich nicht. Bereits in den 1980er Jahren trieb Siegfried Borchardt, besser bekannt unter seinem vielsagenden Spitznamen »SS-Siggi«, als Anführer seiner militanten Hooligangruppe »Borussenfront« sein Unwesen in der Ruhrgebietsmetropole. Später war er dann in der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) aktiv, die 1995 von den Behörden verboten wurde.
Da Kommunalpolitiker, Polizei- und Justizbehörden das Naziproblem trotzdem weiterhin kontinuierlich verharmlosten, konnten die Rechten sich ungestört als »Kameradschaft Dortmund« organisieren. Später folgte die Umbenennung in »Nationaler Widerstand Dortmund«. Nachdem dieser 2012 von den Behörden verboten worden war, folgte eine weitere Reorganisierung der Faschisten – diesmal unter dem Schutz des Parteiengesetzes und als Partei Die Rechte. Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr konnte sie erstmals einen Sitz im Dortmunder Stadtrat und weitere in mehreren Bezirksvertretungen ergattern.
Die Liste der von Neofaschisten aus und in Dortmund begangenen Morde und Gewalttaten ist für eine westdeutsche Großstadt durchaus bemerkenswert: Im Jahr 2000 erschoss der überzeugte Dortmunder Nazi Michael Berger erst drei Polizeibeamte und richtete sich anschließend selbst. 2005 folgte die Ermordung des Punks Thomas Schulz durch den Faschisten Sven Kahlin am Dortmunder U-Bahnhof Kampstraße. Im April 2006 wurde Mehmet Kubasik vor seinem Dortmunder Kiosk mutmaßlich von den Terroristen des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) erschossen.
Doch selbst diese fünf von Faschisten begangenen Morde führten bei den Verantwortlichen keineswegs zu einem Umdenken. Erst vor wenigen Wochen wurde beispielsweise von der örtlichen Polizei zugelassen, dass unter ihren Augen Anhänger der Partei »Die Rechte« die Opfer der mörderischen Nazigewalt verhöhnten und verächtlich machten.
Dass es den Neonazis überhaupt gelingen konnte, derart gefestigte Strukturen aufzubauen und eine überdurchschnittlich große Anhängerschaft vor allem unter jungen Leuten zu rekrutieren, dürfte außerdem nicht wenig mit dem desolaten Zustand antifaschistischer Zusammenschlüsse und Organisationen in der Ruhrmetropole zu tun haben. (bern)
Quelle: www.jungewelt.de vom 30.03.15
Im goldenen Buch der Bundesrepublik mit der Aufschrift »Bewältigung deutscher Vergangenheit« ist auf einer bereits viel gefüllten Seite weitergeschrieben worden. Sie gehört zum Kapitel »Hindenburg«. Autoren sind die Abgeordneten der christlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses, genauer die Mitglieder eines seiner Ausschüsse. Die haben – Ehre wem Ehre gebührt – beschlossen, dem kaiserlichen Feldmarschall und späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg die Ehrenbürgerschaft der Bundeshauptstadt zu belassen, gegen das Ansinnen der Opposition, sie ihm zu entziehen. Nicht nur dieser Minderheit ist es mehr als ein bloßes Ärgernis, dass sich der Name auf dem besonderen Papier so lange erhalten hat. Das gelang ihm nicht nur dort. Die Bundesrepublik ist von Straßen, die seinen Namen tragen, geradezu übersät. In Baden-Württemberg hat sie jemand gezählt und kam auf weit über hundert. Auch im deutschen Südwesten sind mancherorts Bestrebungen im Gange, sich von diesem Erbe zu trennen. Sie gehen von Ort zu Ort unterschiedlich aus (siehe jW vom 31. Dezember 2014).
Die darüber am Ende entscheiden, könnten sich eine einfache Frage vorlegen. Wem galten eigentlich diese Jahrzehnte zurückliegenden Taufen? Was war das Verdienst, das mit ihnen auf diese Weise ins Gedächtnis von Stadtbewohnern gebracht und dort gehalten werden sollte? Sie haben den zum Kriegshelden erhobenen »Sieger von Tannenberg« geehrt, jener 1914 in Ostpreußen ausgetragenen Schlacht, zu der es im Ergebnis einer fehlgeschlagenen Rechnung des deutschen Generalstabes kam. Der hatte sich den Aufmarsch der russischen Truppen – Deutschland erklärte dem Zarenreich am 1. August 1914 den Krieg – so langsam vorgestellt, dass er glaubte, Frankreich schon erledigen und seine Truppenmacht danach nach Osten werfen zu können, bevor die gegnerischen Armeen aktionsfähig sein würden. Als die sich aber an den deutschen Zeitplan nicht hielten und über die Grenze in die nordöstliche Provinz des Reiches eindrangen, sah sich die deutsche Führung vor einem doppelten Dilemma, einem militärischen, aber auch einem propagandistischen, denn es war den dummgläubigen Deutschen doch erklärt worden, sie müssten in den Krieg ziehen, die Gefahr aus dem Osten abzuwehren. Hindenburg, vor Kriegsbeginn schon in Rente geschickt, wurde remobilisiert und als Reparaturschlosser an die Ostfront geschickt. Das Missgeschick ließ sich in Ordnung bringen. Die Eingedrungenen wurden geschlagen, gefangengenommen oder zurück über die Grenze gedrängt. Von daher rührte der Ruhm des Mannes, hinter dem die Anteile anderer wie üblich verblassten. Ist uns, das wäre die erste Frage, die sich die Abgeordneten der Berliner Regierungskoalition hätten stellen können, der Feldherr eines Eroberungskrieges, durch den aus der Großmacht Deutschland eine Weltmacht werden sollte, eine Ehrung noch wert?
Hätte sich die hauptstädtische Volksvertretermehrheit dann auf Hindenburgs weitere Spur in den Kriegsjahren gesetzt, wäre ihr geradezu ins Auge gefallen, dass der Mann, der zum Chef der Obersten Heeresleitung aufstieg, ein Kriegsverlängerer war, der sich mit seinen Entscheidungen die Verantwortung für den Tod von Zehn- und Hunderttausenden Soldaten auflud. Noch 1918, als die Kräfte des Kaiserreiches und seiner Armee erkennbar erschöpft waren, befahl die Heeresführung eine Offensive in Frankreich, nicht um den Krieg noch zu gewinnen, sondern einzig für günstigere Waffenstillstandsbedingungen. Das »Unternehmen Michael« wurde ein Debakel. Bevor dann der Krieg das deutsche Reichsgebiet erreichte, verlangten Hindenburg und sein Klüngel, dass die Zivilisten an der Reichsspitze einen Weg zum Waffenstillstand und Frieden suchten und beschritten. Dieser Rolle Hindenburgs als Soldaten mordender Kriegsverlängerer hätte die zweite Überlegung der Parlamentarier gelten können.
Die dritte betrifft Hindenburg als den Verbreiter der Mär vom »im Felde unbesiegten Heer«, das vom Dolchstoß in den Rücken getroffen wurde, jener Lüge, die im Zentrum aller Lügen und Legenden über den Ersten Weltkrieg stand. Das suchte Hindenburg zusammen mit der nicht weniger verlogenen These von Deutschlands Kriegsunschuld glaubhaft zu machen – im engeren Kreis den Reichstagsabgeordneten, die beauftragt waren, sich mit der Kriegsgeschichte zu befassen, im weiteren den Lesern seiner Memoiren. Mit deren Abfassung ließ er sich keine Zeit. Sie lagen 1920, gedruckt unter dem Titel »Aus meinem Leben«, vor. Sie halfen zusammen mit Dutzenden von Erinnerungen, die kaiserliche Generale und Offiziere zum Verfasser hatten, Millionen Deutsche um Einsichten und Lehren betrügen, die sie aus dem Weltkrieg hätten gewinnen können.
Merkwürdig: Wenn von Hindenburgs Rolle in der deutschen Geschichte geredet oder geschrieben wird, sind die Teilnehmer meist sogleich bei seiner Unterschrift unter die Ernennungsurkunde für Adolf Hitler. Das Davor ist weithin vergessen oder nie wahrgenommen worden. Davon profitieren bis auf den heutigen Tag jene Deutschnationalen mit den verschieden farbigen Parteibüchern, die Hindenburg »behalten« wollen und zur Stärkung ihrer Position landauf landab sich als jene ausgeben, die differenziert in die deutsche Geschichte und auf deren Hauptakteure blicken, denen sie Gerechtigkeit widerfahren lassen. Scharfschauend haben sie entdeckt, dass der 1925 zum Reichspräsidenten, also zum Staatsoberhaupt der Republik Gewählte um dieses Staatswesen sich einige Jahre hindurch Verdienste erworben habe. Auf deren Aufzählung wird dann freilich wie jüngst auch in dem Berliner beratenden Gremium besser verzichtet. Vor allem seine Rolle als Stütze der Regierungspraxis, die nicht mehr mit den Beschlüssen von Parlamentsmehrheiten arbeitete, sondern mit sogenannten Notverordnungen, die von der Regierung ausgearbeitet wurden und nur noch den Segen des Präsidenten brauchten und erhielten. Hindenburg funktionierte als Stütze für jene Politik, welche die Lasten der großen Krise auf die Massen abwälzte und mit der Verarmung, dem Hunger und dem Wohnungselend eine Bedingung für den Aufstieg der Nazipartei zur wählerstärksten Partei im Reich schuf. Selbst noch für den Verfassungsbruch, der in der Berufung Hitlers zum Reichskanzler lag, werden mildernder Umstände präsentiert: Die Massen hätten den Mann eben gewollt, und dem hätte er Rechnung tragen müssen. Deren angebliche Mehrheit, das lässt sich am Wahlergebnis ablesen, machte in Wahrheit ein Drittel der Wählerschaft aus.
Die Durchmusterung zutage liegender Tatsachen aus Hindenburgs Biographie könnte hinreichen, ihm jedes Gedenken in öffentlichen Räumen und jeden Platz auf einer Ehrenbürgerliste zu entziehen. Dass sich Demokraten dazu nicht verstehen, lässt fragen, wie es in ihren Köpfen aussieht. Denn, um bei den verteidigten Straßen- und Platznamen zu bleiben: Deren Erhaltung bietet nur einen Vorteil. Sie kann bei der geographischen Orientierung helfen. Wer auf sie trifft, weiß sicher, dass er sich auf dem Territorium der Bundesrepublik in ihren ursprünglichen Grenzen befindet und die Ländergrenzen von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern in Richtung Osten noch nicht überschritten hat.
Linke-Antrag: Hindenburg aus der Ehrenbürgerliste Berlins streichen
Im Berliner Abgeordnetenhaus haben am vergangenen Donnerstag Grüne und Piraten den Antrag der Fraktion Die Linke unterstützt, den früheren Reichspräsidenten Paul von Beneckendorff und von Hindenburg – so sein voller Name – aus der Ehrenbürgerliste der Hauptstadt zu streichen. SPD und CDU stimmten dem nicht zu. Der Antrag im Wortlaut:
Das Abgeordnetenhaus wolle beschließen: Der Senat wird aufgefordert, Paul von Beneckendorff und von Hindenburg aus der Ehrenbürgerliste Berlins zu streichen. (…)
Begründung: Am 20. April 1933 wurde die Liste der Berliner Ehrenbürger um die Positionen 58 (Paul von Beneckendorff und von Hindenburg) und 59 (Adolf Hitler) erweitert. Der seinerzeitige Reichspräsident und der wenige Wochen zuvor von ihm ernannte Reichskanzler wurden in Würdigung »ihrer Verdienste um die nationale Wiedergeburt der Stadt Berlin« zu Ehrenbürgern der Reichshauptstadt. In der Sprache des »Dritten Reiches« war damit nichts anderes gemeint als die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur, für die Hindenburg ein entscheidender Akteur war. Er unterschrieb Verordnungen und Gesetze, die den Reichstag entmachteten, die Grundrechte aufhoben und Hitlers Herrschaft legitimierten.
Adolf Hitler wurde die Berliner Ehrenbürgerschaft am 16.12.1948 aberkannt. Paul von Beneckendorff und von Hindenburg steht immer noch auf der Ehrenbürgerliste. 100 Jahre nach Ausbruch des mörderischen Ersten Weltkrieges ist es überfällig, diesen Militaristen und Wegbereiter Hitlers aus der Galerie derer zu entfernen, auf die Berlin stolz sein kann. Dortmund, Köln, Halle/S., Leipzig, München und Stuttgart haben ihm inzwischen die Ehrenbürgerschaft entzogen. Berlin sollte dem Beispiel dieser Städte folgen.
Quelle: www.jungewelt.de vom 17.03.15
Unglaubwürdig und dreist wirken im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München viele Zeugen, die um die Jahrtausendwende der Neonaziszene angehört haben. Prozessbeteiligte und Beobachter glaubten nach knapp zwei Jahren kaum, dass in diesem Punkt noch eine Steigerung möglich wäre. Mit Marcel Degner, ehemals Chef der »Blood & Honour«-Sektion Thüringen, wurde am Mittwoch aber doch eine neue Qualität erreicht: Das Gericht hatte beim Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz eine Aussagegenehmigung für den 39jährigen erwirkt, der nach Erkenntnissen der NSU-Untersuchungsausschüsse zur fraglichen Zeit »Vertrauensmann« des Dienstes war. Ein Beamter des Thüringer Verfassungsschutzes hatte dies an einem früheren Prozesstag eher widerwillig eingeräumt. Degner bestritt aber nun vor Gericht vehement, jemals V-Mann gewesen zu sein.
Auf die Frage, ab wann er Kontakt zu der Behörde gehabt habe, antwortete der Zeuge: »Gar nicht.« Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hakte nach: »Haben Sie nicht für das Landesamt Thüringen als Quelle gearbeitet?« Antwort: »Nein.« Im Jahr 2001 habe er das erstmals in der Presse gelesen, »und seitdem wird mir das ständig vorgeworfen«, sagte Degner. Tatsächlich habe er einmal angebliche Mitarbeiter des Landeskriminalamtes weggeschickt, die ihn angesprochen hätten.
Auf einem Neonazikonzert am 13. November 1999 in Schorba hatte sich Degner ausgerechnet mit dem späteren V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes, Thomas Starke, über das untergetauchte Trio aus Jena unterhalten, das zwölf Jahre später als »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) bekannt wurde: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die damals wegen unerlaubten Sprengstoffbesitzes gesucht wurden und im Jahr darauf zum ersten Mal getötet haben sollen.
Starke war seinerzeit Funktionär der »Blood & Honour«-Sektion Sachsen, deren harter Kern das NSU-Trio in Chemnitz versteckt hielt. Degner alias »Quelle 2100« soll sich am Rande des Konzerts bei Starke erkundigt haben, ob die Untergetauchten Geld bräuchten – obwohl er sie angeblich nicht persönlich kannte, wie er vor Gericht behauptete. Starke soll ihm damals mitteilt haben, das Trio würden jetzt »jobben«. Nach heutigen Erkenntnissen hatten sie da bereits Banken überfallen. »Quelle 2100« soll 1999 dem Verfassungsschutz über die Begegnung mit Starke und die finanzielle Lage der drei Gesuchten berichtet haben. Degner will es nicht gewesen sein. Bei seiner polizeilichen Vernehmung nach Bekanntwerden des NSU hatte der Zeuge noch erklärt, er wolle zur »möglichen Zusammenarbeit« mit dem Landesamt für Verfassungsschutz keine Angaben machen, da er sich durch Medienberichte belastet fühle. Am Mittwoch wollte er seine mutmaßlichen V-Mann-Führer auch auf Fotos nicht erkennen. Angeblich hatte er auch nie vor, den Untergetauchten Geld zukommen zu lassen, konnte aber nicht erklären, warum er dann diese Frage gestellt hatte, wenn er kein V-Mann war.
»Ich möchte hier die Wahrheit hören«, stellte Richter Götzl klar. Bundesanwalt Herbert Diemer kündigte an, die Anklage gehe jetzt dem Verdacht der Falschaussage nach – sollte tatsächlich ein Verfahren eingeleitet werden, wäre dies ein Novum im NSU-Prozess. Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann beantragte am Mittwoch, die Vernehmung Degners zu unterbrechen und zunächst noch einmal den Verfassungsschutzbeamten als Zeugen zu befragen, der ihn als »Quelle 2100« identifiziert hatte.
Am Donnerstag sagte vor Gericht ein früherer Schulfreund des mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos aus. Das Argument, sein eigener behinderter Bruder hätte wohl im Hitlerfaschismus als »unwertes Leben« gegolten, habe Mundlos damals einfach »weggewischt«, sagte der 41jährige Zeuge. Schon früh habe Mundlos, der Sohn eines Informatikprofessors, selbst Computerspiele geschrieben, in denen es darum gegangen sei, »Juden abzuschießen«.
Quelle: www.jungewelt.de vom 13.03.15
Die Hintergründe des Todes von Florian Heilig beschäftigen in dieser Woche erneut den NSU-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages. Die Parlamentarier sollen das Agieren der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) im Ländle und die Umstände des Todes der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter aufklären, die 2007 in Heilbronn erschossen wurde. Sie gilt als zehntes und letztes Opfer des NSU. Wenige Stunden, bevor ihn Beamte des Landeskriminalamtes dazu befragen konnten, soll sich der Neonaziaussteiger Heilig am 16. September 2013 in seinem Auto selbst verbrannt haben. So jedenfalls die offizielle Darstellung.
Im Untersuchungsausschuss kommen erste Details der »Aufklärungsarbeit« ans Licht. Im Rahmen des Todesermittlungsverfahrens wollten die Polizeibeamten bei der Staatsanwaltschaft das beantragen und durchführen, was in solchen Fällen zum Standardprogramm gehört: die Durchsuchung des Zimmers von Florian Heilig im Lehrlingswohnheim, die Sicherstellung der Kommunikationsdaten (Handy- und Ortungsdaten) und die Sicherstellung und Auswertung des Laptops, der sich im Kofferraum befand. Was eigentlich kaum der Rede wert sein sollte, stieß in diesem Fall auf »unerklärlichen« Widerstand. Obwohl die zahlreichen Spuren noch nicht ausgewertet worden waren, auch kein Brandgutachten vorlag, hat Staatsanwalt Dr. Stefan Biehl, Mitglied der politischen Abteilung 1 der Staatsanwaltschaft Stuttgart, noch am selben Tag angewiesen, den Fall als Suizid zu behandeln. Das hatte zur Folge, dass die von der Polizei erwünschten weiteren strafrechtlichen Ermittlungen abgelehnt, also unterbunden wurden.
Begründet hat Staatsanwalt Biehl diese Entscheidung zur Unterlassung vor dem Stuttgarter Untersuchungsausschuss am Montag damit, dass ihm konkrete Hinweise auf andere Straftaten, wie etwa Nötigung oder Bedrohung von Florian Heilig, gefehlt hätten. Dabei hatte es offensichtlich genügend »Hinweise« gegeben. Denn die Ermittlungen wurden sofort ans LKA abgegeben und dort lag alles in einer Hand: »Wir waren uns der Brisanz des Falls bewusst«, sagte einer der angehörten Polizisten dem Ausschuss. Es war also kein normaler Fall, sondern »Chefsache«: »Die Polizei setzte eine Ermittlungsgruppe ein, bei der Obduktion war der Staatsanwalt dabei – Dinge, die in normalen Todesermittlungsverfahren unüblich sind«, betonte der Erste Kriminalhauptkommissar Helmut Hagner.
Nennen wir nur drei Gründe dafür, die für den Fall von einem »normalen Todesermittlungsverfahren« abheben:
1. Wenn ein ehemaliger Neonazi Aussagen (gegen ehemalige Kameraden) macht und aus diesem Grunde im Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart ist, ist er gefährdet und muss mit Bedrohungen und Angriffen rechnen. Das weiß sogar ein Staatsanwalt. Dr. Biehl hatte zu diesem Zeitpunkt kein Motiv, das für ein »persönliches Drama« sprechen würde. Er wusste jedoch um die Gefährdung des nun toten Zeugen. Diese war nicht abstrakt, sondern sehr konkret.
2. Wenn man im und um den ausgebrannten Wagen herum keinen Autoschlüssel findet, dann darf sich auch ein Staatsanwalt fragen, wie ein Todeswilliger das Fahrzeug fahren und abstellen konnte. Da es alles, nur nicht selbstmordtypisch ist, die Auto- und Wohnungsschlüssel unauffindbar wegzuwerfen, bevor man sich umbringt, muss der Wahrscheinlichkeit nachgegangen werden, dass sich eine »zweite Person« in den Besitz der Schlüssel gebracht hat.
3. Wenn Zeugen, die tatsächlich befragt wurden, eine Person auf dem Fahrersitz, eine Person auf dem Beifahrersitz, eine Person vor dem Auto gesehen haben, dann ist nicht auszuschließen, dass es sich eben nicht um ein und dieselbe Person gehandelt hat. Genau das war und ist den Zeugenaussagen auch nicht zu entnehmen.
Jeder Staatsanwalt weiß, dass bereits einer der genannten Punkte allein Grund genug ist, der Möglichkeit eines Mordgeschehens nachzugehen. Dass Dr. Biehl weder aus persönlichem Eigensinn noch aus Willkür so handelte, sollte man ihm nachtragen: Er ist weisungsgebunden, also dem Justizministerium unterstellt. Dort wird er erfahren haben, warum er nichts finden durfte, das eine normale Ermittlung in alle Richtungen nach sich hätte ziehen müssen.
Staatsanwalt Biehl kann auch ganz anders, wenn man ihn lässt und es erwünscht ist: Gegen Antifaschisten kann er alles auffahren, was seine Kompetenzen und Möglichkeiten hergeben. Auch Hausdurchsuchungen bei Journalisten bereiten ihm keine Probleme – so war es etwa 2011, als er nach Beweismitteln gegen Linke suchte. Durch die Stuttgarter Zeitung auf die strafprozessual vollkommen unnötige Aktion angesprochen, erwiderte Biehl trocken: »Wenn Beweisverlust droht, muss man eben schnell handeln.«
Im Zuge einer Demonstration gegen das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21« am 20. September 2010 wurden u. a. Wasserwerfer eingesetzt. Es kam zu schweren Verletzungen, ein Demonstrant ist seitdem blind. Dieser brutale Polizeieinsatz ging als »Schwarzer Donnerstag« in die Geschichte der S-21-Bewegung ein. Staatsanwalt Biehl stand mit Rat und Tat den beschuldigten Beamten bei und riet ihnen, in Zukunft Reizgas einzusetzen: Denn das wäre »rechtmäßig gewesen« und hätte »weniger Verletzte« gefordert (siehe: »Die guten Tipps vom Staatsanwalt Biehl«, in: Kontext, Ausgabe 179 vom 3. September 2014).
Biehl hat all das nicht geschadet. Man kann vielmehr – mit Fug und Recht – sagen, dass er dafür belohnt wurde: Laut Südwest Presse wechselte er zur Bundesanwaltschaft.
Politischer Mordanschlag ist nicht gleich politischer Mordanschlag, zweifelhafte Ermittlungen sind nicht gleich zweifelhafte Ermittlungen: Das Europaparlament hat eine »unabhängige internationale Untersuchung« der Todesschüsse auf den früheren russischen Vizepremier Boris Nemzow in Moskau gefordert. Dazu könnten die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Europarat und die Vereinten Nationen beitragen, hieß es in einer Entschließung der Abgeordneten am Donnerstag. Weiter machten die Parlamentarier »systematische Verstöße« gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in Russland aus. Grundsätze für faire Gerichtsverfahren und die Unabhängigkeit der Justiz würden von der Staatsführung missachtet. Der 55jährige Nemzow war am 27. Februar auf einer Brücke im Zentrum der russischen Hauptstadt hinterrücks erschossen worden. Medien und Politiker in der EU machten umgehend den Kreml für den Mord an dem Kreml-Kritiker verantwortlich – so wie bei Terroranschlägen in der Vergangenheit grundsätzlich eine Beteiligung des russischen Geheimdienstes unterstellt wurde.
Die Verwicklung von deutschen Geheimdiensten in politisch motivierte Morde wird dagegen als »Verschwörungstheorie« abgetan. Die rechte Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) wird für eine Mordserie an Migranten in den Jahren 2000 bis 2006, mehrere Sprengstoffanschläge sowie den Polizistenmord von Heilbronn im Jahr 2007 verantwortlich gemacht. Auf Anweisung staatlicher Stellen wurden gezielt Akten vernichtet, die eine Verwicklung von Geheimdiensten in die Terrorserie belegen könnten. Ein früherer Landesinnenminister hält schützend seine Hand über einen früheren Verfassungsschutzmitarbeiter, der an einem der Tatorte zur Tatzeit zugegen war. Ein Staatsanwalt bringt binnen Stunden das Todesermittlungsverfahren im Fall eines im Auto verbrannten Neonaziaussteigers zum Ende und legt sich auf »Suizid« fest …
Mindestens zehn Menschen haben die NSU-Terroristen ermordet: Enver Şimşek (9. September 2000 in Nürnberg), Abdurrahim Özüdoğru (13. Juni 2001 in Nürnberg), Süleyman Taşköprü (27. Juni 2001 in Hamburg), Habil Kılıç (29. August 2001 in München), Mehmet Turgut (25. Februar 2004 in Rostock), İsmail Yaşar (9. Juni 2005 in Nürnberg), Theodoros Boulgarides (15. Juni 2005 in München), Mehmet Kubaşık (4. April 2006 in Dortmund) und Halit Yozgat (6. April 2006 in Kassel) sowie Michèle Kiesewetter (25. April 2007 in Heilbronn).
Die Abgeordneten des Europaparlaments sind in den vergangenen Jahren nicht einmal auf die Idee gekommen, in diesen Fällen eine »unabhängige internationale Untersuchung« zu fordern. Die Tatorte waren zu weit weg vom Kreml.
Quelle: www.jungewelt.de vom 13.03.15
In den vergangenen Tagen erhielten mindestens drei Bielefelder Busunternehmen Post der Kriminalinspektion Staatsschutz des Polizeipräsidiums Bielefeld. In dem Schreiben werden die Busunternehmen aufgefordert mitzuteilen, ob am 18.3. Fahrten nach Frankfurt am Main geplant werden und ggf. die persönlichen Daten der anmietenden Person, der Organisation, die Zahl der Fahrgäste, Zeitpunkte der Abreise und Ankunftszeit in Frankfurt preiszugeben. Begründet wird dieses Vorgehen damit, dass an diesem Tag bei den Blockupy-Protesten gewalttätige Ausschreitungen zu erwarten seien.
Wir weisen diese Kriminalisierung schon im Vorfeld der geplanten Blockupy-Proteste entschieden zurück. Das Blockupy-Bündnis hat sowohl im Vorfeld der Aktivitäten am 18.3.2015 in Frankfurt am Main als auch schon bei den zurückliegenden Aktionstagen 2012 und 2013 deutlich gemacht: Von uns Aktivistinnen und Aktivisten geht keine Eskalation aus.
Statt dessen hat die Frankfurter Polizeiführung im Jahr 2013 durch die Verhinderung der angemeldeten Großdemonstration von 10.000 Menschen nach schon 500 Metern bewiesen, was sie vom Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit hält: nicht viel! Das eskalierende Vorgehen der Polizei wurde damals selbst in der bürgerlichen Presse recht gut dokumentiert.
Wir sehen in diesem Vorgehen den Versuch, Ermittlungsdaten schon im Vorfeld einer Demonstration zu erheben und Busunternehmen einzuschüchtern. In unserem Fall hat das Unternehmen Mietrach das Angebot zur Beförderung bereits zurückgezogen. Allerdings gehen wir davon aus, dass der Horizont des Bielefelder Staatsschutzes nicht weit genug reicht, um eine solche Maßnahme eigenständig zu ersinnen. Vielmehr nehmen wir an, dass eine Art Amtshilfeersuchen aus Frankfurt dahinter steckt.
Wer Banken mit öffentlichen Mitteln rettet, muss es ertragen, dass diejenigen, die unter dem Diktat einer oktroyierten Austeritätspolitik leiden, protestieren und ihr Recht auf Meinungsäußerung auf europäischem Boden wahrnehmen. Wir erwarten in Frankfurt über 1.500 Mitstreiter aus anderen EU-Ländern.
Wer in der Krise anderen Sparen diktiert und mit 1,3 Milliarden Euro ein Symbol der kapitalistischen Ausbeutung in den Himmel baut, muss ertragen, dass dieses Symbol auch als solches verstanden wird und den Widerstand der antikapitalistischen Commune und anderer hervorrruft. Dennoch wollen wir auch klarstellen: Der Protest und der Widerstand werden am 18.3.2015 nach Frankfurt zurückkehren. Wir werden nach Frankfurt zurückkehren! Wir fahren am 18.03. um drei Uhr am Bielefelder Bahnhof los. Und Busfahrkarten gibt es unter kontakt@il-bi.de
Quelle: www.jungewelt.de vom 06.03.15
Quelle: www.jungewelt.de vom 06.03.15